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An Literatur lernen

26.06.2024

Herle-Christin Jessen ist seit April 2023 Professorin für Romanische Philologie und Didaktik an der LMU. Ihr Ziel: Der Literatur im Fremdsprachenunterricht mehr Bedeutung zu verschaffen.

„Die übergreifende Frage in meiner Forschung betrifft das literarische Lernen: Was lerne ich an Literatur im Vergleich zu anderen Texten“, erläutert Herle-Christin Jessen. „In einem ersten Schritt muss dafür definiert werden, was Literarizität ist.“ Geforscht hat die Romanistin in diesem Zusammenhang beispielsweise zu moderner Lyrik, welche im 20. und 21. Jahrhundert überkommene Gattungsgrenzen zunehmend hinter sich gelassen habe und immer schwerer von kurzen Prosatexten zu unterscheiden sei. „Wie definiere ich ein Gedicht, das keine Verse mehr hat, nicht mehr den üblichen Kriterien genügt? Da muss man ganz von vorn anfangen.“ Konkret hat sie moderne Lyrik in enger Verbindung mit philosophischen, literaturtheoretischen und poetologisch-programmatischen Texten untersucht und statt Kriterien Spannungsfelder identifiziert, die diese Lyrik kennzeichnen.

Herle-Christin Jessen steht vor einem Bücherregal und blickt frontal in die Kamera

Professorin Herle-Christin Jessen

© LMU/LC Productions

Umsetzung in der Didaktik

Solche neuen Aspekte im Fremdsprachenunterricht zu etablieren und die Relevanz von Literatur im 21. Jahrhundert aufzuzeigen, ist ihr vor allem auch als Professorin für Didaktik der französischen und spanischen Literatur wichtig. Denn: „Wenn wir es nicht schaffen, die Bedeutung von Literatur im 21. Jahrhundert zu vermitteln, wird es die Literaturwissenschaft immer schwerer haben“, sagt Herle-Christin Jessen. Deswegen und um den Stellenwert von Literatur in der Gesellschaft zu stärken, sieht sie ihre Aufgabe darin, „tragfähige Brücken zwischen klassischer Fachwissenschaft und der Schulpraxis zu bauen“.

Hierbei sei es entscheidend, zunächst zu untersuchen, was im Unterricht gelesen werde und warum sowie zu identifizieren, welche Gattungen sich für den Schulunterricht anbieten. Diese sollten zwar literarisch anspruchsvoll, aber in der Schule potenziell lesbar sein. „Wenn ich mir ein Epos mit 3.000 Versen aussuche und nicht gleichzeitig auch Textstellen definiere, die an der Schule lesbar sind, wird der Transfer nicht möglich sein“, ist sich Jessen sicher.

Um den Einstieg in andere, neue Textsorten und Gattungen für den Schulunterricht zu finden, erarbeitet die Romanistin zusammen mit Fachwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern, Lehrenden und Studierenden derzeit einen Literaturblog, der demnächst freigeschaltet werden soll.

Bei der Suche nach Textsorten, die wissenschaftlich noch Neuland sind, aber in der Schule gut funktionieren, hat sich das Team für moderne Lyrik, für die Graphic Novel und Science-Fiction entschieden. „Gerade bei Letzterer haben die Schülerinnen und Schüler einen guten Zugang etwa über Streaming-Dienste“, weiß Jessen. Zudem könne man anhand dieser Gattung die Kombination von Wissenschaft, Realitätsanspruch und Fiktionalität untersuchen.

Die Graphic Novel eigne sich auch für Schülerinnen und Schüler, die noch Schwierigkeiten mit der Sprache haben, weil sie stark bildvermittelt sei und, wie auch Science-Fiction, Spannung vermittele, über die man Schüler gut an Literatur heranführen könne.

In dem Literaturblog werden Textbeispiele und Lehrprojekte verfügbar sein. Mehr noch: Der Blog soll Studierende, angehende und praktizierende Lehrerinnen und Lehrer zusammenbringen; sie sollen dort publizieren, neue Text vorstellen und didaktische Impulse geben können, schließlich auch Ideen liefern, was man mit den Texten im Schulalltag machen kann.

Graphic Novel und Diktatur

In ihrer Forschung interessiert Herle-Christin Jessen des Weiteren das Verhältnis Affekt oder Emotion und Literatur. „Ich untersuche etwa, wie Gefühl zu ästhetischer Gestalt und an dieser ästhetischen Gestalt zu einer eigenen Form von Erfahrung wird, z.B. wie Trauer und Leiden im Text oder in Form von Klang und Sprache dargestellt werden.“

In der Spanischen Literatur befasst sie sich überdies mit der Graphic Novel im Hinblick auf die Franco-Diktatur. „Seit Anfang des Jahrhunderts hat die literarische Aufarbeitung dieser Zeit in Form von Graphic Novels stark zugenommen“, erklärt sie. „Hier stehen oft die Familienverhältnisse im Vordergrund als Keimzelle einer von Diktatur geprägten Gesellschaft.“ Jessen interessiert hier insbesondere, wie die Gesellschaft anhand der Familie dargestellt wird, welche Konflikte gezeigt werden und welche Traumata verhandelt werden.

Herle-Christin Jessen hat an der Universität Heidelberg studiert, wurde dort auch promoviert und hat über moderne Prosadichtung in Frankreich, Spanien und Kanada habilitiert. Forschungsprojekte führten sie nach Quebec und Madrid.

Das besondere an der Professur, die sie nun an der LMU bekleidet, ist die Schnittstelle zwischen Fachwissenschaft und Didaktik. „Das ist nach meiner Kenntnis in Deutschland eher ungewöhnlich“, sagt sie. Und obwohl sie von Haus aus keine Fachdidaktikerin sei, „habe ich mich immer schon für didaktische Fragestellungen interessiert, weil ein Großteil der Studierenden, die Französisch oder Spanisch studierenden, das Lehramt anstreben“.

An der LMU plant sie eine Ringvorlesung zu Lyrik fortzusetzen, die jährlich im Wechsel mit ihrer Alma Mater in Heidelberg stattfinden soll.

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