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Die vielen Gesichter der Depression

22.09.2023

Warum so viele Jugendliche psychisch erkranken und wie sich gegensteuern ließe: Interview mit LMU-Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin Ellen Greimel.

Ein Mädchengesicht gespiegelt in einem zerbrochenen Spiegel

Psychische Erkrankungen im Jugendalter

sind bei Mädchen und Jungen ungleich verteilt. Bei beiden ist die Anzahl der Erkrankten in den vergangenen Jahren gestiegen. | © IMAGO / JOKER / Alexander Stein

Psychische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen haben in den vergangenen Jahren stark zugenommen: um 27 Prozent seit 2019. Das zeigte jüngst ein Bericht des Zentralinstituts der Kassenärztlichen Vereinigung, der sogenannte Versorgungsatlas. Auffallend bei Mädchen ist eine sehr starke Zunahme der Essstörungen um 74 Prozent. Privatdozentin Dr. Ellen Greimel leitet die Arbeitsgruppe Depression im Kindes- und Jugendalter an der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der LMU. Im Interview erläutert sie die Ursachen der Entwicklung.

Immer mehr Kinder sind psychisch krank. Wie verbreitet sind Depressionen?

Ellen Greimel: Die Häufigkeit psychischer Erkrankungen ist deutlich gestiegen, speziell was die Depressionen im Jugendalter anbelangt. Bereits vor der Coronapandemie war diese psychische Erkrankung mit ca. 7% im Jugendalter sehr verbreitet. Vor allem bei den Mädchen ist die Zunahme sichtbar. Das zeigt sich auch bei der Anorexie und bei den Angststörungen. Diese Daten bestätigen nun, was viele im Kontext der Coronapandemie befürchtet haben, das zeigen auch internationale Studien. Ganz wichtig ist: Patientinnen und Patienten, die sich bei uns in der Klinik vorstellen, sind oft auch schwerer erkrankt, als das früher der Fall war.

Warum werden mehr Kinder depressiv?

Gerade im Jugendalter, da sprechen wir von Kindern ab 12, 13 Jahren, waren die Belastungen, die mit der Coronapandemie einhergingen, massiv. Die Kontakteinschränkungen waren für sie besonders schlimm, weil sie ihrem Autonomiestreben entgegenstanden und ihrem Wunsch, sich auszuprobieren, Kontakte zu den Peers zu pflegen und Beziehungen einzugehen. Das ging einher mit der Sorge, den schulischen Anschluss zu verlieren, mit Beziehungsabbrüchen und Konflikten in der Familie, gerade wenn sie auf engem Raum zusammenlebt, und manchmal auch finanziellen Nöten in den Familien.

Haben Sie schon während der Pandemie befürchtet, dass dadurch mehr Kinder an Depressionen erkranken werden?

Ja, wie die meisten Expertinnen und Experten. Es wurde gerade in den Anfängen der Coronapandemie viel zu wenig auf die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen geachtet. Die Erwachsenen mussten sich verglichen mit den Kindern viel weniger einschränken. Sie konnten ihren Berufen weiterhin nachgehen, auch wenn viele im Homeoffice waren. Aber zu den massiven Einschränkungen ist es vor allem bei den Kindern und Jugendlichen gerade durch die Schulschließungen gekommen. Dadurch ist die tägliche Struktur weggefallen, die unheimlich wichtig ist. Schule ist ja nicht nur ein Ort der akademischen Bildung, sondern auch Ort der Begegnung. Und Lehrerinnen und Lehrer sind oft wichtige Ansprechpartner, wenn es zu Problemen kommt. Dadurch ist vieles erst später aufgefallen.

Forschung zur genetischen Veranlagung bei Depression

Warum löst eine solche Situation bei den einen eine Depression aus, bei anderen nicht?

Es sind unterschiedliche Gründe. Bei der Depression gibt es eine individuelle Prädisposition, die auch genetisch mitbedingt ist, es sind eine Vielzahl an Genen daran beteiligt. In meiner Arbeitsgruppe forschen wir über das Zusammenspiel von genetischen und Umweltfaktoren, wie zum Beispiel stressreiche Lebensereignisse, und konnten auch belegen, dass diese Interaktion sehr relevant ist. Wenn es eine genetische Prädisposition gibt und solche Stressoren dazukommen wie im Rahmen der Coronapandemie, kann es zu einer Depression kommen, vor allem wenn die Jugendlichen keine guten Strategien haben, damit umzugehen.

