„Die Kliniken sind bei Weitem nicht ausgelastet“
28.04.2020
LMU-Epidemiologe Ulrich Mansmann über die Ungenauigkeiten bei Corona-Statistiken, den Sinn der aktuellen Schutzmaßnahmen und darüber, wie aggressiv Covid-19 wirklich ist
28.04.2020
LMU-Epidemiologe Ulrich Mansmann über die Ungenauigkeiten bei Corona-Statistiken, den Sinn der aktuellen Schutzmaßnahmen und darüber, wie aggressiv Covid-19 wirklich ist
Viele Krankenhäuser stehen leer, gleichzeitig warnt die Staatsregierung vor zu schnellen Lockerungen: Wie passt das zusammen? Der Biometriker Prof. Dr. Ulrich Mansmann vom Institut für medizinische Informationsverarbeitung, Biometrie und Epidemiologie (IBE) an der LMU, erklärt, wie die aktuellen Statistiken zu interpretieren sind, warum viele Tests ungenau sind und was sich bisher wissenschaftlich belegen lässt – und was nicht.
Professor Mansmann, jeden Tag steigt die Zahl der Corona-Infizierten. Das liegt aber auch daran, weil mehr getestet wird. Wie ist das Verhältnis von Infizierten zu insgesamt Getesteten?
Mansmann: Dazu sind mir aus Bayern keine verlässlichen Zahlen bekannt. Natürlich gehen die Zahlen der Infizierten hoch, wenn mehr getestet wird. Wie die Kurve verlaufen würde, wenn noch mehr getestet würde, ist schwer zu sagen. Das Robert Koch-Institut (RKI) will jetzt mit dem Nowcasting-Verfahren die Anzahl der Infizierten genauer bestimmen.
Wie ist die Situation in den Kliniken in Deutschland angesichts der aktuellen Corona-Fallzahlen? Angeblich gibt es vielerorts Kurzarbeit, manche Häuser mussten sogar Insolvenz anmelden, weil sie wegen Corona Betten frei halten müssen.
Mansmann: Das LMU Klinikum München hat noch ausreichend freie Betten. Münchner Kliniken haben es jeden Tag ungefähr mit etwa 30 stationär neu aufgenommenen Corona-Patienten zu tun, davon müssen im Schnitt zehn auf die Intensivstation. Das können wir mit unseren Kapazitäten locker abdecken. Liegt ein Patient etwa 20 Tage auf der Intensivstation, summiert sich die Belegung für Münchner Kliniken mit Covid-19-Patienten auf etwa 200 Betten pro Tag. Es werden Stimmen laut, das Krankenhaus wieder hochzufahren. Die anderen Krankheiten sind ja nicht plötzlich verschwunden, die Patientenversorgung muss weitergehen. Viele Menschen trauen sich wegen der Ansteckungsgefahr auch nicht mehr zum Arzt. Anders kann ich mir nicht erklären, warum hier in München die Zahl der Patienten bei Herzinfarkt oder Schlaganfall um ein Drittel zurückgegangen ist.
Laut der Studie über den nordrhein-westfälischen Corona-Hotspot Heinsberg sind 0,37 Prozent der positiv auf Corona getesteten Menschen gestorben, das entspricht der Zahl einer starken Grippe. Die meisten Verstorbenen seien über 80 Jahre, nur ein Prozent hätte keine Vorerkrankungen gehabt. Wie schlimm ist das Coronavirus wirklich?
Mansmann: Es sterben nicht nur alte Leute, sondern auch Menschen zwischen 40 und 50. Aber etwa drei Viertel der Verstorbenen in Bayern sind über 70 Jahre alt. Männer sterben eher als Frauen. Mitte April sah die Situation wie folgt aus: Von etwa 28 000 Infizierten, die jünger als 70 waren, verstarben 120 Personen – das sind 0,43 Prozent. Von den etwa 5800 Infizierten, die älter als 70 waren, verstarben 714 Personen – das sind 12,3 Prozent.
