Die Lautsprache verändert sich ständig. Viele Dialekte des Deutschen nähern sich immer mehr der Standardsprache an. Auch die Aussprache der Queen wandelt sich: Sie ist weniger aristokratisch geworden. Interview mit Sprachforscher Jonathan Harrington.
Jonathan Harrington, Professor für Phonetik und Sprachverarbeitung an der LMU und Direktor des gleichnamigen Instituts, erforscht das Thema Lautwandel aus unterschiedlichen Blickwinkeln: Dabei untersucht er auch die Bedingungen, unter denen Lautwandel zustande kommt, und nutzt in seiner Forschung die Möglichkeiten Künstlicher Intelligenz. Als einer von wenigen Wissenschaftlern weltweit konnte Jonathan Harrington bereits drei ERC Advanced Grants einwerben.
Sie haben exemplarisch anhand der Weihnachtsansprachen von Queen Elizabeth II. untersucht, wie sich ihre Aussprache über die Jahrzehnte verändert hat. Welche Veränderungen konnten Sie feststellen?
Jonathan Harrington: Die Aussprache der Königin hat sich zwischen 1950 und 1980 von der sogenannten „Upper Class“-Variante der Standardaussprache in England hin zur Mainstream-Standardaussprache verlagert. Das gilt insbesondere für ihre Vokale.
Wie kann man sich das Upper-Class-Englisch vorstellen?
Es ist eine altmodische, aristokratische Form der Aussprache, in der etwa die Aussprache von ‚o‘ in Wörtern wie „lost“ und „often“ mit der von ‚aw‘ in „law“ identisch ist. Die Mainstream-Standardaussprache ist dagegen die Betonung vieler BBC-Nachrichtensprecherinnen und -sprecher und typisch für die Mittelstandsschicht um 1980. Im Jahr 2000 veröffentlichten wir im Magazin Nature, dass die akustische Entfernung der Vokale der Queen von denen der BBC in den Achtzigerjahren kleiner war als noch in den Fünfzigern. Der Laut „u“ in „moon” oder „blue” wurde mit einer Zungenposition weiter hinten im Mundraum produziert – weshalb sich das englische „do” und das deutsche „du” damals ähnlicher waren als 1980. Zudem war der letzte Vokal „-y“ in „city” oder „pretty” früher kürzer und dem „i“ in „Mitte“ im Standarddeutschen ähnlicher, während er heute länger und dem „ie” in „Miete” ähnlicher ist.
Warum sich die Lautsprache wandelt
Was sind die Ursachen für solche Lautwandelprozesse?
Einerseits der Kontakt miteinander. In England führte der soziale Wandel dazu, dass Menschen aus dem Mittelstand und mitunter sogar aus der Arbeiterklasse gehobenere berufliche Positionen einnahmen – und dadurch die Königin eher mit ihnen in Kontakt kam als früher. Zudem spielt Imitation eine wichtige Rolle. Experimente in Phonetik und Sprachverarbeitung zeigen, dass wir uns beim Unterhalten gegenseitig nachahmen. Die Änderungen in der Aussprache der Königin sind allerdings minimal und nicht von einem Jahr auf das andere wahrnehmbar. Daher konnte sie sie nicht beabsichtigt haben, etwa um der Aussprache ihres Volkes näherzukommen.
Der Lautwandel in Deutschland in den letzten Jahrzehnten kommt eher infolge von Dialektabbau zustande. Insbesondere stellt man fest, dass Standarddeutsch Dialekte zunehmend beeinflusst.
Jonathan Harrington
Gibt es ähnliche Entwicklungen in anderen Sprachen?
Mobilität und Kontakt zwischen Menschen machen Lautwandel wahrscheinlicher. Während es in England in den Sechziger- und Siebzigerjahren eine größere Mobilität zwischen Klassenschichten gab, kommt der Lautwandel in Deutschland in den letzten Jahrzehnten eher infolge von Dialektabbau zustande. Insbesondere stellt man fest, dass Standarddeutsch – wie es unter anderem und exemplarisch auch von Sprecherinnen und Sprechern des öffentlichen Rundfunks verwendet wird – Dialekte zunehmend beeinflusst. So sprachen Grundschulkinder nahe Altötting, die wir über vier Jahre jährlich aufnahmen, zwar immer noch eindeutig westmittelbairisch. Aber einige Vokale zeigten zunehmend Merkmale von Standarddeutsch.