Sie beschäftigen sich in Ihrer Forschung mit Emotionsregulation. Was ist damit gemeint?

Die Emotionsregulation ist ein wichtiger Faktor, um negative Ereignisse zu bewältigen. Personen mit Depressionen haben Schwierigkeiten, mit Gefühlen angemessen umzugehen. Das trägt sowohl dazu bei, dass eine Depression ausgelöst wird als auch zu ihrer Aufrechterhaltung.

Könnten Sie ein Beispiel geben für den Umgang mit negativen Emotionen?

Wenn sich zum Beispiel eine Freundin von einem abwendet, kommt es zu Gefühlen wie Wut oder Traurigkeit. Wer jetzt die Tendenz zum Grübeln hat, läuft Gefahr, dass sich die negativen Gefühle noch verstärken. Umgekehrt gibt es förderliche Strategien wie sich abzulenken oder sich Unterstützung zu holen, mit anderen darüber zu sprechen.

Lernen Betroffene das dann in einer Therapie?

Im Rahmen der kognitiven Verhaltenstherapie ist es zum Beispiel ein wichtiger Baustein: zu versuchen, negative Gedanken zu beeinflussen, etwa eine Situation in einem positiveren Licht zu betrachten. Eine Depression ist geprägt durch ein negatives Denkmuster. In der Therapie geht es darum, dieses zu verändern.

Warum haben manche diese Fähigkeit nicht? Wann und wo im Leben erlernen Kinder solche Strategien?

Die Eltern spielen dabei eine wichtige Rolle. Wenn ein Kind erlebt, dass Eltern versuchen, mit negativen Emotionen gut umzugehen, zum Beispiel sich bemühen, das Beste aus einer Situation zu machen, und darüber sprechen, statt sich zurückzuziehen. Das sind Muster der Bewältigung, die Kinder von Eltern lernen können.

Zur Rolle sozialer Medien bei Depressionen

Sehen Sie eine Gefahr durch die Nutzung sozialer Medien?

Bei Depressionen spielen viele Puzzleteile eine Rolle. Es hat generell Auswirkungen auf die psychische Gesundheit, wenn erhöhter Medienkonsum dazu führt, dass Jugendliche ihre Hobbys vernachlässigen und sich weniger mit Freunden treffen. Bei den sozialen Medien kommt hinzu, dass dort eine Scheinwelt vorgelebt wird, alle geben sich immer von der besten Seite. Gerade bei Jugendlichen, die an sich selbst zweifeln, können die Selbstzweifel noch steigen, wenn sie nicht zwischen Scheinwelt und Realität unterscheiden können. Auch Cybermobbing ist ein Faktor, der zur Entstehung einer psychischen Erkrankung beitragen kann. Es ist wichtig, dass Schulen darüber aufklären.

Laut dem Versorgungsatlas sind psychische Erkrankungen bei Mädchen und Jungen ungleich verteilt. Warum ist das so?

Es gibt unterschiedliche Erklärungsansätze dafür, auch in Abhängigkeit vom jeweiligen Störungsbild. Bei der Depression beispielsweise sind ab der Pubertät mehr Mädchen als Jungen betroffen. Mädchen kommen früher in die Pubertät, sind früher auch mit den biologischen und auch sozialen Veränderungen konfrontiert, die damit einhergehen. Ein frühes Eintreten in die Pubertät ist zum Beispiel ein Risikofaktor für die Depression. Mädchen berichten auch mehr von Stressoren im zwischenmenschlichen Bereich. Auch die Sozialisation spielt eine Rolle. Mädchen reagieren gerade auf soziale Stressoren eher mit Rückzug oder machen sich Schuldvorwürfe, grübeln. Jungs zeigen eher externalisierendes Verhalten wie erhöhte Reizbarkeit und Aggressivität. Das zeigt sich auch bei den Erkrankungen: Grob lässt sich sagen, dass Mädchen eher zu internalisierenden, also nach innen gerichteten psychischen Störungen neigen und die Jungs eher zu Störungen, die mit externalisierendem Verhalten einhergehen.

Wie viel häufiger sind Mädchen von einer Depression betroffen?

Bei den Mädchen ist ab der Pubertät die Häufigkeit von Depressionen zwei bis drei Mal höher als bei Jungen. Bei den Jungen ist es aber auch häufig so, dass eine Depression nicht erkannt wird. Das liegt unter anderem daran, dass sich bei den Jungen eine Depression teils auf eine andere Art und Weise zeigt. Bei Depressionen denken die meisten an Traurigkeit und Rückzug. Jungs sind verstärkt reizbar. Auch das kann Ausdruck einer Depression sein.

