Digitale Würde in einer vernetzten Welt
20.08.2020
Sahana Udupa erforscht den Einfluss digitaler Medien auf die Gesellschaft und extreme Online-Sprache. Dafür erhielt sie gleich zwei ERC-Grants.
20.08.2020
Sahana Udupa erforscht den Einfluss digitaler Medien auf die Gesellschaft und extreme Online-Sprache. Dafür erhielt sie gleich zwei ERC-Grants.
„Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich die ganze Zeit ein Radar trage, um wachsam gegen problematische Entwicklungen zu sein, ob es mir gefällt oder nicht“, sagt Sahana Udupa und stellt mit ihren Händen imaginäre Antennen nach. Die Professorin für Medienanthropologie an der LMU erforscht, wie die neuen Formen digitaler Medien das gesellschaftliche Miteinander beeinflussen, und stößt dabei auch oft auf die hässliche Seite der Online-Kommunikation – Hasskommentare und Desinformation. Dem weit verbreiteten Begriff „Hassrede“ für derartige Äußerungen steht sie allerdings skeptisch gegenüber: „Dabei geht es meist um einen bestimmten normativen Ansatz, um Regulierung. Ich will aber einen kulturellen Ansatz verfolgen, um dieses Phänomen und die Motivation der Menschen dahinter zu verstehen“, betont sie und bevorzugt deshalb den weiter gefassten Begriff „extreme Sprache“.
Vom Journalismus zur Forschung
Medien faszinieren die gebürtige Inderin bereits, seit sie ihre berufliche Laufbahn als Journalistin begann. Diesem Interesse ist sie auch in ihrer Forschung treu geblieben, bei der sie Anthropologie und Kommunikationswissenschaften verbindet. Nach Deutschland wechselte Udupa bereits nach ihrer Promotion am National Institute of Advanced Studies in Bangalore, Indien, weil sie die Möglichkeit bekam, am Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften in Göttingen zu forschen. „Ich hatte eigentlich nicht geplant, nach Deutschland zu gehen. Übliche Ziele für Studenten in Südasien sind meist die USA oder Großbritannien. Aber das war eine fantastische Gelegenheit“, betont sie.
Attraktives akademisches Umfeld
Nach einer Zwischenstation an der Central European University in Budapest forscht sie seit 2017 an der LMU. Für ihre Rückkehr nach Deutschland war neben persönlichen Gründen – ihr Sohn wünschte sich, wieder „nach Hause“ zu kommen – vor allem das akademische Umfeld ausschlaggebend. „Hier wird konzeptuelles Denken wirklich geschätzt. Es wird nicht erwartet, dass Forschung sofort anwendungsbezogen ist, sondern man bekommt die Zeit, die es braucht, Gedanken weiterzuentwickeln. Das ist ein Luxus.“
Vernetzte Forschung
In München analysiert Udupa mit ihrem Team im Rahmen ihres durch einen ERC Starting Grant geförderten Projekts ONLINERPOL die weltweite Zunahme extremer Sprache. Sie untersucht vor allem, wie Online-Medien die politische Instrumentalisierung religiöser Unterschiede und nationaler Zugehörigkeit wiederbelebt und umgestaltet haben. Weltweite Kooperationen sind für die Forscherin dabei ein unverzichtbarer Bestandteil ihrer Arbeit: „Die heutige Welt ist vernetzt, und deshalb muss auch unsere Forschung vernetzt sein. Zudem ist der Austausch von Ideen ungeheuer hilfreich."
Für eine vergleichende Studie, wie sich extreme Online-Sprache in verschiedenen Gesellschaften äußert, kooperiert die Forscherin beispielsweise mit Instituten in Indien, den Philippinen, den USA, Südafrika, Dänemark und Großbritannien. Nur so sei es möglich, allgemeine Trends sowie kulturelle Unterschiede und geschichtliche Einflüsse – etwa der Kolonialzeit mit ihren Implikationen für die Entstehung von Märkten und Staatsgrenzen – zu erfassen.