Neue Dialekte entstehen auch, wenn Menschen isoliert werden. Das erklärt die Entwicklung neuer Dialekte in Zeiten, in denen etwa Amerika, Australien und Neuseeland kolonisiert wurden. Australisches Englisch ist stark von Cockney, das bis heute in London gesprochen wird, und teilweise von irischem Englisch geprägt, weil diese Gruppen die Mehrheit der Strafgefangenen im 18. Jahrhundert ausmachten. Und sogenannte „Winterers”, Forscherinnen und Forscher, deren Aussprache wir vor und während eines langen Winters in Isolation in der Antarktis aufnahmen, hatten sich nach drei Monaten phonetisch ein klein wenig angenähert.
Was untersuchen Sie in Ihrem neuen ERC-Projekt „SoundAct”?
Wir wollen feststellen, weshalb Lautwandel in einer Sprache – oder einem Dialekt – stattfindet, nicht aber in einer anderen. Warum sind im neuseeländischen Englisch „beer“ und „bear“ zu sogenannten Homophonen, d.h. Wörtern mit gleicher Aussprache, geworden, im australischen Englisch aber nicht? Ob es tatsächlich zu Lautwandel kommt, hängt von einem willkürlichen stochastischen Zusammenspiel von mindestens drei Hauptfaktoren ab. Neben kognitiven Faktoren, die wir unter anderem mit Computer-Modellen analysieren, sowie sozialen Aspekten sind das phonetische: Dazu analysieren wir Sprachlaute, die für Lautwandel anfällig sind. Ein Beispiel sind die Umlaute im Deutschen. „Mächtig“ entstand ursprünglich aus dem althochdeutschen „mahtîg“. Über die Zeit hat sich die offenere Mundposition in /a/ der geschlosseneren Mundposition von nachfolgendem /i/ in „mahtîg“ angepasst, wodurch sich im Wortstamm eine Mundposition dazwischen etablierte.
Doch um den Ursprung des Lautwandels zu verstehen, müssten uns diese Faktoren vor und kurz nach Beginn des Lautwandels bekannt sein. Die Herausforderung dabei ist, dass Lautwandel in der Anfangsphase eben nicht wahrnehmbar ist. Dieses Problem umgehen wir, indem wir zwei miteinander verwandte Dialekte analysieren, die zufälligerweise einen ähnlichen Lautwandel aufweisen, der in der einen Sprache schon abgeschlossen ist, in der anderen aber nicht. Den Lautwandel hin zum deutschen Umlaut zum Beispiel können wir selbst nicht mehr untersuchen, da er abgeschlossen ist. Einen vergleichbaren Laut, der sich noch im Wandel befindet, gibt es aber in süditalienischen Dialekten um Kalabrien.
Mit einer Kombination von Imitationsexperimenten und Computer-Modellen versuchen wir, den Dialekt, in dem Lautwandel noch nicht oder kaum stattgefunden hat, in einen Dialekt, in dem sich Lautwandel schon vollzogen hat, umzuwandeln – und herauszufinden, welche Faktoren ihn begünstigen. Um eine allgemeine Lösung zu finden, werden Dialektpaare aus ganz unterschiedlichen Sprachgruppen untersucht: neben italoromanischen Dialekten z.B. auch nordgriechische und japanische Dialekte und Bantu-Dialekte, die in Kenia vorkommen.
Zu welchen Missverständnissen kann es führen, wenn sich Aussprache ändert?
Ein Beispiel ist das neuseeländische Englisch, in dem es in den letzten 70 Jahren eine sogenannte Vokal-Kettenverschiebung gab: „had“ klingt für Fremde wie „head“, „head“ aber wie „hid“ und „bid“ wie „bud“. Zudem wird zwischen „hair“ und „here“ oder „chair“ und „cheer“ in der Aussprache nicht mehr differenziert. Deshalb klingt für die meisten Fremden – und sogar Australier – der Name der nationalen Fluglinie nicht wie „Air New Zealand“, sondern wie „Ear New Zealand“.
Aber zum Glück lassen sich Bedeutungsunterschiede ja oft aus dem Kontext erkennen. Nur so kann man heute noch die Wörter „not“ und „knot“ im britischen Englisch unterscheiden. Letzteres wurde vor 400 Jahren, also zu Shakespeares Zeiten, noch mit „K“ ausgesprochen, wie „Knoten“ im Deutschen.
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