Das Ende des Rundgangs markieren fünf effektvoll ausgeleuchtete meterhohe Reliefs. Sie zeigen den assyrischen König Assurnasirpal II., der von mächtigen geflügelten Göttern beschützt wird. Er regierte von 883 bis 859 vor Christus, die riesigen Steintafeln stammen aus dem Palast von Kalhu, dem heutigen Nimrud im Irak. Assurnasirpal herrschte einst über ein Reich, das sich zu Zeiten seiner größten Ausdehnung von etwa 710 vor Christus an über den gesamten östlichen Mittelmeerraum und weite Teile des Mittleren Ostens erstreckte. So gesehen ist es im doppelte Sinne eine gute Idee, sich mit Karen Radner hier im Museum Ägyptischer Kunst München vor diesen Reliefs zu treffen, wenn man etwas über die Ursprünge von Imperien erfahren möchte: Das Neuassyrische Reich gilt tatsächlich als das erste Imperium der Weltgeschichte. Und die Historikerin kommt gleich ins Erzählen – über frühe Formen von Sozialtechnologie, geschickte Machtpolitik und die Elemente absoluter Herrschaft.
„Beim Imperium geht es nicht um die Größe, da führt der deutsche Begriff Großreich oft in die Irre“, sagt Radner. „Es geht darum, dass eine kleine Gruppe von Leuten die breite Masse von Menschen so steuert, dass sie diese optimal nutzen und ausbeuten kann. Das lässt sich durchaus mit modernen Firmenimperien vergleichen.“ Radner, die jetzt mit einer Humboldt-Professur, dem höchstdotierten deutschen Forschungspreis, an die LMU kommt, gehört zu den international führenden Experten für die Alte Geschichte des Nahen und Mittleren Ostens, insbesondere des Assyrischen Reichs. Und genau dieses Reich ist ein ideales Beispiel dafür, wie aus einem kleinen Königtum unter vielen im Lauf von wenigen Jahrhunderten das erste Weltreich wird, fast ein Jahrtausend vor dem Römischen Reich.
Gut geschützt vor Feinden
Die Geschichte des ersten Imperiums beginnt im 14. Jahrhundert vor Christus. Zu dieser Zeit wurde das Klima im Mittelmeerraum und im Mittleren Osten immer trockener, was viele Konkurrenten Assurs in Bedrängnis brachte. Das einst mächtige Ägypten und das Hethiterreich zerfielen in kleinere Staaten, auch Babylonien hatte mit der Trockenheit und dramatischen Ernteausfällen zu kämpfen. Überall grassierte der Zerfall, Umstürze häuften sich.
Nur Assyrien überstand die Wirren am Ende der Bronzezeit relativ unbeschadet, stark begünstigt von seiner geopolitischen Lage. Das Land an den Ausläufern des Zagros- und des Tauros-Gebirges hatte genügend Niederschläge, die Wasserversorgung und so auch die Ernährung der Bevölkerung waren weitgehend gesichert. Das Kernland war zudem durch den mächtigen Fluss Tigris gut vor Feinden geschützt. Aus diesem kleinen Vorteil wurde ein großer, als die Herrscher von Assur im 10. Jahrhundert vor Christus begannen, ihre in früheren Jahrhunderten verlorene Gebiete zurückzuerobern. Assyrien sollte wieder so mächtig werden wie zuvor. Man wollte die Assyrer, die es versprengt hatte, wieder heim ins Mutterland holen, so jedenfalls begründeten die assyrischen Könige ihre Expansionsstrategie, der die neu entstandenen Kleinstaaten des Mittleren Osten sukzessive zum Opfer fielen.
In einer Folge von Feldzügen
Aber die Herrscher wussten auch, dass sie sich von den alten, überkommenen Strukturen befreien mussten, um ein wirklich modernes Reich aufbauen zu können. Und tatsächlich formten sie im 9. Jahrhundert vor Christus aus einem Königreich, wie es in der Region nicht selten vorkam, das erste Imperium in der Weltgeschichte. In den folgenden Jahrhunderten wuchs es an Größe und Bedeutung, die assyrischen Könige eroberten bis ins 7. Jahrhundert auf einer Folge von Feldzügen das heutige Syrien, Teile des Libanon, Israels und Jordaniens, Regionen im Westiran und in der Osttürkei und am Ende auch das einst mächtige Ägypten.
Beim Aufbau der Weltmacht Assyrien spielten Assurnasirpal II. und sein Sohn Salmanassar III. zentrale Rollen. Sie verlegten den Regierungssitz aus der alten Königsstadt Assur nach Kalhu. „Das war ein entscheidender Schritt“, sagt Radner. Denn eine neue Hauptstadt erlaubte es ihnen, völlig neue Machtstrukturen zu etablieren und in neuen Größendimensionen zu planen. Zudem formten sie den gesamten Staatsapparat neu – und vergaben die wichtigen Positionen nach ihren Wünschen.
Die Art, wie er das tat, kam einem Coup gleich. Eine Schlüsselfrage für absolute Herrscher war immer, mit wem sie die Macht teilten. Die assyrischen Könige entschieden sich für eine spezielle Kaste von Staatsdienern: Eunuchen, kastrierte Männern. Eunuchen lebten zwar zuvor auch schon im königlichen Haushalt – aber im neuen System kam ihnen eine Schlüsselrolle zu und sie bildeten das Rückgrat der Provinzverwaltung. Der Staat investierte sehr früh in ihre Ausbildung, bereits im Kindesalter mussten sie ihre Familien verlassen, um in in der Obhut des Staates als Staatsdiener aufzuwachsen.
