Deutsch-jüdische Geschichte: Packende Vielfalt im Digitalformat
12.09.2022
Julia Treindl zeigt Studierenden, wie spannend die Arbeit mit der Vergangenheit sein kann. Für ihr Projektseminar wurde sie mit dem LMU-Lehrinnovationspreis ausgezeichnet.
12.09.2022
Julia Treindl zeigt Studierenden, wie spannend die Arbeit mit der Vergangenheit sein kann. Für ihr Projektseminar wurde sie mit dem LMU-Lehrinnovationspreis ausgezeichnet.
Verfolgung, Shoah, Holocaust: Darauf wird die Geschichte des jüdischen Lebens in Deutschland häufig reduziert. Ein Projekt an der Fakultät für Geschichts- und Kunstwissenschaften will das ändern. Im Seminar „Common Places, Common Times“ entwickeln Studierende seit dem Sommersemester 2021 eine interaktive, digitale Karte zur deutsch-jüdischen Geschichte. Zielgruppe sind Schüler und Schülerinnen ab der neunten Klasse, die anhand der Karte auf spannende Weise die Vielfältigkeit jüdischen Lebens in der deutschen Geschichte und seine Spuren in der Gegenwart kennenlernen:
Anklicken kann man dort zum Beispiel die Biografie Kurt Landauers, der vor und nach der Nazizeit Präsident des FC Bayern war. Da ist Nanette Kaulla, die „schöne Nanni“, die König Ludwig I. so sehr faszinierte, dass er sie in seiner Schönheitengalerie in Schloss Nymphenburg verewigte. Oder die Großmutter Nanettes, Madame Kaulla aus Hechingen, die sich in der Frühen Neuzeit als erfolgreiche Unternehmerin behauptete.
„Legt man die Biografien nebeneinander, sieht man, wie unterschiedlich die Menschen waren und gelebt haben“, sagt Julia Treindl, die das Seminar leitet und die Karte konzipiert hat. „Die öffentlichen Diskurse über Jüdinnen, Juden und das Judentum sind häufig sehr ritualisiert und eindimensional“, erklärt Treindl. „Auch viele Lehrkräfte nehmen es als ganz selbstverständlich hin, den Fokus fast ausschließlich auf den Holocaust zu legen. Ich möchte das nicht ausblenden. Aber mein Ziel ist, zu zeigen, dass sich Biografien nicht auf das Erleben von Verfolgung reduzieren lassen.“
Gerade wurde die Studienrätin für ihr besonderes Engagement mit dem LMU-Lehrinnovationspreis in Höhe von 10 000 Euro ausgezeichnet. Vor drei Jahren hat das Bayerische Kultusministerium die junge Gymnasiallehrerin, die am Gymnasium Grünwald Geschichte, Latein und Sozialkunde unterrichtete, an die Fakultät für Geschichts- und Kunstwissenschaften beordert. Die Fakultät war ihr bereits vertraut, die Freude, an die LMU zurückzukehren, groß: Hier hat sie ihre Magisterarbeit im Bereich der antiken Jüdischen Geschichte geschrieben.
Jetzt besteht ihre Aufgabe darin, den Praxisbezug in der Lehrkräfteausbildung zu verstärken. Treindl bietet darüber hinaus Fortbildungen und Bildungsprojekte für Lehrerinnen und Lehrer an, die bereits im Schulalltag arbeiten. So möchte sie den Wissenstransfer zwischen Hochschule und Praxis beschleunigen. Denn während es Jahrzehnte dauern kann, bis ein neues Schulbuch entsteht, können wissenschaftliche Erkenntnisse in einem digitalen Projekt wie ihrem zeitnah den Pädagoginnen und Pädagogen vermittelt werden.
