Barrierefreiheit: „Zwischen der Welt der Sehenden und der Welt der Blinden“
19.02.2024
Menahil Tahir hat eine schwere Sehbeeinträchtigung und ist eine von 9000 LMU-Studierenden mit gesundheitlichen Einschränkungen. Zum Promovieren im Fach Ethnologie kam sie mit einem DAAD-Stipendium aus Pakistan nach München.
Das Elternhaus verlassen, die Heimat, die Sprache: Ein Studium im Ausland ist eine ganz besondere Herausforderung. Auch die DAAD-Stipendiatin Menahil Tahir erlebte an der LMU vieles zum ersten Mal. Schlechte Erfahrungen machte sie dabei keine. „Alles war von Anfang an großartig!“, sagt sie heute.
Als ihr Flieger im September 2021 in München landete, wurde sie von zwei Studierenden des Instituts für Ethnologie empfangen. Zusammen mit zwei weiteren Studierenden standen ihr ihre neuen Freunde über Wochen hinweg zur Seite, begleiteten sie auf dem Hin- und Rückweg zum Institut, kümmerten sich um die Aufenthaltserlaubnis und die Einwohnermeldung, die Eröffnung eines Kontos, den ganzen Papierkram.
Ohne diese handfeste Unterstützung wäre es für die 28-Jährige schwierig gewesen, sich vor Ort zurechtzufinden. Denn die Promotionsstudentin aus Pakistan sieht nur das Allerwenigste. Konturen und Kontraste nimmt sie wahr, jedoch nur bedingt. Mal beschreibt sie sich als „gesetzlich blind“, mal als „teilweise sehend“. „Ich befinde mich irgendwo zwischen der Welt der Sehenden und der Welt der Blinden“, erklärt sie.
„Ich habe nie ein Sternbild am Himmel gesehen“
Als Kind lernte sie zwar Lesen und Schreiben. Heute weiß sie allerdings, dass ihre Sehkraft schon damals nicht gut war: „Ich habe nie ein Sternbild am Himmel gesehen, nur den hellsten Stern.“ Im Jugendalter wurde es für sie immer schwieriger, bei Dunkelheit zu sehen. Innerhalb weniger Jahre verlor sie die Fähigkeit zu lesen. Geblieben ist ihr eine sehr genaue Erinnerung an Buchstaben und Zahlen, an Farben und Formen. Noch heute erkennt sie weißen Text vor schwarzem Grund. Aber jedes einzelne Zeichen muss mindestens halb so groß wie ein Handydisplay sein.
Ihre Karriere hat unter der Sehschwäche nicht gelitten. Hilfe kam von ihrer Familie und Freunden. Anfangs nahmen ihre beiden älteren Schwestern Audios von Lehrbüchern für sie auf, damit sie lernen konnte, wann immer sie wollte. Mit Freunden lernte Menahil in Kleingruppen später für das Gymnasium und die Uni. „In einer kollektivistischen Gesellschaft wie Pakistan ist es das soziale Netzwerk, das alles am Laufen hält“, erklärt sie.
„Man muss Neues lernen, um nicht zu stagnieren“
Nach einem Bachelor in Kommunikationswissenschaften und einem Master in Friedens- und Konfliktforschung arbeitete sie zwei Jahre lang an der Nationalen Universität für Wissenschaft und Technologie (NUST) in Islamabad – eine der führenden Universitäten Pakistans. Dann bewarb sie sich auf Empfehlung eines Professors, der mehrere Jahre in Deutschland verbracht hatte, spontan auf das Promotionsstipendium des DAAD. „Ich liebe meine Alma Mater, aber ich wollte eine Veränderung“, erzählt sie. „Denn man muss Neues lernen, um nicht zu stagnieren.“ Als sie die Zusage bekam, ergriff sie die Gelegenheit und stürzte sich in das „Abenteuer“, ohne viel nachzudenken. Zuversichtlich und voller Vertrauen, begegnete sie überall freundlichen und hilfsbereiten Menschen.
Längst hat sie sich inzwischen in München eingelebt. Einkäufe erledigt sie allerdings noch immer am liebsten mit einer Freundin, unbekannte Orte erschließt sie sich mit der Hilfe von anderen. Denn schon kleine Veränderungen des Umfelds sind eine Herausforderung: Schneefälle wie im Dezember 2023, die dazu führen, dass ihr Bus ein paar Meter versetzt an der Haltestelle hält. Oder die Tische, die im Frühling auf einmal auf den Gehwegen stehen. Wer wo sitzt, geht oder steht, versucht sie aus den Stimmen und Geräuschen herauszulesen. „Trotzdem laufe ich immer wieder in jemanden hinein!“
Unterstützung an der Universität
Barrierefreie Wege, Arbeitsplätze, Ruheraum und Hilfsmittel
Im Institut teilt sie sich einen Raum im Untergeschoss mit zwei Kommilitonen. Forschungsliteratur besorgt sie sich oft über die Beratungsstelle für Studierende mit Beeinträchtigung der LMU. Dort scannen Hilfskräfte die Bücher, die Menahil für ihre Forschung braucht, so ein, dass sie von einem Screenreader gelesen werden können. Weitere Services, die das Team der Zentralen Studienberatung für Studierende mit gesundheitlichen Einschränkungen anbietet, sind die Bereitstellung eines Ruheraums, die Einübung von neuen Wegen oder die Ausleihe eines Laptops mit Blinden- und Sehbehindertensoftware. Im Philologicum steht auch ein Arbeitsplatz für Studierende mit Sehbeeinträchtigung bereit.
Forschung zur Performativität der Berührung
Alle zwei Wochen besucht Menahil ein Oberseminar der Ethnologie. Wenn sie niemand dorthin begleitet, zählt sie auf dem Weg die Lichtquellen, um den Seminarraum richtig zu verorten. An einem Montag kurz vor Weihnachten stellt die Stipendiatin hier erstmals Teile ihrer Feldforschung vor. Für ihre Doktorarbeit interviewt sie Menschen aus Afghanistan, die nach der Machtübernahme der Taliban 2021 nach Pakistan geflohen sind. In ihrer Präsentation konzentriert sie sich auf die Frage, wie Feldforschung gelingt, wenn man Informationen nicht mit den Augen, sondern mit allen Sinnen aufnimmt und Berührung als Hilfsmittel nutzt.
Statt von möglichen Schwierigkeiten zu sprechen, betont sie das „kreative Potenzial“, das ihre Beeinträchtigung freisetzt. Denn immer wieder macht sie die Erfahrung, dank ihrer schwachen Sehkraft auch in der Feldforschung besonders leicht Zugang zu anderen Menschen zu finden. „Ich gebe zu, dass meine Behinderung mir hin und wieder geholfen hat, um zu meinen Gesprächspartnern eine gute Beziehung herzustellen“, erzählt sie lächelnd. Spielerisch setzt sie darum gern eine Klammer um das „dis“ von „disabled“, um zu betonen, dass in jedem Defizit auch eine Fähigkeit steckt. Ihr Vertrauen in das Leben hilft Menahil über schwierige Situationen hinweg. „I go with the flow!“, sagt sie gelassen.