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Barrierefreiheit: Eine Mischung aus KI und Empathie

15.01.2024

Professor Peter Zentel ist Lehrstuhlinhaber für Pädagogik bei geistiger Behinderung und Beauftragter für die Belange Studierender mit Beeinträchtigung. Im Interview spricht er über den Stellenwert von Barrierefreiheit und Inklusion in der Lehre.

Professor Zentel berät Studierende zum Nachteilsausgleich und ist Vertrauensperson bei Diskriminierungsfällen. | © LMU

Herr Professor Zentel, Sie haben an der LMU eine spannende Doppelrolle inne. Sie sind Beauftragter für die Belange Studierender mit Beeinträchtigung sowie Lehrstuhlinhaber für Pädagogik bei geistiger Behinderung. Woran forschen Sie aktuell?

Prof. Zentel: Die Eignung von Künstlicher Intelligenz für Menschen mit geistigen Behinderungen ist das Thema, das mich aktuell am meisten beschäftigt. Es ist naheliegend, dass eine Technologie, die quasi die menschliche Intelligenz erweitern kann, am meisten Personen mit intellektuellen Schwierigkeiten zugunsten kommen könnte.

Im Kontext der Diskussion, wie intelligent werdende Systeme uns beeinflussen und inwiefern Menschen mit eingeschränkten kognitiven Fähigkeiten dadurch gefährdet sind, sehe ich eine Ambivalenz. Ich betrachte es daher als meine doppelte Aufgabe zu erforschen, wie wir das KI-Potenzial nutzen und gleichzeitig die Risiken im Auge behalten können. Das letzte, was wir wollen, ist, dass KI-gesteuerte Systeme menschliche Unterstützung und Interaktion ersetzen.

Können solche Technologien auch direkt Anwendung in Universitäten finden, um ein inklusiveres und barrierefreies Umfeld zu schaffen?

Prof. Zentel: Es gibt bereits Funktionen von KI, die in Lehrveranstaltungen nutzbar sind und auch Anwendung finden. PowerPoint 365 ermöglicht es zum Beispiel, Gesprochenes in Echtzeit in Untertitel zu übersetzen. Diese Funktion ist besonders für Menschen mit Hörschwierigkeiten eine große Erleichterung. Darüber hinaus kann KI zur Unterstützung von Studierenden mit Sehbeeinträchtigungen, speziell in Fächern wie Psychologie, wo häufig auf visuelle Darstellungen zurückgegriffen wird, genutzt werden. Durch die Verwendung von ChatGPT können wir etwa visuelle Inhalte in Sekunden beschreiben. Bisher haben wir einen speziellen Drucker genutzt, der Bilder fühlbar macht, doch dies erfordert eine vorherige Bearbeitung. Demgegenüber ist die Nutzung der KI-Technologie viel einfacher und ermöglicht den Studierenden selbständig zu arbeiten.

Seit dem Beginn der Corona-Pandemie hat das digitale und hybride Lehrangebot stark zugenommen. Hat das auch schon dazu beigetragen, an der LMU Barrieren abzubauen?

Prof. Zentel: Viele Menschen haben an unserer Universität wie auch an anderen Hochschulen stark davon profitiert, dass Lehrinhalte nun online zugänglich sind. Schriftbasierte digitale Formate, wie etwa PDF-Dokumente, sind insbesondere für Menschen mit Hörschwierigkeiten oder Sehbeeinträchtigungen eine Erleichterung. Die Hybrid-Zugänglichkeit erleichtert darüber hinaus auch Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen das Lernen, da sie von zu Hause aus teilnehmen können.

Auf der anderen Seite gibt es auch neue Schwierigkeiten. Zum Beispiel, wenn die hochgeladenen PDFs nicht barrierefrei sind und von Screenreadern nicht erkannt werden können. Das stellt ein Problem dar, ebenso wie schlechte Auflösungen von Bildern oder Scans, die Menschen mit Sehschwierigkeiten vor Herausforderungen stellen. Digitalisierung allein ist nicht unbedingt automatisch barrierefrei.

Fühlbare Bilder, untertitelte Präsentationen, das klingt so, als wäre es gut um die Barrierefreiheit in der Lehre an der LMU bestellt. Wie schätzen Sie die Situation ein?

