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Rätsel von Zeit und Raum

09.02.2018

Simone Mühl sucht im irakischen Kurdistan nach Spuren einer vergangenen Kultur. Nun erhält die Nachwuchswissenschaftlerin für ihre Arbeiten den Therese von Bayern-Preis.

Als Simone Mühl vergangenen Sommer zum Ort ihrer Ausgrabungen kam, eröffnete sich ihr ein überraschendes Bild: Die Ebene war von Wasser bedeckt, vor dem Siedlungshügel, der sonst von Getreide umwachsen ist, ankerten Fischerboote. „Das war schon faszinierend, so hatte ich den Hügel noch nie gesehen“, erinnert sie sich. Gird-i Shamlu, wie der Hügel heißt, liegt in der Shahrizor-Ebene, einer Landschaft in irakisch Kurdistan in der Nähe der Grenze zum Iran, in deren Mitte sich ein Stausee erstreckt. Zu Beginn der Ausgrabungszeit im August hat sich das Wasser, das ab dem Frühsommer abgelassen wird, sonst in der Regel schon zurückgezogen, die Gegend wird dann von den Bewohnern landwirtschaftlich genutzt.

Ob das Gebiet auch vor 5000 Jahren schon beackert wurde, ist eine der Fragen, die Simone Mühl untersucht. Das Wissen darüber, wie Menschen damals lebten, ist in einer Art Black Box versteckt, die historischen Überlieferungen brechen auf einmal ab. Bis dahin war die Region entscheidend für den Handel zwischen dem iranischen Hochland und Mesopotamien weiter südwestlich. Hier entstanden seit dem 4. Jahrtausend vor Christus die ersten städtischen Zivilisationen der Menschheit, die auf funktionierende Handelsbeziehungen angewiesen waren. „Mesopotamien war recht rohstoffarm. Über die Shahrizor-Ebene hatte es Zugang zu Regionen, in denen Metalle gewonnen wurden. Sie war auch bekannt für die Viehzucht. Teilweise sind ganze Herden von Rindern oder Kleinvieh in die Tempelstädte gebracht worden“, erzählt Simone Mühl und verweist auf textliche Überlieferungen, die aus der Zeit vorliegen. Erwähnt wurde die Region erstmals im 3. Jahrtausend vor Christus, als sich das Königreich von Simurrum über die Shahrizor-Ebene erstreckte.

Doch Mitte des 2. Jahrtausends brechen die Informationen auf einmal ab, erst ab dem 12. Jahrhundert vor Christus ist die Region wieder belegt. Was ist passiert, dass heute mehrere Jahrhunderte im Dunkel liegen? Um das herauszufinden, verbindet Simone Mühl verschiedene Forschungsmethoden. Die Grabungen sind das eine. Zuvor hatte sie die Shahrizor-Ebene mithilfe der satellitengestützten Fernerkundung untersucht, um deren Siedlungsarchäologie zu erkennen. „Wir begreifen den Raum ganzheitlich und achten auf die Wechselwirkungen zwischen Mensch und Umwelt. Felder prägen die Landschaft anders als Viehwirtschaft. So lassen sich noch heute Rückschlüsse auf die damalige Wirtschaftsweise ziehen“, erklärt Simone Mühl. „Mir macht es viel Spaß, dafür mit Kollegen aus anderen Disziplinen zusammenzuarbeiten und ich profitierte davon enorm. Es erweitert das eigene Wissen.“ Über die Jahre hat sie sich so viele methodische Kompetenzen erarbeitet, die sie nun in ihre Arbeit integriert. Dieser interdisziplinäre Ansatz ist einer der Gründe, warum die Archäologin nun von der Therese von Bayern-Stiftung zur Förderung von Frauen in der Wissenschaft ausgezeichnet wird. Gewürdigt wird dabei auch die Vorbildfunktion, die die Preisträgerinnen für andere Nachwuchsforscherinnen haben. Als eine von sieben Wissenschaftlerinnen an der LMU wird ihr am 9. Februar der Preis verliehen.

Simone Mühl, die schon als Kind Archäologin werden wollte, forscht bereits seit ihrem Masterstudium in der Region. Studiert hat sie an der Universität Heidelberg, wo sie nach einem Forschungsaufenthalt an der University of Chicago, USA, 2011 auch ihren Doktortitel erwarb. Seit 2012 arbeitet sie am Institut für Vorderasiatische Archäologie. Für ihre Arbeiten hat sie hochrangige Stipendien und Förderungen bekommen. So leitet sie seit 2016 eine Emmy Noether-Gruppe – mit dem Programm unterstützt die Deutsche Forschungsgemeinschaft besonders qualifizierte Nachwuchswissenschaftler- und wissenschaftlerinnen.

Simone Mühl hofft, dass der Therese von Bayern-Preis, der ihr nun verliehen wird, auch eine „Signalwirkung“ auf jüngere Nachwuchswissenschaftlerinnen hat, die übers Promovieren nachdenken und eine Familiengründung nicht ausschließen. Sie selbst ist Mutter einer inzwischen einjährigen Tochter, die sie und ihren Partner, der ebenfalls Archäologe ist, auch bei der Feldarbeit begleitet. „Ich habe selbst sehr von solchen Beispielen profitiert. Es hilft, zu wissen, dass es Lösungen gibt, Kinder und eine wissenschaftliche Karriere auch in der Archäologie zu vereinbaren.“ Ihre Tochter begleitet die Eltern auch bei der Feldarbeit in der Shahrizor-Ebene.