Ist das Coronavirus aggressiver als die Grippe? Laut RKI sind im Winter 2017/2018 bundesweit über 25 000 Menschen an Grippe gestorben – zehn Mal so viele wie bisher an Covid-19.
Mansmann: In Deutschland sind 2017/2018 rund 20 Millionen Deutsche an Grippe erkrankt, gestorben sind aber nur 25 000. An Corona sterben nach den bisherigen Zahlen 20 Mal mehr Infizierte als an Grippe – das lässt sich an jetzigen Daten schon hochrechnen. Zum Glück haben wir noch keine Millionen von Corona-Infizierten. Von Hunderttausend an Corona Infizierten sterben nach den jetzigen Zahlen etwa 2500 Personen, von Hunderttausend Grippe-Infizierten etwa 100 bis 200.
Wie kommen Sie auf die Zahlen? Momentan wissen wir doch noch gar nicht, wie viele Menschen in Deutschland infiziert sind oder waren, ohne es bemerkt zu haben. Das kritisieren derzeit auch viele Ihrer Kollegen. Manche glauben, dass Corona bereits Weihnachten in Europa angekommen ist.
Mansmann: Es stimmt, dass wir die Anzahl der wirklich Infizierten noch nicht kennen. Um genauere Zahlen zu erheben, sammelt ja zum Beispiel aktuell ein Forscher-Team Blutproben von 3000 Münchner Haushalten. Danach können die Daten analysiert und nach Alter, Geschlecht und Vorerkrankung ins Verhältnis gesetzt werden. Ich halte Corona für gefährlicher als Grippe, weil es gegen Corona keinen Impfstoff gibt, keine Grundimmunisierung in der Gesellschaft und wir noch relativ wenig über das Virus wissen, beispielsweise wie lange man nach einem Infekt immun ist oder wie Schwangere darauf reagieren. Wenn aber mehr Menschen als bisher angenommen vom Virus erfasst wurden, würde der Anteil der Verstorbenen an den durch Corona Infizierten natürlich sinken. Deswegen müssen wir mehr testen. Ohne valide Daten sind auch Fachleute nicht immer einer Meinung. Leider scheinen die aktuellen Antikörpertests nicht so ausgereift zu sein, dass sie wirklich weiterhelfen.
Mangelnde Daten und ungenaue Ergebnisse: Was bedeutet das für die Auswertung?
Mansmann: Bei einem guten Antikörpertest bedeutet ein positives Testergebnis, dass die getestete Person auch die spezifischen Antikörper hat, und ein negatives Testergebnis, dass die getestete Person sie nicht hat. Dieses Kriterium erfüllen die Tests wohl noch nicht. Somit können falsch-positive Ergebnisse beim Antikörpertest das Gefühl vermitteln, immun zu sein. Die Münchner Forscher benutzen dagegen ein Verfahren, das PCR genannt wird und die genetischen Spuren eines Virus nachweist. Sind diese Spuren in einer Probe, so werden diese sicher entdeckt. Probleme können sich aber bei der Probenerhebung und der Probenlogistik ergeben. Es ist davon auszugehen, dass das Münchner Team diese Fallstricke genau berücksichtigt.
Laut offizieller Sterbestatistik unterscheiden sich die aktuellen Sterbezahlen in Europa nicht von den Vorjahren, in Deutschland sind sie sogar niedriger. Wie kann das angesichts der drastischen Warnungen vor Corona sein?
Mansmann: Die Sterberate berechnet sich aus der Zahl der Einwohner und der Verstorbenen. In Deutschland sterben von etwa 83 Millionen Einwohnern jedes Jahr rund 950 000 Menschen. Das ist eine Sterberate von 1,15 Prozent. Wenn da durch Corona noch 20 000 dazukommen, fällt dieser Unterschied von 0,2 Promille kaum auf.
