Um seine These zu beweisen, trinkt Max von Pettenkofer ein Glas voll mit Cholerabakterien. Er liegt falsch, überlebt aber den sonderbaren „Cocktail“. Pettenkofers Hygieneforschung verändert nicht nur die Medizingeschichte.
„Wir schicken von Zeit zu Zeit (leider nur) unsere Leibwäsche an unserer statt ins Bad.“ Das Zitat Pettenkofers beschreibt die damalige Zeit: Die Bedeutung von Hygiene ist in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Wissenschaft noch nicht angekommen, geschweige denn in den Köpfen der Menschen.
München ist eine der dreckigsten Städte Deutschlands, es gleicht einer öffentlichen Latrine. Abfälle und Fäkalien landen in Abortgruben oder auf der Straße, es stinkt zum Himmel. Kein Wunder, dass die Menschen an Typhus und Cholera leiden.
1854 gipfelt dieser Zustand in einer großen Cholera-Epidemie, die mit der bayerischen Königin Therese auch ein prominentes Opfer fordert. Die Stadt bittet den damals 35-jährigen LMU-Professor Pettenkofer um Hilfe. Dieser beschließt, etwas zu ändern.
Erfolgloser Komödiant oder Wissenschaftler von Weltruhm?
Vor genau 200 Jahren begann die Geschichte des kleinen Max. In ärmlichen Verhältnissen wuchs er auf dem elterlichen Bauernhof auf. Sein Onkel, ein Hofapotheker, ermöglichte ihm den Zugang zu Bildung. Der junge Schützling war zunächst genauso fleißig wie begabt. Mit 20 Jahren jedoch „rebellierte“ Pettenkofer. Er hatte keine Lust auf Pharmazie. Stattdessen wollte das Multitalent Schauspieler werden – was er auch ein Jahr war.
Dass er zurückkam in die Wissenschaft, ist seiner zukünftigen Frau zu verdanken, die ihn nur heiraten wollte, wenn er wieder ein „ordentlicher Mensch“ wird. Und weil er sie liebte – 123 schwärmerische Liebesbriefe in der Bayerischen Staatsbibliothek zeugen davon – kam er zurück. Von da an ging es schnell: Max von Pettenkofer wurde mit nur 29 Jahren zum Professor für chemische Medizin ernannt und später zum weltweit ersten Professor für Hygiene an der LMU. Wenige Jahre später wurde er sogar Rektor der Universität.
Doch zunächst zurück nach München und dem Kampf gegen die Cholera. Das Problem Münchens ist seine fehlende antike Historie. Während Städte mit römischer Prägung wenigstens ansatzweise über Wasserleitungen verfügen, gibt es in München um 1850 nur vereinzelt Abwasserkanäle, die beliebig verteilt waren. Pettenkofer untersucht daher zunächst die Lebensumstände der Menschen und findet auf die Frage nach den Ursachen der Seuche schnell eine Antwort: der Dreck. „Pettenkofer steht für die Erkenntnis, dass Umweltfaktoren und Verlauf von Infektionskrankheiten einen entscheidenden Einfluss auf Ausbruch und Verlauf von Krankheiten haben“, sagt Professor Sebastian Suerbaum, der gemeinsam mit Professor Oliver T. Keppler Vorstand des Pettenkofer-Instituts und damit quasi ein Nachfolger des berühmten Wissenschaftlers ist.
Pettenkofer erkennt aber nicht nur die Bedeutung der Hygiene, sondern auch den wirtschaftlichen Aspekt der Gesundheitstechnik. Er plant, die gesamte Stadt zu untertunneln. Das Abwasser soll aus der Stadt geleitet und eine zentrale Trinkwasserversorgung eingerichtet werden. Ein gigantisches, milliardenschweres Bauprojekt. Klar, dass das Vorhaben nicht bei allen Bürgern auf Gegenliebe stößt, und so bekommt Pettenkofer von den Münchnern Spitznamen wie „Scheißhäuslapostl“ oder „Wanzendoktor“. Pettenkofer wird aber nicht müde und besucht Gegner des Projektes auch persönlich, um sie zu überzeugen. Mit Erfolg, denn dank seiner Leistungen gilt München danach als eine der saubersten Städte auf dem Kontinent. Die auf Initiative Pettenkofers gebaute Kanalisation besteht bis heute – vielleicht auch deshalb, weil das Multitalent Pettenkofer eigens dafür einen besseren Zement entwickelt hat.