Machtsymbolik als Vorläufer politischer PR
„So entstand eine gebildete Elite, die sehr gut zu kontrollieren war“, sagt Radner. „Eunuchen haben nun mal keine Nachkommen.“ Das sei ein ziemlich drastischer Schritt gewesen, aber er habe gewährleistet, dass der König die Macht auf sich und wenige Menschen in seinem Umfeld konzentrierte. „Sie schaffen mit den Eunuchen eine Klasse von Beamten, an die sie die Macht delegieren, ohne dass sie zur Konkurrenz werden können“, sagt Radner.
Gleichzeitig achteten die absoluten Herrscher Assyriens auf ihr öffentliches Image. Zahlreiche Bilddenkmäler zeugen davon. Nur ein Teil zeigt den König als starken Kämpfer, der gnadenlos gegen Feinde vorgeht. Der andere Teil weist ihn als barmherzigen und offenen Mann aus, der über sein Volk wacht und immer ansprechbar ist – und der wie auf den Reliefs im Münchner Museum Ägyptischer Kunst von den Göttern beschützt wird. Die Symbolik der Macht wurde immer wichtiger, wenn man so will, war dies bereits eine Frühform von politischer PR.
Um die Machtstrukturen auf das ganze Land ausdehnen zu können und im ständigen schnellen Austausch mit den Statthaltern zu sein, führte man weitere Neuerungen ein, die strukturell enorm wichtig waren und zudem für eine große Weitsicht sprechen: Ein Postwesen machte eine neue Qualität in der Informationsübermittlung möglich, ohne die sich ein solches Riesenreich nicht hätte zentral lenken lassen. Eine Kette von Boten transportierte wie beim Staffellauf die königlichen Botschaften über ein Netz spezieller Poststationen. „Das ist revolutionär“, sagt Radner. „Bis zur Einführung von Eisenbahn und Telegraphen gab es keine Neuerung, die einen größeren Geschwindigkeitsvorteil gebracht hätte.“ Es war ein weiterer wichtiger Schachzug.
In Kuverts aus Ton
Salmanassar III. ließ das Netz der staatlichen Poststationen auf- und ausbauen. Alle 35 bis 40 Kilometer befand sich so eine Station. „Das war in etwa die Strecke, die ein Maultier leicht bewältigen konnte“, erklärt Radner. Auch wurden diese Tiere, eine Kreuzung aus Pferd und Esel, damals eigens dafür gezüchtet. Sie sind genügsamer als Pferde widerstandsfähig und merken sich die Wege auch im unwegsamen Gelände sehr gut. Anders als etwa später im Römischen Reich gab es in Assyrien kein gepflastertes Straßennetz.
Der Unterhalt dieses Postnetzes war extrem teuer. Dass sich die Herrscher es sich leisteten, zeigt, wie wichtig ihnen die Infrastruktur war. „Das war eine bewusste Investition“, sagt Radner. Die Boten transportierten die in Keilschrift auf Tontäfelchen geschriebenen Briefe in tönernen Kuverts – anders als das Relaysystem in der Nachrichtenübermittlung war das Postgeheimnis damals schon über ein Jahrtausend alt. Nur selten findet man ungeöffnete Briefe; bei einem der wenigen erhaltenen Exemplare, einer Petition, ist klar, warum. „Mein Gott, jetzt schreibe ich schon zum dritten Mal“, schreibt der Beschwerdeführer an einen offenbar auch weiterhin nicht hilfsbereiten Beamten. Die Briefe der assyrischen Staatskorrespondenz waren mit einem staatlichen Dienstsiegel verschlossen. Seit der Regierungszeit Salmanassars bekam jeder höhere Beamte einen goldenen Ring mit dem Königssiegel, ein exklusives Zeichen seiner Staatsdienerschaft. Es zeigte den König in einer prägnanten Reduktion auf seine zentrale Rolle als Landeshirte, wie er einen Löwen tötet – als Symbol für alle Gefahren, die dem Staat drohen konnten.
Maultiere im Gebirge
Karen Radner mag solche Details. Denn hier kann sie mit ihrer breit angelegten Forschung verschiedene Zugänge kombinieren. Die materiellen Befunde liefern etwa die alten, in seltenen Fällen bis heute noch verschlossenen Briefe, andere Textquellen erklären, wie das Postsystem funktionierte, umweltbezogene Informationen bestätigen, dass etwa die Maultiere im gebirgigen Gelände der nördlichen assyrischen Gebiete oder im trockenen Westen tatsächlich große Vorteile brachten. So wird Alte Geschichte zu einer spannenden Detektivarbeit.
Mit klarer Beweisführung: Denn all diese Neuerungen ergeben zusammen einen klaren Plan, mit dem die absoluten Herrscher ihre Macht festigten und über Jahrzehnte langsam ausbauten. Der Plan setzte aber auch voraus, dass sie dafür genug Geld hatten. Die Herrscher waren also parallel dazu gezwungen, Wohlstand zu produzieren. Sie erkannten, dass das größte Kapital eines Imperiums die Menschen sind, so Radner, vor allem die mit Wissen und speziellen Fähigkeiten. Sie lockten die Menschen mit Qualifikation in die neue Hauptstadt, gleichzeitig zwang man später auch Familien aus eroberten Gebieten, sich in der Hauptstadt Kalhu und den späteren Königsstädten wie Ninive anzusiedeln. „Die Herrscher wollten keine Parallelgesellschaften“, sagt die LMU-Wissenschaftlerin. Sie setzten auf Integration und neue gesellschaftliche Strukturen.
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