Die Jugendlichen sind gut drauf, in Feierlaune, die sie mit lauter Musik in ihrem Auto auf einem Behindertenparkplatz ausleben. Als ein beeinträchtigter Autofahrer sie bittet, den Platz freizumachen, erntet er Hohn und dumme Sprüche. Das kann Anna Esterhammer gar nicht leiden und interveniert umgehend – obwohl sie selbst durch eine Fußverletzung eingeschränkt und mit Krücken unterwegs ist: „Wenn ich so etwas sehe, muss ich einfach eingreifen. Das ist wie ein Impuls, dem ich folge“, sagt sie. Als ihre Aufforderung, die Parkbucht zu räumen, ebenfalls ins Leere geht, verleiht sie ihrer Forderung kurzerhand mit den Gehhilfen Nachdruck – die Jugendlichen entfernen sich. „Offenbar hat sie beeindruckt, als eine ältere Dame mit Krücken auf sie zuging“, sagt sie und gibt zu, dass das von ihr vielleicht auch ein wenig unbesonnen war, schließlich wisse man ja im Vorfeld nicht, mit wem man es zu tun habe.
Kleine Schritte statt Heldentaten
„Wichtig ist, dass man sich selbst möglichst keinem Risiko aussetzt, wenn man in einer kritischen Situation eingreifen möchte“, empfiehlt Robert „Bob“ Harst, Trainer bei „Zivilcourage für Alle e.V.“. Er und seine Kolleginnen und Kollegen wollen vielmehr Handlungsstrategien vermitteln, wie man sich am besten verhält, möglichst ohne sich und andere zu gefährden. Das Motto des Vereins: Kleine Schritte statt Heldentaten – eine Haltung, die sich auch zunehmend in der Allgemeinheit durchsetze: „Bis vor einigen Jahren wurden renommierte Preise für Zivilcourage vornehmlich an Personen verliehen, die sich sozusagen direkt ins Getümmel gestürzt haben“, sagt Harst. Das ändere sich gerade: Solche Ehrungen gingen jetzt vor allem an Menschen, die zum Beispiel einen Täter verfolgen, indem sie laufende Positionsmeldungen mit dem Handy abgeben, aber eben nicht direkt eingreifen.
Für seine Arbeit, die erfolgreichen Workshops und Kurse rund um das Thema Zivilcourage, ist der Verein nun selbst ausgezeichnet worden. Anfang Dezember konnte er den Deutschen Engagementpreis 2021 in der Kategorie „Demokratie stärken“ entgegennehmen. „Das ist der Oskar für das Ehrenamt, es gibt hierzulande nichts Höheres“, freut sich Susanne Singer, Geschäftsführerin des Vereins. „Das wird unsere Sichtbarkeit enorm stärken, was für unsere Arbeit natürlich wunderbar ist.“ Auch Anna Esterhammer wurde durch die Berichterstattung über den Preis in der Süddeutschen Zeitung auf „Zivilcourage für Alle“ aufmerksam: „Ich habe mich sofort für ein Seminar angemeldet“, sagt sie. Der Grund: „Wenn ich in einer Situation eingreife, möchte ich dies zukünftig auf Basis von solidem Wissen über meine Möglichkeiten tun.“
Wissenschaftliche Fundierung
Erarbeitet wurden die Strategien und Möglichkeiten, die in den Kursen des Vereins vermittelt werden, schon vor rund 15 Jahren am Lehrstuhl für Sozialpsychologie der LMU. Professor Dieter Frey, zu dieser Zeit Inhaber des Lehrstuhls, erinnert sich: „Wir hatten ein mehrjähriges DFG-Projekt über Zivilcourage und in diesem Rahmen wurden viele Diplomarbeiten, später Masterarbeiten und Dissertationen angefertigt, die sich mit unterschiedlichen Facetten von Zivilcourage beschäftigten.“
Viele der heutigen Workshops und der theoretischen Vorarbeiten hätten, so Frey, frühere Mitarbeitende, Doktoranden und Habilitanden aufgebaut und adaptiert. Die Weiterentwicklung der Workshops sei sowohl in Kooperation mit den Mitgliedern des Lehrstuhls durchgeführt worden, aber zunehmend auch in Eigenregie des Vereins.