Die Idee zur interaktiven Karte entstand, weil Treindl einen Beitrag zum Erinnerungsjahr 2021, in dem 1700 Jahren jüdischen Lebens in Deutschland gedacht wurde, leisten wollte. Also studierte sie mit ihren Studierenden Websites, die Geschichtswissen vermitteln. Sie las Schulbücher. Und sie gewann den Webdesigner Manuel Portela für eine Zusammenarbeit. Portela hatte bereits an dem Geschichtomat-Portal zur Geschichte der deutschen Juden in Hamburg mitgewirkt. Fördergelder erhielt sie vom Verein 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland e.V. sowie vom Bundesministerium des Inneren, für Bau und Heimat.
Auch viele Lehrkräfte nehmen es als ganz selbstverständlich hin, den Fokus fast ausschließlich auf den Holocaust zu legen. Ich möchte das nicht ausblenden. Aber mein Ziel ist, zu zeigen, dass sich Biografien nicht auf das Erleben von Verfolgung reduzieren lassen.Julia Treindl
Bei der Entwicklung der digitalen Karten ließ sich Treindl auch von ihrer Praxiserfahrung leiten. Damit die Karte problemlos in den Unterricht eingebaut werden kann, ist jeder Eintrag wie eine Unterrichtsstunde aufgebaut. Die Schüler und Schülerinnen brauchen etwa 45 Minuten, um ein Thema zu bearbeiten. Sie lesen einen Text, hören ein Interview, betrachten Bilder. Anschließend wenden sie das Gelernte in einem Quiz an und diskutieren über aktuelle Fragestellungen: Was würde die Öffentlichkeit heute von einer Schönheitsgalerie halten? Welche Faktoren bestimmen über den unternehmerischen Erfolg von Frauen? Ist es nachvollziehbar, dass Kurt Landauer, der die nationalsozialistische Verfolgung am eigenen Leib erlebte und dessen Geschwister in der Shoah ermordet wurden, nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem Exil nach München zurückkehrte?
Treindl hat Menschen und Ereignisse ausgewählt, die junge Leute packen können. Lernen, weiß sie, findet am besten über unterschiedliche Kanäle statt: „Es geht um Abwechslung“, erklärt sie. „Darum setzen wir auditive und visuelle Impulse.“ Den Input liefern die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Projektseminare. Viele von ihnen studieren auf Lehramt, aber auch Bachelor- und Masterstudierende mit Hauptfach Geschichte sind darunter. Im Projektseminar entwickeln sie neue Skills: Die komplexen wissenschaftlichen Texte müssen eingedampft und didaktisch aufbereitet werden. Die Studierenden führen Interviews mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, darunter auch junge Forschende, die noch in der Doktorarbeit stecken. Sie schreiben kurze, ansprechende Texte, schneiden Audiomaterial, entwickeln Quizfragen und Diskussionspunkte. Alles ungewohnte, anspruchsvolle Aufgaben, die, wie Treindl bestätigt, den Studierenden viel Freude machen. „Dass unsere Ergebnisse hinterher allen zur Verfügung stehen, gibt der eigenen Arbeit Sinn!“
Um das Projekt unter Lehrkräften bekannt zu machen, arbeitet sie eng mit der Akademie für Lehrerfortbildung in Dillingen zusammen. Das Feedback, das sie bisher aus der Praxis erhalten hat, war sehr positiv. Der LMU-Lehrinnovationspreis kam für sie dennoch völlig überraschend. „Ich habe mich total gefreut! Es ist ein großes Privileg, dass meine Arbeit wahrgenommen wird.“
Acht Einträge können bisher angeklickt werden, sechs weitere werden gerade überarbeitet und anschließend online gestellt. Auch danach darf die Karte durchaus wachsen. Irgendwann könnte sie sehr dicht gefüllt sein. Denn immer wieder stößt Treindl auf Themen, die sie faszinieren. Wer hätte zum Beispiel geahnt, dass es im Berlin der Weimarer Zeit kleine intellektuelle Zirkel gab, in denen Juden und Jüdinnen und Muslime miteinander wandern gingen? Ein Klick könnte künftig verraten, worüber auf diesen Wanderungen diskutiert wurde…