Online-Fun als neuer Trend
Als neuen allgemeinen Trend identifizierten die Wissenschaftler beispielsweise eine Art von Online-Fun-Kultur, bei der vordergründig humorvolle Äußerungen zur Ausgrenzung anderer dienen. „Wenn sich jemand dem widersetzt und es nicht lustig findet, heißt es, komm schon, ich habe es nicht so gemeint und du verstehst den Witz nicht“, sagt Udupa. Auf diese Weise erzeugen die Akteure kollektive Energien und können sich zudem Regulierungen und Sanktionen entziehen – es sei ja alles nur Spaß gewesen.
Debatten auf höchster Ebene
Eine ihrer jüngsten und wichtigsten Kooperationen ist diejenige mit dem Social Science Research Council Academic Network on Peace, Security, and the United Nations (SSRC), einer in New York angesiedelten unabhängigen Einrichtung zur Förderung der Forschung in den Sozialwissenschaften, für die sie mit weiteren Partnern einen Bericht zu Hassreden, Desinformation und Konflikten erstellt hat. Die Zusammenarbeit mit solchen Institutionen ist ihr wichtig, weil sie die Debatte auf höchster Ebene beeinflussen können – auf Einladung des SSRC beispielsweise hatte Udupa Gelegenheit, mit UN-Mitgliedern zu sprechen.
Aber auch die Zusammenarbeit mit Menschen, die als Faktenprüfer im Auftrag von Unternehmen, aber auch von unabhängigen Gruppen, problematische Inhalte erkennen und entfernen, ist für Udupa ein wesentlicher Bestandteil ihrer Forschung. Erst vor Kurzem hat sie sich mit Faktenprüfern ausgetauscht, die auf den Philippinen arbeiten. Solche Faktenprüfer haben oft ein enormes kulturelles Wissen, aber nicht genug Ressourcen, um die riesigen Datenmengen zu bewältigen. Um sie zu unterstützen, will Udupa mit ihrem Münchener Team nun mithilfe eines Proof of Concept Grants des ERC das Open-Source-Werkzeug „AI4Dignity“ entwickeln, das basierend auf Künstlicher Intelligenz Hassbotschaften und Falschmeldungen erkennen kann.
Über Disziplingrenzen hinausdenken
Das Tool soll vom Benutzer an kulturelle Eigenheiten angepasst werden können und etwa das Sortieren von Bildern erleichtern. Für die Umsetzung des Projekts kooperiert Udupa mit Informatikern und Computerlinguisten. „Man muss sich verknüpfen und über Disziplingrenzen hinausdenken. Glücklicherweise gibt es an der LMU viele unterstützende Einheiten. Sie ist wie ein Ozean, je tiefer man eintaucht, desto mehr Schätze findet man. Man muss nur wissen, wohin man sich wenden kann – dann kann ich auch sehr hartnäckig sein“, lacht sie.
Empathie und soziale Verantwortung
Udupa ist es wichtig, die Erfahrungen und Positionierungen der Forscher in die wissenschaftliche Analyse einzubeziehen und empathisches Verständnis auch auf sensible Themen wie extreme Sprache auszudehnen. „In diesem Sinn ist Einfühlungsvermögen in die Opfer von Online-Hass von entscheidender Bedeutung, aber es ist auch wichtig zu verstehen, was Menschen dazu motiviert, sich auf extreme Sprache einzulassen.“ Hässliche Botschaften können überall und zu jeder Zeit auftauchen – auch an Orten, wo man es am wenigsten erwartet hätte. Ihre Auswirkungen sind schwerwiegend, und Udupa empfindet es nicht nur als Teil ihres Projektes, sondern auch als ihre Verantwortung, diese Dinge zur Sprache zu bringen: „So wie eine Gesellschaft Ärzte haben muss, um Diagnosen zu stellen, sind wir Wissenschaftler da, um Probleme der Gesellschaft und des sozialen Lebens zu erkennen. Deshalb lasse ich mein Radar eingeschaltet. Und genau deshalb sind auch Universitäten wichtig: Sie schaffen Räume, in denen verschiedene Stimmen zu Wort kommen.“
Monika Gödde