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Das Nicht-Gelesene fassbar machen

07.05.2024

Julian Schröter ist seit vergangenem Jahr Professor an der LMU. Er erforscht Literatur digital.

„Ich begeistere mich für Literatur und interessiere mich für Mathematik und Statistik. Das Schöne ist, dass man mit diesen unterschiedlichen Interessen längst nicht mehr in getrennten Welten leben muss. Mit den Digital Humanities und, neuerdings, mit den Computational Literary Studies gibt es eine wunderbare Community, in der sich Literaturwissenschaft, computergestütztes und empirisches Arbeiten verbinden lassen. Und in diesem Feld möchte ich dazu beitragen, neue und zugleich klassisch philologische Perspektiven auf Literatur und Literaturgeschichte zu eröffnen und zu verbinden.“

Schon in der Schule hatte Professor Julian Schröter sowohl eine Neigung zur Literatur als auch zur Technik – und belegte als Leistungskurse Deutsch und Mathe. An der Uni Würzburg studierte er Philosophie und deutsche Literaturgeschichte, promovierte ebendort in deutscher Literatur und Literaturtheorie und begann eine Habilitation zum Thema „Ästhetische und soziale Funktionen der Erzählungen und Novellen im 19. Jahrhundert. Literaturgeschichte als Mixed Methods Forschung“. Nach einem Walter-Benjamin-Fellowship der Deutschen Forschungsgemeinschaft an den Universitäten Antwerpen und Illinois Urbana-Champaign sowie einer Vertretungsprofessur für Digital Humanities an der Universität Trier folgte er 2023 dem Ruf an die LMU.

Digitale Verfahren unterstützten seine Forschung dabei auf zweierlei Art. Zunächst machten sie große Textmengen überhaupt verfügbar. „In verschiedenen Projekten digitalisiere ich Literatur und erschließe Metadaten zu ihrem medien- oder materialgeschichtlichen Kontext. Diese klassische philologische Arbeit war bislang sehr aufwendig.“ Die quantitative, computergestützte Literaturwissenschaft erlaubt einen sehr breiten Blick auf Literatur, der auch gesellschaftliche, ökonomische oder technologische Umstände einer Epoche berücksichtigen kann – wie etwa Veränderungen der Drucktechniken.

Das Porträt zeigt Professor Julian Schröter in grauem Jacket von dem Philologicum.

Professor Julian Schröter

© LMU / LC Productions

Große Textmengen bewältigen

Eine andere Stärke der neuen Technologien sei es, große Textkorpora auch zu lesen, sie auf immer komplexere ästhetische Phänomene zu durchsuchen und per statistischen Verfahren einen Überblick über Verteilungen zu geben. „Spätestens ab Ende des 19. Jahrhunderts gibt es einen noch immer nicht richtig vermessenen und sehr großen Markt mit einer Menge an Texten, die der menschliche Leser schlicht nicht bewältigen kann – mit der Folge, dass immer wieder die gleichen Standardwerke gelesen werden.“ Moderne Verfahren böten einen groben Überblick über das viele Nicht-Gelesene und machten Texte besser vergleichbar. „So lassen sich der Hochkanon und sein Verhältnis zur Massenkultur besser beleuchten."

Beim Verfahren der „perspektivischen Modellierung” wird Künstliche Intelligenz darin trainiert, Texte literarischer Gattungen des 19. Jahrhunderts zuzuordnen. Die Modelle, die dabei entstehen, lassen sich in Simulationen zeitlich verschieben – etwa von der Zeit um 1800 auf die um 1900. „Literaturgeschichte lässt sich wie eine Langzeitstudie skizzieren, mit den großen Horizontlinien, die nie zuvor von Philologen in den Blick genommen wurden.“

So könne man den Wandel in der Semantik oder im Umgang mit Gattungsbegriffen beleuchten – und etwa erörtern, ob festgelegte Gattungsschemata Auswirkungen auf das Verfassen von Texten hatten. „Und: Unterscheidet sich ein Roman, abgesehen von der Länge, wirklich von einer Erzählung und von einer Novelle – oder sind viele etablierte Gattungsunterscheidungen am Ende nur ideologische Konstrukte?“

Den vergessenen Kanon simulieren

In einem aktuellen Projekt will Schröter mit KI das Erkennen von Spannungsempfinden in Texten operationalisieren. „Spannung ist ein psychologisches Phänomen, das sich nur indirekt in Texten niederschlägt“, so Schröter. „Neueste Sprachmodelle aber können sie über textuelle Indikatoren erfassen – Gefahrensituationen etwa oder die Angst der Protagonisten.“ Damit ergebe sich ein multiperspektivischer Blick auf das Phänomen der Spannung – und das funktioniere auch bei der Erkennung von so unterschiedlichen Aspekten wie Landschaftstypen, Konfliktsituationen oder Handlungsorten.

