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Die infizierte Gesellschaft

18.12.2020

Armin Nassehi analysiert im Rahmen der Corona Lectures, inwieweit sich aus der Krise etwas über die Struktur der modernen Gesellschaft lernen lässt.

Das Corona-Virus infiziert menschliche Körper und kann in ihnen eine gefährliche Krankheit auslösen. Doch auch die Gesellschaft als Ganzes bleibt nicht immun. Am 15. Dezember 2020 analysiert Professor Dr. Armin Nassehi, Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeine Soziologie und Gesellschaftstheorie an der LMU München, im Rahmen der virtuellen Veranstaltungsreihe „Corona Lectures“, wie die Gesellschaft auf die Folgen und die Drohung solcher Infektionen reagiert. Armin Nassehi fragt, inwieweit sich aus der Krise etwas über die Struktur der modernen Gesellschaft lernen lässt.

Fünf Fragen an Armin Nassehi

Der Corona-Winter wird lang und hart, heißt es allenthalben. Haben wir als Gesellschaft – in einem soziologischen Sinn – dafür bessere Abwehrkräfte als noch im Frühjahr?

Armin Nassehi: Im Frühjahr haben wir gedacht, dass es sich um eine temporäre Krise handelt, die einen großen Peak hat, danach aber bald vorbei ist. Flatten the curve, das war die Idee. Viele haben dann im Sommer gerne geglaubt, wir seien schon über den Berg. Dass es mit einer zweiten Welle noch einmal so ernst werden könnte, wie es jetzt ist, davon wollten viele nichts wissen. Jetzt sehen wir, dass sich die Hoffnungen nicht erfüllt haben und ein Ende der Pandemie nicht so richtig abzusehen ist. Deswegen, glaube ich, haben wir heute als Gesellschaft eher weniger Abwehrkräfte.

Welche „Krankheiten“ drohen denn überhaupt?

Armin Nassehi: Ich spreche von einer infizierten Gesellschaft. Es gibt keinen Bereich, der davon nicht betroffen wäre. Das Infektionsgeschehen hat erhebliche Auswirkungen auf das Bildungssystem, auf die Wirtschaft, auf die Arbeitsplätze von Menschen, auf den Kulturbetrieb, auf Familien und so weiter. Und wir lernen im Moment so eindringlich wie nie zuvor, wie stark die einzelnen Bereiche voneinander abhängig sind. Wenn man medizinische Vorteile gewinnen will, hat man womöglich ökonomische Nachteile. Wenn man sich um Gesundheitsfragen kümmert, dann leidet womöglich das Bildungssystem, und was medizinisch notwendig ist, lässt sich womöglich politisch kaum durchsetzen. Es scheint, als seien die gesellschaftlichen Routinen selbst von dem Virus infiziert.

Nützt es da auch nicht, dass das Wissen über das Virus immens gewachsen ist?

Armin Nassehi: Es stimmt, das Wissen über das Virus ist stark gewachsen: Die Tatsache, dass man jetzt schon Impfstoffe testen kann, ist sensationell. Dahinter steht eine große wissenschaftliche Leistungsfähigkeit, ja Potenz. Augenfällig ist aber auch, dass vieles von dem, was wir eigentlich wissen müssten, noch immer im Dunkeln liegt, und zwar auch vieles von dem, was politische Entscheidungen jetzt begründen müsste. Zu der epidemiologischen Frage etwa, welches denn wirklich die Ansteckungsorte sind, können wir immer noch relativ wenig sagen. Die meisten politischen Entscheidungen aber, die wir jetzt brauchen, wären eigentlich gerade von dieser Information abhängig.

Für die Entscheidungsträger in Politik und Gesellschaft bleibt es dabei, dass sie in vielen Bereichen unter Unsicherheit entscheiden müssen?

Armin Nassehi: Genau. In meinen Hauptseminaren an der LMU bringe ich den Studierenden seit 22 Jahren bei, was es eigentlich heißt, unter Bedingungen von Unsicherheit und nicht vollständigen Informationen, von mangelndem Wissen und unter Zeitdruck entscheiden zu müssen. Mit der Pandemie haben wir jetzt den gesellschaftlichen Großversuch. Das Schwierige an der jetzigen Situation ist: Entscheidungen müssen trotzdem fallen. Niemand aus der Politik kann sich jetzt hinstellen und sagen: Es tut mir leid, ich kann jetzt leider nichts entscheiden, wir haben keine eindeutigen und evidenten Kriterien. All das heißt natürlich nicht, dass es keine Entscheidungsgründe gibt. Die gibt es natürlich schon. Und es gibt auch Konflikte über diese Entscheidungsgründe. Aber unser Wissen hat noch immer große Lücken.Für die Entscheidungsträger in Politik und Gesellschaft bleibt es dabei, dass sie in vielen Bereichen unter Unsicherheit entscheiden müssen?

Wie viele Wissenschaftler sind Sie ein gefragter Gesprächspartner in Corona-Fragen für Politik und Medien. Hat sich Ihre Rolle seit der ersten Welle verändert?

Armin Nassehi: Nein, die Anfragen nehmen zu. Wenn wir uns als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler engagieren, sollten wir ziemlich genau reflektieren, was wir zur öffentlichen Diskussion beitragen können. Ich versuche, nur über die Themen zu reden, die ich als Soziologe einschätzen kann. Zum Infektionsgeschehen und zu vielen anderen Themen kann ich nichts Substanzielles beitragen. Ich bin zum Beispiel Mitglied in einem Beratungsgremium des Bayerischen Gesundheitsministeriums, in dem es um das Infektionsgeschehen in der Langzeitpflege geht. Ich kann als Soziologe nichts zu den medizinischen und pflegerischen Aspekten sagen, denn ich bin kein Experte dafür. Ich kenne mich aber mit den Akteurskonstellationen aus, die da sowohl in der häuslichen als auch in der stationären Pflege zwischen unterschiedlichen professionellen Teams auftreten. Und so, würde ich sagen, hat sich insgesamt die Rolle der Wissenschaftler ausdifferenziert. Tatsächlich können fast alle Fachdisziplinen mit ihrem Wissen zurzeit etwas beitragen.

Prof. Dr. Armin Nassehi ist Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeine Soziologie und Gesellschaftstheorie an der LMU München. In seiner Forschung beschäftigt er sich mit Fragen der Kultursoziologie, Politischen Soziologie und Religionssoziologie sowie der Wissens- und Wissenschaftssoziologie.

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93 Min | 18.12.2020

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