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Leben in einer ehemaligen „Täterstadt“

09.05.2017

Was tun, wenn es zum jüdischen Leben in München in den 50ern und 60er Jahren erst wenig Forschungsliteratur gibt? Genau: Selbst nachforschen. Das haben 20 Geschichts-Studenten von Professor Michael Brenner getan.

20 Studierende wollten das jüdische Leben in München während der 50er und 60er Jahre rekonstruieren. Weil dazu erst wenig bekannt ist, setzen die Geschichts-Studenten auf „Oral History“, also das Gespräch mit Zeitzeugen. Gar nicht so einfach, wie Master-Student Maximilian Weitz berichtet: „Wenn ein Ereignis schon länger zurückliegt, vergisst der Erzähler oft etwas oder fügt Dinge hinzu, die so gar nicht passiert sind. Deshalb muss man sehr darauf achten, dass die Fragen ihn oder sie nicht eine bestimmte Richtung drängen.“ Gerade durch Suggestivfragen bestehe sonst die Gefahr, dass der Interviewer sich seine These zurechtbiegt.

Die Durchreisestation wird zur Heimat Die Studierenden mussten sich im Seminar von Professor Michael Brenner deshalb intensiv auf die Gespräche vorbereiten. Mit Hilfe des LMU-Historikers entwickelten sie gemeinsam einen Interviewleitfaden. „Jeder von uns durfte einen Zeitzeugen interviewen – das war schon sehr spannend“, erzählt Carolina Oswald. „Wir haben nicht nur viel über Forschung erfahren, sondern auch tolle Persönlichkeiten kennengelernt.“ Da allen Zeitzeugen ähnliche Fragen gestellt wurden, konnten die Studierenden das Erzählte im Anschluss vergleichen und daraus einen Einblick in das jüdische Leben in München gewinnen: Nach dem Krieg war München für viele Juden nur eine Durchreisestation, ein Leben in der Täterstadt kaum vorstellbar. Doch einige fanden Jobs, gründeten Familien und blieben. Die jüdische Gemeinde lebte nicht in einem Viertel, aber man traf sich in der Synagoge, für die Kinder und Jugendlichen war das Freizeitheim Maon Hanoar ein wichtiger Treffpunkt. Die Reaktionen auf die Münchener Juden waren unterschiedlich: während einige immer wieder mit Antisemitismus zu kämpfen hätten, können andere Gesprächspartner sich an keine Vorfälle erinnern. „Auch wenn alle verschieden mit der deutschen Geschichte umgegangen sind, die Stadt München wurde für alle zur Heimat“, fasst Carolina zusammen.

Vom Seminarraum ins Jüdische Museum An dieser Stelle wäre das Seminar eigentlich beendet gewesen, doch in der Zwischenzeit bekundeten sowohl das Jüdische Museum München als auch der Bayerische Rundfunk Interesse an den Forschungsergebnissen des Seminars. „Wir bekamen das Angebot, einen Ausstellungsraum für das Museum zu gestalten und an einem Dokumentarfilm mitzuarbeiten“, erzählt Professor Brenner. „Diese Chance wollten sich die Studierenden nicht entgehen lassen.“

So auch Carolina und Maximilian. Die Vorbereitung von Film und Ausstellung nahm insgesamt ein dreiviertel Jahr in Anspruch – zusätzlich zu ihren normalen Kursen. „Plötzlich mussten wir uns überlegen: Wie können wir unsere Forschungsergebnisse anschaulich präsentieren?“, erzählt Carolina. Für die Ausstellung gestalteten die neuen Ausstellungsmacher unter anderem ein Fotoalbum, für welches sie gemeinsam mit den Zeitzeugen Bilder aussuchten. „Wir durften alles selbst entscheiden, das erforderte natürlich viel Abstimmung untereinander. Aber wir hatten eine tolle Gruppendynamik“, sagt Maximilian.

Den Filmern des BR durften sie bei allen Arbeitsschritten über die Schulter schauen: von den Filmaufnahmen bis zum Schnitt waren die Studierenden überall mit dabei. „Für die bildorientierte Recherche musste man nochmal ganz anders denken als für die Forschung und für die Ausstellung“, sagt Maximilian. Mit dem Seminar sind die beiden mehr als zufrieden: „Der Praxisbezug war super“, sagt Carolina. „Und wir konnten tolle Kontakte in die Arbeitswelt knüpfen.“ Auch für Maximilian steht fest: „Das Seminar war mehr wert als die ECTS-Punkte.“

Die Ausstellung Jüdisches Leben in München in den 1950er- und 1960er-Jahren kann man noch bis 30. September im Studienraum des Jüdischen Museum München besichtigen. Anhand von Fotos, persönlichen Gegenstände und Videoausschnitten aus den Interviews mit den Zeitzeugen wird der Alltag der jüdischen Bevölkerung während der 50er und 60er Jahre nacherzählt. Der Ausstrahlungstermin für die TV-Dokumentation auf ARD Alpha steht derzeit noch nicht fest.

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