Quantitative Analyse und literaturwissenschaftlich genaues Lesen lassen sich, auch in der Lehre, wunderbar verbinden: Ein genauer Blick auf die Funktionsweise und die Ergebnisse computergestützter Verfahren erlaubt es, etablierte philologische Termini und erzählanalytische Begriffe, wie beispielsweise die der Spannung, des Handlungsverlaufs oder der Figurenkonstellation, besser zu verstehen. Close und Distant Reading können sich daher gegenseitig befruchten.

„Es gibt“, so Schröter, „in der Literaturwissenschaft unterschiedliche Auffassungen davon, wann sich der Cliffhanger entwickelt hat. Manche sagen, mit den Märchen aus 1001 Nacht, andere sagen, mit der Fernsehserie des 20. Jahrhunderts. Quantitative Verfahren sind sehr gut darin, solche Fragen in der Breite des populären Massenmarkts zu beantworten. Im Lauf des 19. Jahrhunderts nimmt das serielle Publizieren, also die Auftrennung von Romanen und Erzählprosa in viele Einzelfolgen, stark zu. Das waren beste Voraussetzungen für die Evolution des Cliffhangers. Man kann aber zeigen, dass es ziemlich lange dauert, bis der Cliffhanger im Lauf des 19. Jahrhunderts flächendeckend benutzt wird. Auch für die große Frage, wie kontinuierlich oder disruptiv kultureller Wandel stattgefunden hat, können computergestützte Analysetechniken von großem Wert sein.

Mathematische Modelle helfen zudem dabei, die groben Größenordnungen und Prinzipien bereits verlorener Textbestände einer Epoche abzuschätzen. „Große Sprachmodelle könnten in Zukunft sogar, im Sinne von Simulationen, Teile der historischen Wirklichkeit hypothetisch so rekonstruieren, dass man sich besser vorstellen kann, nach welchen Regeln literarische und andere Werke tradiert oder eben nicht tradiert, sondern dem Vergessen anheimgegeben oder sogar zerstört wurden.“

Neben der Analyse historischer Texte mit KI interessiert Schröter auch Literatur, die von KI produziert wurde, „insbesondere im Hinblick auf die Interaktion zwischen Menschen und Sprachmodellen“; im letzten Sommersemester bot er ein Seminar zu ChatGPT in den Literaturwissenschaften an. Insbesondere beschäftigt er sich gegenwärtig zusammen mit einigen Kollegen aus dem Feld der Digital Humanities mit der Frage, ob und wie Sprachmodelle textuelle Bedeutung schaffen oder vielleicht nur vorspielen.

Kodierung wie in den Musikwissenschaften

Mit anderen Fächern eröffneten sich vielfältige Überschneidungspunkte. „Zum Beispiel kodiert die Musikwissenschaft ihre Werke im gleichen Format – XML – wie wir unsere Texte“, so der Literaturwissenschaftler. „Durch gemeinsame Datenstandards können wir etwa kulturellen Wandel breiter und weniger isoliert betrachten.“ Gerade über den für die Geisteswissenschaften wichtigen Bereich der digitalen Editionen wird eine enge Zusammenarbeit zwischen Philologie, Musikwissenschaft und Kunstgeschichte immer wichtiger werden.

Die LMU mit dem CIS als „legendären Zentrum für Computerlinguistik” und der IT-Gruppe Geisteswissenschaften biete „optimale Voraussetzungen“ für seine Forschung. Dabei beobachtet Schröter eine Ausdifferenzierung der „Digital Humanities”. „Digitale Archäologie, Geschichts- oder Musikwissenschaften werden stärker als selbstständige Disziplinen gesehen, mit eigenen Konferenzen, Journals und Communitys. Es ist großartig, dass an der LMU ein großes Interesse an inter- und transdisziplinärer Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen geistes- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen besteht." Zahlreiche Kooperationen sind bereits auf dem Weg. Digitale Methoden sind daher eine von vielen Möglichkeiten, die verschiedenen Disziplinen zusammenzubringen.

„Natürlich gibt es Vorbehalte“, erklärt Schröter. „Das ist auch nicht weiter verwunderlich, weil empirische Methoden schon immer im Verdacht standen, vom Lesen und von der – wie auch immer gemeinten – ‚eigentlichen‘ literaturwissenschaftlichen Arbeit weit entfernt zu liegen. Aber es geht ja gar nicht darum, bestimmte Methoden an die Stelle anderer Methoden zu setzen. Jeder wird immer mit den Techniken und Methoden arbeiten, die ihm oder ihr liegen."

„Ich glaube“, sagt Schröter, „dass die Zukunft der Literaturwissenschaft darin besteht, dass Menschen mit unterschiedlichen Kompetenzen zusammenarbeiten. Mir macht es großen Spaß, mich mit neuen Technologien vertraut zu machen und deren mathematische Grundlagen zu verstehen. Forschende mit Affinitäten zu neuen Technologien und empirischen Methoden können dabei Verbindungen zwischen den Fächern herstellen."

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