Vögel reagieren auf Umweltveränderungen flexibel, um den optimalen Zeitpunkt für die Aufzucht von Jungen zu nutzen. In warmen Jahren beginnen sie früh mit Nestbau und Brut, in kalten später. Die natürliche Selektion begünstigt die Fähigkeit von Tieren, ihr Verhalten derart anzupassen. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist, dass es innerhalb einer Population Variationen gibt, eine sogenannte phänotypische Plastizität. Der LMU-Biologe Niels Dingemanse hat mit seiner Doktorandin Robin Abbey-Lee nun am Beispiel von Kohlmeisen gezeigt, dass dies durch Charakterunterschiede aufrechterhalten wird. Über ihre Ergebnisse berichten die Wissenschaftler im Fachmagazin Nature Communications.
Nicht nur die Temperatur, auch die Gefahr, die durch Greifvögel für den Nachwuchs ausgeht, beeinflusst den optimalen Zeitpunkt der Brut. Der europäische Sperber (Accipiter nisus) beispielsweise jagt bevorzugt Sperlingsvögel wie die Kohlmeise (Parus major). Seine eigenen Küken zieht er dann auf, wenn der Nachwuchs seiner Beute flügge wird, das Nahrungsangebot also besonders groß ist. Kohlmeisenweibchen reagieren darauf, indem sie ihren Brutzeitpunkt verschieben, um Zeiten mit dem höchsten Jagddruck auszuweichen. Sobald sie Sperber rufen hören, erhöhen Kohlmeisen ihre Wachsamkeit, singen etwa weniger. „In früheren Studien haben wir allerdings entdeckt, dass nicht alle Vögel diese Reaktion in gleichem Ausmaß zeigen“, sagt Dingemanse. „Es gibt auch bei Kohlmeisen unterschiedliche „Persönlichkeiten“, einige sind explorativer, mutiger und aggressiver.“In ihrer neuen Studie haben die Wissenschaftler untersucht, ob diese Charakterunterschiede die Variation des Brutzeitpunkts beeinflussen. Dazu haben sie während der Brutzeit – von April bis Juni – insgesamt zwölf von Kohlmeisen besiedelte Areale mit Rufen von Vögeln beschallt: eine Hälfte mit Sperberrufen, die andere mit den Rufen von harmlosen Amseln.
Dabei zeigte sich, dass die Anpassung des Brutzeitpunkts auch vom Charakter der Kohlmeisen abhing. Mutige Vögel, die ihre Umgebung schnell erkunden, brüten normalerweise spät. Als Reaktion auf die vermeintliche Bedrohung durch Sperber begannen sie jedoch früher mit der Nachzucht. Ängstlichere Vögel dagegen zeigten ein umgekehrtes Verhalten. Der Fortpflanzungserfolg war dabei für beide gleich groß. Aus diesen Ergebnissen schließen die Wissenschaftler, dass die Variation der Persönlichkeit dazu beiträgt, die Flexibilität des Brutzeitpunkts in der Gesamtpopulation aufrecht zu erhalten. „Dadurch bleiben die Populationen auch gegenüber anthropogenen Veränderungen der Umwelt wie dem Klimawandel widerstandsfähiger“, sagt Dingemanse.Nature Communications 2019