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Der Dolmetscher: Oliver Jahraus über „kafkaesk“

12.07.2024

LMU-Forscherinnen und Forscher erklären wissenschaftliche Begriffe allgemeinverständlich.

Es gibt wissenschaftliche Begriffe, die es in die Alltagswelt geschafft haben. LMU-Wissenschaftler erklären an dieser Stelle solche Ausdrücke – nicht nur mit einer reinen Definition, sondern auch mit einer kurzen Geschichte ihrer Popularität.

Der Dolmetscher: Oliver Jahraus über „kafkaesk“
© Lisa Stanzel / LMU
Porträt von Professor Doktor Oliver Jahraus

Prof. Dr. Oliver Jahraus ist Vizepräsident der LMU für den Bereich Studium und hat mehrere Bücher zum Werk Franz Kafkas veröffentlicht. | © LMU

„Dass ein Autor mit seinem Namen ein Adjektiv prägt, ist ungewöhnlich. Damit es dazu kommen kann, braucht es wohl erstens ein extrem bekanntes Werk. Dazu zählen Kafkas Romane, Erzählungen und sogar seine Tagebücher in besonderer Weise. Aber es braucht zweitens eine spezifische und gleichzeitig eingängige Vorstellung von diesem Werk. Sie kann auf einer starken Abstraktion des Erzählten beruhen, aber dennoch zu sehr vereinfachten Urteilen führen, zu Sätzen wie: ,Kafka ist düster‘, ,Kafka ist sinnlos‘, ,Kafka ist absurd‘. ,Kafka zeigt, wie wir angesichts von Mächten, die wir nicht begreifen, einer Bürokratie etwa, immer wieder scheitern‘.

Und dann kommt eben ein solches Adjektiv wie ,kafkaesk‘ zustande, das sich längst vom direkten Bezug auf Kafka gelöst hat und heute in allen möglichen Zusammenhängen auftaucht. Kafkaesk – das benennt eine Erfahrung des Unverständlichen und deswegen Bedrohlichen, des Unlogischen und deswegen Irrationalen, einer Macht, der man unterliegt, die man aber nicht durchschaut und die man vielleicht nicht einmal wahrnehmen kann.

Ist Kafka kafkaesk?

Aber da müssen wir aufpassen. Das Adjektiv kafkaesk ist ja nicht das Adjektiv zu Kafka, sondern es ist das Adjektiv zum – und das klingt jetzt ein bisschen tautologisch – zum Kafkaesken selbst, also zu dieser Vorstellung, die wir uns von ihm machen. Kafka leistet einer solchen Parallelisierung einigen Vorschub, doch er selbst, sein Leben und sein Werk sind keineswegs kafkaesk. Der kafkaeske Kafka ist ein Mythos. Kafka war kein Mensch, der an der Welt verzweifelte, sie als dunkel und sinnlos empfand. Er war nicht sozial isoliert, im Gegenteil. Die Biografie kann einiges zeigen, aber sie ist nicht der interpretatorische Schlüssel zum Werk.

Franz Kafka steht vor seinem Elternhaus in Prag.

Franz Kafka vor seinem Elternhaus in Prag

Kafka war Jurist und Beamter. Seine literarischen Texte schrieb er in seiner Freizeit. | © IMAGO / agefotostock / Universal Images Group Sovfoto / UIG

Und wenn Kafka Fährten auslegt und etwa seine Protagonisten in Der Proceß und Das Schloß ,Josef K.‘ beziehungsweise schlicht ,K.‘ nennt, um nur den simpelsten Trick zu nennen, dürfen wir darauf nicht reinfallen. Die berühmteste Falle, die er aufbaut, ist die Frage nach seinem Vater. In seinem Werk tauchen immer wieder übermächtige Vaterfiguren auf, die ihre Söhne in den Tod und in den Selbstmord treiben. Und wenn er den Brief an den Vater schreibt, einen echten Brief im Übrigen, vom dem er eigentlich wollte, dass sein Vater ihn bekommt, so ist auch der durchzogen von Überhöhungen.

Kafkas Texte provozieren die Lesenden zu interpretieren, und verweigern ihnen gleichzeitig ein eindeutiges Sinnangebot. Gerade dadurch macht er eine – kafkaeske – Welt transparent. Kafka hat dieses Spiel auf die Spitze getrieben. Gerade das macht ihn so modern.“

Protokoll: math

Prof. Dr. Oliver Jahraus ist Inhaber des Lehrstuhls für Neuere deutsche Literatur und Medien und Vizepräsident der für den Bereich Studium der LMU. Er hat mehrere Bücher zum Werk Franz Kafkas veröffentlicht, zuletzt Franz Kafka. 100 Seiten.

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