Seite 2: Vom Großen zum Kleinen

Seite 2: Vom Großen zum Kleinen Am Gird-i Shamlu untersucht Simone Mühl ausgehend von den Erkenntnissen, die sie mithilfe der Satellitenerkundung quasi aus der Vogelperspektive gewonnen hat, nun beispielhaft, wie sich die Siedlungsgeschichte der Region abgespielt haben könnte. Für Archäologen ist der Hügel ein sehr wertvoller Fundort, denn die Menschen haben ihre Siedlung damals über Generationen hinweg immer weiter nach oben gebaut. Gingen Häuser aus Lehmziegeln kaputt, wurden die Ruinen zum Fundament für neue Bauten. Mit seinen zwölf Metern Höhe auf einer Fläche von mehreren Hektar birgt der Hügel heute Informationen über einen Zeitraum von mehreren tausend Jahren. Die Funde ganz unten stammen aus dem 4. und 3. Jahrtausend vor Christus, jene aus dem obersten Bereich aus dem 1. Jahrtausend.
Die bisherigen Ausgrabungen, vor allem die gefundenen Scherben, zeigen, dass es einen Wechsel in der materiellen Kultur gab: „In einem bestimmten Zeitabschnitt wurde Keramik völlig anders hergestellt. Eigentlich war der technologische Standard, dass Keramik bei der Herstellung auf Scheiben gedreht wurde. Auf einmal wurde sie von Hand gemacht und mit Ritzen verziert. Die Verzierungen wirken, als hätten sie eine bestimmte Bedeutung. Sie erinnern an schematisierte Berge und Tiere aus der Bergwelt.“
Diese neue Art der Gefäßherstellung fällt genau in die Zeit, über die es keine textlichen Überlieferungen gibt. Die Macharten lösen sich jedoch nicht ab, sondern bestehen nebeneinander. Auffällig ist, dass die handgemachten Gefäße alle ähnlich Topfartig sind, während es von der scheibengedrehten Keramik ganze Service aus Tellern, Kannen und Schüsseln gibt. „Das könnte heißen, dass neue Esstraditionen aufgenommen wurden“, sagt Mühl und betont, wie vorsichtig man mit voreiligen Interpretationen sein müsse. Die Keramik allein reicht dafür nicht. Um heute auf einen möglichen gesellschaftlichen Wandel in der damaligen Zeit schließen zu können, müssen verschiedenste Erkenntnisse miteinander verbunden werden. „Fügt man mehrere Puzzlesteine zusammen, könnte dieser Wechsel darauf hindeuten, dass es einen tiefen Einschnitt für die Menschen damals gab, Fluchtereignisse stattgefunden haben und sich Bewohner aus der Fremde in Shamlu niedergelassen haben.“ Oft sei es eine Kombination mehrerer Faktoren – politischer, wirtschaftlicher und klimatischer –, die zu Migrationsbewegungen führten. Widerlegen konnte die Archäologin inzwischen die ursprüngliche These, wonach die Menschen in der Shahrizor-Ebene zur damaligen Zeit als Nomaden lebten. Sie bauten vielmehr massive Lehmziegelhäuser, die mit Schilfmatten ausgelegt worden waren, und betrieben Ackerbau.
Die sicherheitspolitische Lage immer im Blick Ihre weiträumige Landschaftsuntersuchung zeigten, dass es in der Shahrizor-Ebene viele Siedlungsreste aus diesem Zeitabschnitt gibt, mit denen die Funde in Shamlu verglichen werden können. Aber in der weiteren Umgebung ist dies nicht der Fall. „Meine Vermutung ist, dass man jenseits der Grenze in den iranischen Gebirgstälern suchen müsste.“ Doch diese Region ist archäologisch kaum erforscht. Auch die Shahrizor-Ebene war für Archäologen lange „terra incognita“, wie Simone Mühl sagt. „Aufgrund der politischen Wirren in der Region war es nicht möglich, dort zu forschen.“ Selbst heute ist es nicht selbstverständlich, sie muss sich laufend über die sicherheitspolitische Lage in Kurdistan informieren, um zu entscheiden, ob eine Feldarbeit überhaupt realisierbar ist – „auch um die Sicherheit der Studierenden zu gewährleisten.“
Vor zwei Jahren, als der IS ins irakische Mossul eingefallen ist, hat die Archäologin aufgrund ihrer persönlichen und beruflichen Kontakte früh von den darauffolgenden kulturellen Zerstörungen durch die Truppen erfahren. Sie hat damals einen Verein gegründet, der sich noch heute für den Kulturgutschutz im Irak einsetzt. „Ich sehe mich persönlich in einer Verantwortung auch gegenüber den Menschen vor Ort, die mich in meiner Forschung unterstützen und mit mir arbeiten.“ Dieses Gefühl der Verbundenheit mag auch der Gastfreundschaft entspringen, die Simone Mühl immer entgegengebracht wurde und von der man „in Deutschland viel lernen könne“. Es ist ein Entgegenkommen, auf das die junge Archäologin bei ihrer Feldarbeit angewiesen ist, um weitere Puzzlesteine sammeln und etwas Licht in das Rätsel zu bringen zu können, was im 3. Jahrtausend vor Christus in der Shahrizor-Ebene passiert sein mag.
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Unter Leitung des Instituts für Vorderasiatische Archäologie der LMU findet vom 3. Bis 7. April 2018 der archäologischen Fachkongress „11th International Congress on the Archaeology of the Ancient Near East (ICAANE)“ statt. Neben den fachbezogenen Vorträgen wird es am 5. April eine Podiumsdiskussion über Cultural Heritage und die aktuelle Situation im Nahen Osten geben.



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