Ist es angesichts dieser Zahlen angemessen, Grundrechte einzuschränken und die Wirtschaft lahmzulegen – ganz abgesehen von den psychisch-sozialen Folgen?
Mansmann: Im Prinzip waren die Einschränkungen in Ordnung. Wir waren mit einem völlig unbekannten Phänomen konfrontiert. Jetzt muss man aber genauer hinschauen. Wir wissen, dass häusliche Gewalt und Depressionen zunehmen. Ich habe auch von Selbstmorden gehört. Und noch gibt es meines Wissens keine Studien, wie alte Menschen mit dem Kontaktverbot zurechtkommen. Durch die Leopoldina-Studie ist aber Bewegung in die Sache gekommen.
Was halten Sie von den Konsequenzen, die Bund und Bayern aus dem Leopoldina-Papier gezogen haben?
Mansmann: Bei der Festlegung eines Ausstiegsszenarios sollte die Möglichkeit der Einhaltung von Hygieneregeln die relevante Richtschnur sein. Schulen müssen entsprechende Konzepte entwickeln, und bevor man die wuseligen jungen Menschen wieder in Klassen lässt, sollen die Regeln an den vernünftigen älteren Schülern erprobt werden. Warum aber ein kleiner Laden die Hygieneregeln besser einzuhalten verspricht als ein Kaufhaus mit einem entsprechend trainierten Sicherheitspersonal, erschließt sich mir auch nicht auf den ersten Blick. Die nächsten Wochen werden uns wichtige Initiativen zeigen, wie ein öffentliches Leben möglich wird, ohne sich vor dem Virus verstecken zu müssen.
Laut Bundesregierung gibt es bisher keine wissenschaftlichen Belege, dass Gesichtsmasken gegen das Coronavirus schützen. Warum sind sie trotzdem ein zentraler Bestandteil der Exit-Strategien von Bund und Ländern?
Mansmann: Wenn für Gesundheitsberufe ausreichend Mund-Nase-Masken vorhanden sind, ist es sinnvoll, wenn Bürger sie auch in der Öffentlichkeit tragen. Aber auch sogenannte Community-Masken aus Stoff sind im öffentlichen Raum hilfreich, wenn ihr Tragen mit dem Abstandhalten einhergeht. Sie sorgen dafür, dass Tröpfchen beim Sprechen oder Atmen nicht direkt das Gegenüber treffen, sondern seitlich verströmen. Das bietet etwas mehr Sicherheit, die Hände muss man sich aber trotzdem regelmäßig waschen. Abstand und die grundlegenden Hygieneregeln müssen eingehalten werden.
Ist denn bekannt, ob Covid-19 durch eine sogenannte Schmierinfektion, also durch eine Übertragung beispielsweise an Türklinken, möglich ist?
Mansmann: Es gibt Studien, die darauf hinweisen, dass Viren zum Beispiel auf Türklinken vorhanden, aber nicht mehr infektiös sind. Näheres weiß ich nicht. Bei anderen Epidemien war eine Schmierinfektion aber klar nachweisbar. Ich trage daher zum Schutz Baumwollhandschuhe und wasche mir sorgfältig die Hände.
Müssen wir uns in Zukunft auf weitere Katastrophen wie aktuell bei Corona einstellen?
Mansmann: Ich glaube, solche Einschränkungen wie jetzt könnte es künftig immer wieder geben. Mensch und Wildtiere drängen zusammen und begegnen sich dadurch immer häufiger. Das erhöht die Gefahr. Wir hatten Glück, dass wir nicht von der mexikanischen Schweinepest oder gar von Ebola direkt betroffen waren. Möglicherweise werden wir wie die Menschen in Asien künftig vermehrt mit Mund-Nase-Maske herumlaufen. Das passt noch nicht zu unserer Kultur, kann aber notwendig werden. Interview: David Lohmann
Prof. Dr. Ulrich Mansmann ist Direktor des Instituts für Medizinische Informationsverarbeitung, Biometrie und Epidemiologie (IBE) der LMU.