Buenos Aires, Mumbai, Shanghai: Ein kunsthistorisches Projekt zeigt, wie global vernetzt die künstlerische Moderne war, und lädt ein zu virtuellen Stadtspaziergängen auf den Spuren emigrierter Künstlerinnen und Künstler.
„Die Wolken formten sich zu Heimathügeln / am Sommerabend, in dem fremden Land“, schrieb Max Herrmann-Neisse im Londoner Exil, wo er seit 1933 lebte. Wie der Berliner Dichter flüchteten Zehntausende in den 1930er- und 40er-Jahren vor dem Nationalsozialismus nach Großbritannien, darunter viele Kunstschaffende. „Infolge der Weltkriege und Diktaturen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben sich Künstlerinnen und Künstler über die ganze Welt verstreut“, sagt Burcu Dogramaci. In ihrer Forschung zeigt die Kunsthistorikerin, dass Flucht und die Orte des Exils die künstlerische Moderne stärker prägten als bislang angenommen.
In ihrem ERC-Projekt METROMOD untersucht sie, wie die Städte und die persönlichen Netzwerke, in denen sich die Exilanten bewegten, deren Schaffen beeinflussten. „Bislang wird meist national auf Herkunfts- und Ankunftsland geblickt. Diese nationale Vereinnahmung halte ich für schwierig. Denn das, was am meisten Identifikationspotenzial für Ankommende bietet, sind die direkten Nachbarschaften und die Städte“, sagt die Professorin vom Institut für Kunstgeschichte der LMU. Daher nimmt das Projekt, das vom Europäischen Forschungsrat (ERC) gefördert wird, eine stadtzentrierte Perspektive auf Flucht und Exil ein.
Die künstlerische Moderne war nicht nur auf die europäischen Metropolen – Wien, Berlin und Paris – konzentriert. Tatsächlich gibt es eine enorme Dezentrierung der künstlerischen Moderne und eine Gleichzeitigkeit der Entwicklung.
Burcu Dogramaci
London, New York, Istanbul, Buenos Aires, Mumbai (früher Bombay), Shanghai stehen im Mittelpunkt des Projekts. Schon die Auswahl der Städte zeigt, worauf es Burcu Dogramaci ankommt: „Die künstlerische Moderne war nicht nur auf die europäischen Metropolen – Wien, Berlin und Paris – konzentriert. Tatsächlich gibt es eine enorme Dezentrierung der künstlerischen Moderne und eine Gleichzeitigkeit der Entwicklung.“ Die Spuren zeigen sich auf vielen Kontinenten. So ließen sich viele emigrierte Künstlerinnen und Künstler in Buenos Aires nieder, Zehntausende Menschen flüchteten nach Shanghai, auch hier vernetzten sich Kunstschaffende. Und nicht nur in New York prägten aus Deutschland geflüchtete Fotografinnen und Fotografen die Bild-Ästhetik.
Spaziergänge durch Metropolen
Um diese globale Vernetzung und Dezentrierung veranschaulichen zu können, hat das interdisziplinäre Forschungsteam seine Ergebnisse in Datenbankstrukturen festgehalten, die es ermöglichen, urbane Zentren der Emigration, Kontakte und im Exil entstandene Werke zu visualisieren. Auf der Webseite metromod.net laden nun virtuelle Spaziergänge dazu ein, den Spuren emigrierter Künstlerinnen und Künstler in ihren Ankunftsstädten zu folgen. Ein weiterer Zugang über ein Archiv vernetzt Personen, Orte und Geschehnisse miteinander und macht Bezüge – auch zwischen den Städten – anschaulich. „Wir wollten unser Wissen visuell vermitteln und eine zeitgenössische Form dafür finden. Die Kartierung über Stadtpläne, bei denen Adressen anzuklicken sind, ist ein großer Vorteil, weil sich alles miteinander vernetzen lässt“, sagt Burcu Dogramaci.
Dieser kuratierte Gang durch die sechs Städte ist sowohl vor Ort als auch interaktiv am heimischen Computer möglich. „Wir verknüpfen Text- und Bild-Material und bebildern die historischen Themen auch mit zeitgenössischen Fotografien. Das macht deutlich, dass unser Blick darauf immer vom Stadterleben der Gegenwart geprägt ist“, sagt Burcu Dogramaci. Bei ihrer Suche nach den oft verdeckten Spuren der Emigration und Zuwanderung war es METROMOD wichtig zu zeigen, „dass Städte aus verschiedenen Zeitschichten bestehen, die oft nicht mehr sichtbar sind.“ Burcu Dogramaci betont die produktive Zusammenarbeit im Team bei der dahinter liegenden Recherche- und Archivarbeit und wie wichtig die Unterstützung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern vor Ort dafür ist.
Wie die sehnsüchtigen Zeilen des Dichters Max Herrmann-Neisse andeuten, der mit Heimweh-krankem Herzen durch den Hyde Park Londons spazierte (auch dies ist Thema im London-Walk), waren mit der erzwungenen Emigration für viele Künstlerinnen und Künstler auch Verlusterfahrungen verbunden. Die Netzwerke, die sie in der Fremde aufbauten, waren für viele schlicht überlebensnotwendig. So holt das Projekt auch Schicksale und Werke aus der Vergessenheit. Denn manchen war ihre Erfolg versprechende Karriere im Zuge ihrer Flucht abhandengekommen. Das zeigt zum Beispiel die Biographie von Jussuf Abbo. Der Bildhauer, den es auf der Flucht vor dem Nationalsozialismus nach London verschlagen hatte, besaß dort aufgrund seiner prekären Lebensbedingungen zeitweise nicht einmal das nötige Handwerkszeug, um künstlerisch zu arbeiten. Als er sein Studio verlor, zerstörte er viele seiner Werke.
Fluchtbewegungen sind keine singulären Phänomene. Gerade im 20. Jahrhundert gab es auch gegenläufige Fluchtbewegungen aus Europa in die Welt.
Burcu Dogramaci
Den Forscherinnen um Burcu Dogramaci ist es wichtig, ihr Wissen aus dem Projekt auch einer breiteren Öffentlichkeit leicht zugänglich zur Verfügung zu stellen. „Unser Wunsch ist, möglichst viele Menschen zu erreichen. Emigration und Flucht sind globale Themen“, betont Burcu Dogramaci. Das Projekt startete 2017, also nach den Erfahrungen der Fluchtbewegungen in den Jahren 2015/16. Viele syrische exilierte Kunstschaffende ließen sich seither in Berlin nieder. „Großstädte haben eine extreme Anziehungskraft auf Kunstschaffende“, sagt Dogramaci. „Zwischen heute und dem beginnenden 20. Jahrhundert ist eine große Parallelität zu ziehen. Wir lernen aus der Vergangenheit, wie sich Migrantinnen und Migranten in den Städten formiert haben. Und umgekehrt beobachten wir Phänomene in der Gegenwart, die sich historisieren lassen. Fluchtbewegungen sind keine singulären Phänomene. Gerade im 20. Jahrhundert gab es auch gegenläufige Fluchtbewegungen aus Europa in die Welt. Es wird oft vergessen, dass unsere Gegenwart auch eine Geschichte hat.“
Das Forschungsteam von METROMOD besteht aus Prof. Dr. Burcu Dogramaci (Leitung), Ekaterina Aygün, Mareike Hetschold, Dr. Rachel Lee, Dr. Laura Karp Lugo, Helene Roth, Mareike Schwarz.