„Bis zum heutigen Tag sind die Verbindungen zum Verein sehr intensiv, weil wir immer einen Austausch über neue wissenschaftliche Forschungen, aber auch über praktische Erfahrungen haben“, so der Sozialpsychologe – selbst Ehrenmitglied des Münchner Vereins, der in Brunnthal seine Postanschrift hat. „Dieter Frey unterstützt uns, wo immer er kann“, bestätigt auch Susanne Singer.
Und das ist notwendig, denn die Arbeit solcher Initiativen wird immer wichtiger. Gerade durch die Pandemie, erklärt Dieter Frey, sähen die Menschen durch einen zunehmenden Kontrollverlust ihre Zukunft gefährdet. „Viele erleben die Einschränkungen als Restriktionen ihrer eigenen Freiheit und solidarisieren sich über soziale Netzwerke – teilweise mit eindeutig demokratiefeindlicher Ausrichtung“, sagt Dieter Frey. „Hier ist ganz wichtig, dass Menschen als Akteure dieses Verhalten beobachten und widersprechen, überzeugen, argumentieren und dabei vor allem sachlich bleiben – möglichst aber nicht alleine. Wie man das konkret macht, lernen die Teilnehmenden in den Übungen, die der Verein Zivilcourage, aber auch wir am Center for Leadership and People Management der LMU anbieten.“
Sich empören, wenn Menschenwürde verletzt wird
„Wir vermitteln in unseren Workshops zunächst theoretische Grundlagen“, erklärt Bob Harst. Simulationen von Übergriffen im öffentlichen Nahverkehr oder von fremdenfeindlichen Auswüchsen an einem Wirtshausstammtisch sowie der Umgang damit runden das Programm ab.
Auch häusliche Gewalt, die im Zuge der sozialen Isolation deutlich zugenommen hat, war ein Thema des Workshops: Soll man eingreifen, wenn ein Kind schreit? Wann soll man handeln eingedenk der Tatsache, dass sich so etwas nicht im öffentlichen Raum abspielt, sondern in einer Sphäre geschützter Privatheit?
All diese realen oder simulierten Situationen haben eines gemeinsam: Es gibt Leute, die couragiert eingreifen. Was ist aber, wenn jemand nicht den Mut fassen kann? Professor Dieter Frey: „Es gibt die drei Klassiker, nämlich Angst, Verantwortungsdiffusion im Sinne von ‚Warum gerade ich?‘ und pluralistische Ignoranz, nach dem Motto ‚Wenn niemand was macht, dann kann es nicht so schlimm sein‘. Wichtig ist, ähnlich wie bei Erster Hilfe, dass die Leute zunächst mal Wissen vermittelt bekommen in den Kursen, wie man sich verhalten soll, etwa bei ausländerfeindlichen Parolen oder bei antisemitischem Verhalten. Das heißt, man muss eine Sensitivität entwickeln für solche Situationen, dann aber auch in Rollenspielen lernen, was man sagt, wie man es sagt. Die Hoffnung ist, dass durch dieses Wissen auch das Bewusstsein steigt, dass man einschreiten muss.“ Dies sei, so Frey, vor allem bei Menschen bedeutsam, die einen Wertekompass haben und sich, wenn Menschenwürde verletzt wird, empören. Das habe viel mit Selbstbewusstsein und Selbstwirksamkeit zu tun.
Genau dies zu vermitteln, hat sich Zivilcourage für Alle auf die Fahnen geschrieben. Und dabei braucht das Team noch mehr Unterstützung. „Toll wäre es natürlich auch, wenn sich Studierende in der Vereinsarbeit engagieren würden“, sagt Susanne Singer. „Sie können aktiv mitarbeiten und mit entsprechender Qualifizierung auch selbst Trainings leiten.“ Schließlich käme dieses Engagement nicht nur der Zivilcourage zugute – sondern auch der Bewerbungsmappe.