Die Rekonstruktion der stammesgeschichtlichen Entwicklung der Tiere liefert wichtige Hinweise auf zentrale Fragen der Evolution, etwa den Ursprung und die Entwicklung von Organen, Nerven oder Muskeln. Deshalb ist die Aufklärung von Verwandtschaftsbeziehungen eine der wichtigsten Herausforderungen für Evolutionsbiologen. Dabei spielt der Vergleich von Aminosäure-Sequenzdaten eine wichtige Rolle. Trotz mittlerweile großer genomskaliger „phylogenomischer“ Datensätze gibt es bis heute keinen allgemein anerkannten evolutionären „Stammbaum“ der Tiere. Insbesondere die korrekte Einordnung der Linien nahe der Basis dieses Stammbaums wird in der Wissenschaft kontrovers diskutiert. Ein Team von Wissenschaftlern unter der Leitung von Professor Gert Wörheide (Department für Geo- und Umweltwissenschaften und GeoBio-Center der LMU), Dr. Walker Pett (Iowa State University, USA) und Professor Davide Pisani (University of Bristol, UK) hat nun einen neuen Ansatz entwickelt, der Einschränkungen herkömmlicher sequenzbasierter Analyseverfahren überwindet und klassische Hypothesen über die stammesgeschichtlichen Beziehungen der Tiere unterstützt. Über ihre Ergebnisse berichten die Wissenschaftler im Fachmagazin Molecular Biology and Evolution.
Um die Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Tiergruppen aufzuklären, vergleichen Evolutionsbiologen homologe Gene verschiedener Spezies, also Gene mit ähnlichen Aminosäure-Sequenzen, die von einem gemeinsamen Vorläufer abstammen. Allerdings wurde bisher in der Regel nur eine bestimmte Untergruppe homologer Gene in die Analysen einbezogen: Sogenannte orthologe Gene, von denen man annimmt, dass sie sich direkt von einem gemeinsamen Vorfahren der untersuchten Spezies herleiten. „Gerade bei Linien, die sich evolutionär schnell weiterentwickeln, in denen sich also in relativ kurzer Zeit viele neue Mutationen anhäufen, können sich Gene aber schnell und stark verändern. Dann wird die Identifikation orthologer Gene sehr schwierig“, sagt Wörheide. Dies schränkt die Datenbasis für sequenzbasierte phylogenetische Analysen ein und reduziert deren Aussagekraft. Deshalb entwickelten die Wissenschaftler einen neuen Ansatz, bei dem nicht wie bisher die Gensequenzen selbst, sondern der Geninhalt der Genome verglichen wurde, also ob homologe Gene vorhanden sind oder nicht. Bei dieser Geninhaltsanalyse wurde nun erstmals die zweite Untergruppe homologer Gene – sogenannte paraloge Gene – in die Analyse einbezogen. Diese Gene gehen auf Genduplikationen eines Vorläufergens im Lauf der Evolution zurück. „Wenn alle homologen Genfamilien in die vergleichende Geninhaltsanalyse mit einbezogen werden und nicht nur strikt orthologe Gene, stehen wesentlich mehr Informationen zur Verfügung“, sagt Walker Pett, Erstautor der Studie.
Als Test untersuchten die Wissenschaftler die frühe Stammesgeschichte der Tiere sowohl mit herkömmlichen Methoden als auch mit dem neuen Ansatz. Zu den früh abzweigenden Tiergruppen gehören unter anderem die Schwämme und Rippenquallen, für die immer noch umstritten ist, welche von beiden Gruppen die Schwestergruppe der restlichen Tiere ist. „Unsere Ergebnisse ergaben unabhängig von der verwendeten Methode immer, dass die Schwämme die Schwestergruppe aller anderen rezenten Tiere sind“, sagt Wörheide. Die Rippenquallen dagegen wurden mit der herkömmlichen Methode, also der Analyse von nur orthologen Genen, als Schwestergruppe der Scheibentiere, Nesseltiere und der Bilateria – den sogenannten Zweiseitern, zu denen 95 Prozent aller rezenten Tiere gehören – klassifiziert. Mit der neuen Methode der Analyse homologer Genfamilien dagegen wurden sie als Schwestergruppe der Nesseltiere eingestuft – ein Ergebnis, das die auf morphologischen Studien basierte sogenannte „Coelenterata“-Hypothese bestätigt, die bereits Mitte des 19. Jahrhunderts postuliert, aber in den letzten Jahrzehnten kaum noch vertreten wurde.
„Wir schließen aus unseren Ergebnissen, dass die Platzierung einiger stark divergierender Linien wie etwa der Rippenquallen die Grenze der Auflösung herkömmlicher sequenzbasierter Methoden, die auf orthologen Genen beruhen, überschreiten kann“, sagt Wörheide. „Um die Ergebnisse dieser Analysen zu testen, sollte deshalb ergänzend die von uns vorgestellte Methode durchgeführt werden. Das ist ähnlich wie in der Kriminalistik: Wenn zwei unabhängige Datensätze zum gleichen Ergebnis kommen, ist diesem Ergebnis mehr zu vertrauen als nur dem jeweils einzelnen.“Molecular Biology and Evolution 2019
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