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Epidemien im Mittelalter: „Es herrschte das Gefühl einer bevorstehenden Apokalypse“

15.10.2021

Pest, Lepra, Syphilis: Das Zentrum für Mittelalter- und Renaissancestudien beleuchtet in seiner Ringvorlesung die kulturellen und sozialen Auswirkungen vergangener Epidemien.

Venezianische Pestmaske

© imago images / Christian Ohde

Die Ringvorlesung „Seuche und Krankheit, Heilung und Genesung” des Zentrums für Mittelalter- und Renaissancestudien der LMU beleuchtet ab 21. Oktober 2021 die kulturellen und sozialen Auswirkungen längst vergangener Epidemien. Mitorganisator PD Dr. Johannes Klaus Kipf vom Institut für Deutsche Philologie spricht im Interview über vorwissenschaftliche Heilversuche, verlassene Dörfer und eine dramatische Entsolidarisierung der Gesellschaft.

Herr Dr. Kipf, mit welchen Epidemien kämpften die Menschen in Mittelalter und Renaissance?

Klaus Kipf: Leider – wegen der schlechten hygienischen und medizinischen Zustände – mit sehr vielen. Am prominentesten ist wohl die Pest, die in großen Wellen durch Europa zog, insbesondere der „Schwarze Tod” um 1348. Heutigen Schätzungen zufolge könnte sie ein Drittel der Europäer das Leben gekostet haben. An nächster Stelle, aber kontinuierlicher, trat im Mittelalter die Lepra auf. Für diesen sogenannten „Aussatz“ – eine bakterielle Infektionskrankheit, die auch Verstümmelungen hervorruft, – wurden sogenannte „Siechenhäuser” eingerichtet, die auch in Literatur und Kunst immer wieder vorkommen. Ende des 15. Jahrhunderts erreichte dann zum ersten Mal die Syphilis sehr prominent Europa. Dazu grassierten Infektionskrankheiten wie das Fleckfieber, bis ins 19. Jahrhundert dann immer wieder der Typhus und schließlich die Cholera.

Titelbild eines Syphilistraktats von Ulrich von Hutten aus dem Jahr 1519

Titelbild eines Syphilistraktats von Ulrich von Hutten aus dem Jahr 1519 | © Staats- und Stadtbibliothek Augsburg

Wie erklärten sich die Menschen damals solche Krankheiten?

Die medizinischen und naturwissenschaftlichen Theorien entsprachen dem mittelalterlichen, aus heutiger Sicht „vorwissenschaftlichen“ Wissensstand und waren nicht empirisch fundiert – in unserer Ringvorlesung wird sich die Historikerin Katharina Wolff damit befassen. So gingen Ärzte von vier verschiedenen „Säften” im Körper aus, die es im Gleichgewicht zu halten gelte. Gerade im Zusammenhang mit der Pest glaubte man, dass bestimmte giftige Dämpfe diese Verhältnisse im Körper störten. Deshalb riet man den Menschen, aus den ungesunden Städten auf die Landgüter zu ziehen, wie auch Boccaccio das in seinem Vorwort zu Decamerone beschreibt.

Auf der anderen Seite standen theologische Deutungen: Priester fanden Parallelen zu biblischen Geschichten wie den Zehn Plagen Ägyptens. Krankheiten deuteten sie demnach als Strafen Gottes, etwa für Sünde, Laster und Verstöße gegen die Gebote Gottes. Nicht zuletzt glaubte man aber auch an astrologische Zusammenhänge: Kometen oder „ungünstige” Konstellationen am Sternenhimmel wurden als Vorboten oder gar Auslöser von Seuchen und Kriegen gedeutet.

Wie reagierten Menschen auf diese Krankheiten?

Eine soziale Reaktion etwa während der Lepra war die Absonderung – heute würde man sagen Selbstisolation – der Kranken in sogenannten „Siechenhäusern”. Zu Pest-Zeiten mussten Schiffsbesatzungen in den Häfen noch 40 Tage an Bord ausharren – daher rührt noch unser heutiger Ausdruck „Quarantäne”.

Die Heilungsversuche der zeitgenössischen Medizin waren aus heutiger Sicht genauso vorwissenschaftlich wie die Erklärungen: Aderlass etwa, und gegen die Pest zum Beispiel das Mitführen angenehmer Düfte. Dazu kamen religiöse Maßnahmen – Gottesdienste, Bußrituale, Pilgerfahrten oder die Selbstgeißelung. Das alles entsprach dem damaligen Wissensstand, mit dem Mediziner und Gelehrte den Krankheiten aber natürlich hilflos gegenüberstanden.

