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„Bedrohungen machen uns noch sozialer“

24.04.2020

In der Krise bringen uns nicht antisoziale Reaktionen in Bedrängnis, sondern unsere sozialen Regungen: Wir wollen wir zusammenrücken, dürfen aber nicht. Ein Team um die Professorin Ophelia Deroy weist auf das Dilemma des Social Distancing hin.

Menschen, die mit Abstand vor einer Metzgerei in der Schlange stehen

Abstand halten ist das Gebot der Stunde. | © imago images / Rüdiger Wölk

Die Corona-Krise stellt die Gesellschaften weltweit vor eine der größten Herausforderungen seit dem Zweiten Weltkrieg. Es ist eine ungewohnte globale Bedrohung. Um Risiken zu minimieren, sind wir angehalten, mit einem „Social distancing“ zu reagieren, wir sollen Abstand halten. In einem Debattenbeitrag im renommierten Fachmagazin Current Biology weist ein interdisziplinäres Team um Ophelia Deroy, Inhaberin des Lehrstuhls für Philosophy of Mind und Wissenschaftlerin am Münchner Zentrum für Neurowissenschaften, auf ein großes Dilemma hin, das diese Forderung aufmacht. „Bedrohungen machen uns noch sozialer“, sagt Deroy. „Damit umzugehen ist aktuell die größte Herausforderung für uns.“

Das Problem sei nämlich nicht, dass wir in der Krise egoistisch werden oder die Gefahr ignorieren, wie uns Bilder von leeren Supermarktregalen oder vollen Parks weismachen wollen. Die Aufnahmen seien irreführend, schreiben Deroy und ihre Kollegen, der renommierte Sozial-Neurowissenschaftler Chris Frith vom University College in London und Guillaume Dezecache, ein Sozialpsychologe der Universität Clermont Auvergne. Wenn sie einer Bedrohung ausgesetzt sind, suchten Menschen noch mehr als sonst den sozialen Kontakt, schreiben die Wissenschaftler. Aus den Neurowissenschaften, der Psychologie und der Evolutionsbiologie gebe es immer mehr Belege dafür, dass Bedrohungen uns sozial unterstützender und kooperativer machen. „Die Menschen haben Angst, sie suchen den Kontakt zu anderen, aber das erhöht in diesem Fall das Infektionsrisiko für uns alle“, sagt Dezecache. „Das ist das evolutionäre Missverhältnis, das wir beschreiben.“ Es stelle eine massive Herausforderung für die Menschen dar, wenn sie jetzt von der Politik aufgefordert werden, sich zu isolieren und Abstand zu halten. Paradoxerweise seien also nicht die antisozialen Reaktionen der Menschen auf Gefahren das Problem, sondern die sozialen. „Social distancing“ stehe im Widerspruch zu unseren natürlichen Reaktionen auf Bedrohung. Denn, so Deroy: „Soziale Kontakte sind kein ,Plus’, auf das wir verzichten können: Sie sind ein Zustand der Normalität.“

Was aber könnte aber einen Ausweg aus diesem Dilemma sein? Ausgerechnet das Internet, meint Deroy. In normalen Zeiten werden das Internet und soziale Medien oft als unsozial angesehen, aber in Zeiten wie diesen stelle es eine durchaus akzeptable und wirksame Alternative zur physischen Nähe dar – es ist soziale Interaktion ohne physische Nähe. Über soziale Medien können viele Menschen immerhin virtuell Nachbarn, Verwandte oder andere Gesprächspartner erreichen. „Unsere ursprünglichen Neigungen sind kooperativ, nicht egoistisch. Wir können aber die Forderung nach sozialer Distanzierung durch den Zugang zum Internet bewältigen“, sagt Chris Frith.

„Wie gut und wie lange die sozialen Bedürfnisse online befriedigt werden können, bleibt abzuwarten“, sagt Deroy. Schon jetzt wenden sich die Forscher aber mit zwei zentralen Empfehlungen an die Politik. Diese müsse berücksichtigen, dass die Aufforderung zu Social Distancing nicht nur politisch sehr ungewöhnlich sei, sondern dem menschlichen Wesen kognitiv und evolutionär nicht entsprechen. Der freie Zugang zum Internet, sagt die Münchner Philosophin, sei in dieser Zeit nicht nur ein Beitrag zur Meinungsfreiheit, sondern auch zur öffentlichen Gesundheit. „Diese Botschaft ist wichtig, zumal gerade die Verwundbarsten auch aufgrund von Armut, Alter und Krankheit oft weniger soziale Kontakte haben.“Current Biology, 2020

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