Rückzug von den Eltern oder Reizbarkeit gehören ja in gewissem Maß auch zur Pubertät dazu. Wann kippt das, sodass eine Depression zu befürchten ist?

Bei einer Depression müssen mehrere Symptome gleichzeitig vorliegen und über mindestens zwei Wochen anhalten, auch die meiste Zeit des Tages. Eine Depression geht einher mit einem starken Leiden der Betroffenen und beeinträchtigt ihren Alltag. Sie werden zum Beispiel in der Schule schlechter und erhalten Freundschaften nicht mehr aufrecht.

Wieder gesund werden

Lässt sich eine Depression gut behandeln?

Es gibt effektive Behandlungsmethoden, die gut helfen. Bei Kindern und Jugendlichen spielt die Psychotherapie die wichtigste Rolle. Manchmal kann es auch sinnvoll sein, dass zusätzlich ein Medikament genommen wird. Aber leider dauert es oft sehr lange, bis sich Betroffene professionelle Hilfe holen. Das hat unterschiedliche Gründe. Manchmal gibt es zu wenig Wissen über die Erkrankung und darüber, wie sie sich äußert. Oft ist sie noch immer schambesetzt bei den Jugendlichen selbst und den Familien. Oder es besteht Unsicherheit, an wen man sich wenden soll.

Auf unserem Infoportal „ich bin alles“, das wir zusammen mit der Beisheim Stiftung entwickelt haben, informieren wir Jugendliche und ihre Eltern über die Depression und wirksame Behandlungsmöglichkeiten. Außerdem finden Betroffene Informationen, wo sie sich Hilfe holen können.

Also wäre Ihre Empfehlung, bei den ersten Anzeichen früh professionelle Hilfe aufzusuchen?

Genau. Auch wenn Unsicherheit besteht, ob das Verhalten noch als normal pubertär einzuschätzen ist oder schon auf eine Erkrankung hindeutet. Es ist ja genau Aufgabe der Fachpersonen, das zu differenzieren. Eine erste Ansprechperson kann auch der Kinderarzt sein. Was sind die Langzeitfolgen einer solchen Erkrankung?Je früher eine Depression behandelt wird, desto besser ist die Prognose. Wird sie nicht behandelt, besteht das Risiko, dass sie chronisch wird. Dann erhöht sich auch das Risiko von Langzeitfolgen, zum Beispiel dass die körperliche Gesundheit leidet und es zu weiteren psychischen Erkrankungen kommt. Betroffene haben auch häufiger einen niedrigeren Schulabschluss, als es zu erwarten wäre. Auch im zwischenmenschlichen Bereich kann es zu Problemen kommen. Umso wichtiger ist es, wirklich früh anzusetzen und noch besser: vorzubeugen.

Werden die Fallzahlen wieder abnehmen, wenn nun alle infolge der Coronapandemie entstandenen Erkrankungen behandelt sind?

Die Auswirkungen der Coronapandemie werden noch lange nachwirken. Zum Beispiel weil die schulischen Leistungen darunter gelitten haben, manche den Anschluss nicht mehr geschafft haben oder Familien in finanzielle Schwierigkeiten geraten sind. Aber man darf nicht vergessen, dass es auch Jugendliche gibt, die mit der Krise und den Belastungen sehr gut umgegangen sind. Diese Jugendlichen haben gute Bewältigungsstrategien gefunden. Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, zukünftig den Kindern und Jugendlichen eine Stimme zu verleihen und ihre Bedürfnisse stärker in den Fokus zu stellen.

Zur Person

PD Dr. Ellen Greimel leitet die Arbeitsgruppe Depression im Kindes- und Jugendalter an der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am LMU Klinikum.

Mehr Information zu Depressionen und Forschung darüber

Aufklärung über psychische Gesundheit und Depressionen sowie Empfehlungen für Betroffene:
Unter der Leitung von Professor Schulte-Körne hat die Arbeitsgruppe von Ellen Greimel zusammen mit der Beisheim Stiftung ein evidenzbasiertes Infoportal für Kinder und Jugendliche mit Depression und ihre Angehörigen veröffentlicht. Zur Webseite ich-bin-alles.de

Forschungsgruppen an der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der LMU:
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