Seine Planungen sind sogar so weitsichtig, dass er bei der Konstruktion der Kanalsysteme bereits Kläranlagen mit einrechnet, die es zu der Zeit noch nicht gibt und die erst Jahrzehnte später kommen werden. Seine praktischen Leistungen, aber vor allem auch seine Pionierarbeit auf dem Gebiet der Hygieneforschung wecken natürlich auch anderswo Begehrlichkeiten. Er hat attraktive Angebote aus dem Ausland, aber er bleibt München treu – auch wegen seines nächsten Projekts.
Der Pionier gründet das weltweit erste Institut für Hygiene
In einer Privataudienz bei König Ludwig II. kann Pettenkofer seine Vorstellungen von seinem neuen Projekt vortragen: dem weltweit ersten Institut für Hygiene. Der König muss begeistert gewesen sein, denn er bewilligt nicht nur das Projekt, er erhebt Pettenkofer gleich in den erblichen Adelsstand. 1879 ist es dann soweit: Pettenkofer wird erster Direktor des Instituts. Er arbeitet vor allem als experimenteller Feldforscher, verfasst 20 Monographien und 200 wissenschaftliche Originalartikel.
Pettenkofer wird zum Pionier der Hygiene, das Institut zu einer Keimzelle der Hygieneforschung. Denn viele Forscher und Studenten aus der ganzen Welt kommen an das Institut, um zu lernen. Einige von ihnen übernehmen später Lehrstühle für Hygiene an internationalen Einrichtungen und lehren das neue Fach Hygiene. Einige Institute werden sogar dem Münchner Vorbild nachempfunden – wie zum Beispiel das in Rom, Chicago, Philadelphia oder Berlin.
„Wer sich intensiv mit Pettenkofer befasst, sieht schnell die Bezüge zwischen den Themen gestern und heute, und die Modernität seiner wissenschaftlichen Ansätze“, sagt Suerbaum. „Pettenkofers Dogma, dass Umweltfaktoren eine zentrale Rolle im Infektionsgeschehen spielen, ist unverändert aktuell.“ Das von Pettenkofer gegründete Institut, das später nach ihm benannt wird, genießt auch heute noch internationale Anerkennung. „Auch 200 Jahre nach seiner Geburt arbeiten wir am Max von Pettenkofer-Institut daran, Infektionen zu verstehen, zu diagnostizieren, zu behandeln und nicht zuletzt zu verhindern“, sagt Keppler.
Einer der berühmtesten Streits der Wissenschaftsgeschichte
Gegen Ende seiner wissenschaftlichen Laufbahn gerät Pettenkofer mehr und mehr ins Abseits, vor allem, weil er sich hartnäckig weigert, das von seinem Konkurrenten Robert Koch entdeckte auslösende Bakterium Vibrio cholerae als einzige Ursache der Cholera anzuerkennen, und die Bedeutung anderer Faktoren wie der Boden- und Grundwasserbeschaffenheit in den Mittelpunkt seiner Arbeiten stellt.
Wenige Jahre nach der Entdeckung des Erregers trinkt er sogar den erwähnten „Cocktail“ – was ihm einen heftigen Durchfall einbringt und vermutlich nur deshalb keine schwerwiegendere Schäden verursacht, weil er als Kind bereits erkrankt war. Am Ende seines Lebens nimmt Pettenkofer bei sich selbst ein Nachlassen der Gedächtnisleistung war, was er nicht erträgt. Und so erschießt er sich im Alter von 82 Jahren. Pettenkofer hinterlässt ein gewaltiges wissenschaftliches Erbe, das bis heute in der Wissenschaft und dem alltäglichen Leben nachwirkt.