Wie veränderten solche Epidemien die Gesellschaften?

Zum einen führte die große Entvölkerung, die mit ihnen einherging, zu dramatischen Veränderungen der Gesellschaftsstruktur. Ganze Viertel oder Dörfer waren wüst und leer, Felder wurden nicht mehr bestellt, was wiederum zu Hungersnöten führte. Und dass so viele geliebte Menschen fehlten, führte neben aller Trauer auch zum Gefühl einer bevorstehenden Apokalypse.

Was die Chronisten und Literaten zudem gerade während des „Schwarzen Todes” beklagten, war eine dramatische Entsolidarisierung der Gesellschaft. Die Menschen starben so schnell an dieser Infektion, dass sie ihren moralischen, religiösen und gesellschaftlichen Pflichten im Anblick des Todes nicht mehr nachzukommen schienen. Stattdessen versuchten sie, sich selbst zu retten, oder, wenn das aussichtslos war, sich die verbleibende Zeit so angenehm wie möglich zu machen.

Inwieweit sind historische Epidemien für Ihre eigene Disziplin, die Sprachwissenschaft, interessant?

Zunächst stellen viele Begriffe in den historischen Quellen – wie Pest, Aussatz, Syphilis – lediglich Überlieferungen dar, keine definitiven Diagnosen. Weil die meisten historischen Krankheiten sich nicht mehr anhand biologischer Überreste klären lassen, können auch Medizinhistoriker sich ihnen nur annähern. Zudem variierten die Bezeichnungen oft von Nation zu Nation: Die Syphilis etwa wurde in vielen Ländern Europas als „Morbus Gallicus“ bezeichnet, die ‚französische Krankheit‘, in Frankreich selbst aber als „Mal de Naples“ – ‚Krankheit von Neapel‘. Durchgesetzt hat sich schließlich der Begriff Syphilis, der auf einer mythologischen Interpretation basiert: Syphilos ist der Liebhaber der Schweine.

Frontale Porträtaufnahme von Dr. Johannes Klaus Kipf, Mitorganisator der Ringvorlesung „Seuche und Krankheit, Heilung und Genesung”

Dr. Johannes Klaus Kipf | © hansherbigphotography

Ihr eigener Vortrag beleuchtet „Die Seuche als Medienereignis – Die erste europäische Syphilis-Epidemie in Text und Bild”. Wie muss man sich ein Medienereignis im 15. Jahrhundert vorstellen?

Der erste große Ausbruch der Syphilis fiel etwa in die Zeit der Entdeckung Amerikas und zugleich des Übergangs von der Handschrift zum Buchdruck.

Vor Gutenbergs Erfindung hatten vor allem fahrende Sänger, Boten zu Pferd oder reisende Kaufleute Neuigkeiten übermittelt. Doch während der ersten Syphilis-Fälle erzeugten die Pressen in Europa schon im schnellen Takt Flugblätter: In Gedichten, Bildern und kurzen Texten wurde darin, auch auf Lateinisch, über die Seuche und ihre Gefahren aufgeklärt.

Ende des 15., Anfang des 16. Jahrhunderts gab es dann erste Traktate, in denen Menschen ihre persönlichen Erfahrungen mit der Syphilis schilderten – darunter mit grausamen Heilversuchen wie der Quecksilber-Einreibung.

Das erinnert entfernt an Posts über Covid-19 auf sozialen Medien. Was lässt sich aus Erfahrungen früherer Epidemien für die heutige lernen?

Diese Frage kann ich nur aus persönlicher Sicht beantworten, aber natürlich vor dem Hintergrund meiner Forschung: Wenn ich die historischen Quellen über mittelalterliche Seuchen wieder beiseitelege und in meinen modernen Alltag zurückkehre, ist das stärkste Gefühl Dankbarkeit. Dankbarkeit für die hohen hygienischen Standards heutzutage und eine medizinische Wissenschaft, die Krankheitserreger im Labor identifizieren kann – und in bewundernswertem Tempo Impfstoffe dagegen entwickelt.


Weitere Infos zur Ringvorlesung „Seuche und Krankheit, Heilung und Genesung”:

Die Themen der Vortragenden – von Historikern über Literatur- und Musikwissenschaftler bis hin zu Byzantinisten – ziehen sich von der Justinianischen Pest über die Epidemie im Heer Kaiser Friedrich Barbarossas bis zur Semantik spätmittelalterlicher Beichtdiskurse.


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