Prof. Zentel: Meine Kolleginnen und Kollegen aus der Beratungsstelle und ich bemerken seitens der Fakultäten eine enorme Offenheit und großes Engagement, um Studierende mit Beeinträchtigung zu unterstützen. Allerdings gibt es auch Herausforderungen. Zum Beispiel stoßen psychische Beeinträchtigungen oft noch auf Unverständnis. Das ist ein breites gesellschaftliches Problem.

Wie groß ist an einer Universität wie der LMU der Bedarf nach barrierefreien Lehr- und Prüfungsmöglichkeiten?

Prof. Zentel: Der Bedarf ist erheblich. Ein besonders dringendes Thema ist die psychische Gesundheit. Es gibt eine zunehmende Anzahl von Studierenden, die sich als psychisch belastet bezeichnen und dies auch mit Attesten nachweisen können. Die neuesten Studien zeigen, dass 16% der Studierenden deutschlandweit eine Beeinträchtigung haben; mehr als die Hälfte von ihnen, etwa 65%, leidet unter einer psychischen Erkrankung. Dies stellt eine enorme Herausforderung dar, sowohl organisatorisch als auch für die Prüfungsämter, um angemessene Rahmenbedingungen und Nachteilsausgleiche zu gewährleisten.

Als Beauftragter für die Belange Studierender mit Beeinträchtigung kommen Sie regelmäßig in Kontakt mit betroffenen Studierenden. Mit welchen Anliegen kommen sie in Ihre Beratung?

Prof. Zentel: In den meisten Fällen geht es um Beratung zum Nachteilsausgleich bei Prüfungen. Wir geben den Studierenden Hinweise, wie ein Attest aussehen muss, ob ein vorhandenes Attest ausreicht oder verbessert werden muss. Wir beraten auch im Vorfeld darüber, welche Maßnahme man realistischerweise fordern kann. In diesem Zusammenhang stehen wir in engem Austausch mit den Prüfungsämtern. Natürlich kümmern wir uns aber auch um Einzelfälle, beispielsweise wenn Anträge nicht gewährt werden. In solchen Fällen haken wir nach und versuchen, ein gemeinsames Verständnis zu erreichen. Selten kommt es aber auch vor, dass wir als Vermittler einspringen, wenn Studierende das Gefühl haben, dass sie aufgrund ihrer Behinderung schlecht behandelt wurden.

Welche Nachteilsausgleiche können Studierende an der LMU in Anspruch nehmen?

Prof. Zentel: Typischerweise werden spezielle Raumbedürfnisse oder Zeitverlängerungen für die Prüfungen berücksichtigt. In spezielleren Fällen müssen die Bedürfnisse im Einzelfall gemeinsam mit dem Prüfungsamt geprüft werden.

Welche Initiativen planen Sie in der Zukunft, um die Bereiche Inklusion und Barrierefreiheit an der LMU noch weiter zu stärken?

Prof. Zentel: Im kommenden Sommersemester werden wir ein Projekt, das es vor Corona schon gab, wieder aufnehmen – nämlich Weiterbildungsoptionen im Bereich der barrierefreien Lehre anzubieten. Im Wintersemester wollen wir uns an der Diversity-Initiative intensiv beteiligen. Unser Ziel dabei ist vor allem die Sensibilisierung. Wir hoffen das Bewusstsein für Barrierefreiheit zu schärfen und die Bekanntheit der Unterstützungsmöglichkeiten und des Nachteilsausgleichs zu steigern.

Wie stellen Sie sich eine ideale, barrierefreie Zukunft vor?

Prof. Zentel: Ich bin mir bewusst, dass es nie möglich sein wird, alle Barrieren komplett zu beseitigen. Wir sollten aber anstreben, dass jeder und jede Studierende weiß, dass es leicht zugängliche Unterstützung gibt. Ich wünsche mir, dass wir empathisch, freundlich, zugewandt und unterstützend aufeinander zugehen. Noch mehr als jetzt schon. Im besten Fall sollte es so sein, dass man keinen Nachteilsausgleich mehr braucht, weil die Rahmenbedingungen es bereits ermöglichen, dass sich jeder entfalten kann. Das wäre meine Vision. Möglichkeiten, das zu erreichen, sind zusätzliche personelle Ressourcen, verbesserte bauliche Maßnahmen oder Technik, wie KI. Ich denke, in diesem Mix wird sich die Zukunft der Barrierefreiheit gestalten.

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