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Ein Tag in Ur vor 4000 Jahren

22.07.2024

Ausgrabungen in einer der berühmtesten altorientalischen Städte geben einen einmaligen Einblick in das Leben ihrer Bewohner.

„Mir geht es gut, mach dir keine Sorgen“, schrieb Sin-nada an seine Frau Nuṭṭuptum etwa 1840 vor Christus. Er war, wie so oft, geschäftlich unterwegs. Das Ehepaar hielt derweil brieflich Kontakt. Davon zeugen zerbrochene Tontafeln, mit Keilschrift beschrieben, die das Team um LMU-Archäologin Adelheid Otto gefunden hat.

Nuttuptum und Sin-nada lebten in Ur, vor 4000 Jahren eine lebendige Hafenstadt und Handelsmetropole. Heute scheint davon nichts übrig als Sand und Lehm. Archäologinnen und Archäologen jedoch suchen in Ur nach Überresten einer untergegangenen Zivilisation.

Das Team um Professor Adelheid Otto und Dr. Berthold Einwag hat das Haus des Ehepaars Sin-nada und Nuṭṭuptum ausgegraben und dabei vom Schicksal der beiden profitiert. Sie mussten offenbar fluchtartig ihr Zuhause verlassen. Die Funde, die die LMU-Archäologinnen und -Archäologen in dem Haus machten, sind so zahlreich und vielfältig, dass sie wie eine Momentaufnahme des Alltags vor 4000 Jahren wirken.

Eine Besucherin steht in der 3D-Installation am LRZ auf der Terasse eines Hauses in Ur.

Mittendrin in Ur

LMU-Archäologen haben zusammen mit dem LRZ die ausgegrabene Villa in 3-D rekonstruiert. Nun lässt sich „sehen, was nicht mehr da ist“, sagt Dr. Thomas Odaker, Leiter des Zentrums für Virtuelle Realität und Visualisierung am LRZ. Wer die Installation betritt, hat den Eindruck, in der Villa zu stehen, kann durch die Räume gehen und vom Dach auf die ehemalige Stadt Ur blicken.

© LMU
Archäologin Adelheid Otto hält am Ausgrabungsort eine Keramikvase hoch.

Prof. Adelheid Otto

leitet das Institut für Vorderasiatische Archäologie der LMU. Mit ihrem Team war die Archäologin drei Mal in Ur, um die Villa des Sin-nada und der Nuttuptum auszugraben. | © Institut für Vorderasiatische Archäologie/A. Otto

Im Interview blickt Adelheid Otto, Leiterin des Instituts für Vorderasiatische Archäologie der LMU, auf ihre drei Ausgrabungen in den Jahren 2017, 2019 und 2022 zurück. Ihre Funde wertet sie in Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen verschiedener Disziplinen aus, darunter die Assyriologen LMU-Professor Walther Sallaberger und Professor Dominique Charpin (Collège de France, Paris), die Anthropologin Dr. Andrea Göhring, Geophysiker um Professor Jörg Fassbinder (LMU), die Zoologin Melina Seabrook (Harvard) und viele andere. Die Grabung war Teil des Projekts von Professor Elisabeth Stone von der Stony Brook University und wurde von der Gerda Henkel Stiftung gefördert.

Zusammen mit Kolleginnen und Kollegen vom LRZ hat der Archäologe Dr. Berthold Einwag die ausgegrabene Villa in 3-D rekonstruiert.

Ur war einst eine Handelsmetropole

Wie war das Leben in Ur, als Nuttuptum und Sin-nada dort lebten?

Adelheid Otto: Ur war eine der wichtigsten und größten Städte des Alten Orients und sehr kosmopolitisch. Aus überlieferten Texten wissen wir, wie viele Tausende Menschen in Ur lebten und wie es dort zuging – dass Läden die Straßen säumten und es etwa lärmte und laut war, wenn die Schmiede hämmerten.

Vor 4000 Jahren war für Ur eine echte Blütezeit, zu der es den Menschen sehr gut ging. Das können wir nun ganz exemplarisch an einem Haus mit seinen Bewohnern festmachen.

Blick von oben auf die ausgegrabene Villa in Ur.

Ur ist eine der berühmtesten altbabylonischen Städte.

Sie wurde erstmals von dem britischen Archäologen Sir Leonard Woolley 1922-34 ausgegraben. Damals war das Interesse bei Ausgrabungen anders als heute, erläutert Adelheid Otto: „Man hat damals anders gegraben, viel schneller, und man hat auf vieles keine Rücksicht genommen. Man hatte kaum Interesse daran, was die Leute gegessen haben, wie gesund sie waren, man hat keine Knochen oder botanischen Reste registriert, noch nicht einmal Keramikscherben. Das, was man Alltägliches in einem Haus findet, wurde selten dokumentiert“, sagt Adelheid Otto. Wolley hatte zwar dennoch 60 Wohnhäuser ausgegraben, „in vielen waren tatsächlich auch private Tafelarchive. Aber Wolley hatte keine Philologen, die eng mit ihm kooperiert haben.“ Er schrieb damals, dass Ur ein Modell für das Verständnis altorientalischen Lebens sein könnte, wenn man die Texte genauer den Häusern zuweisen könnte. Adelheid Otto ist dies in dem Haus von Sin-nada und Nuṭṭuptum gelungen. Das Haus war mehr als 200 Quadrameter groß und hatte mehrere Stockwerte, alleine im Erdgeschoss gab es 16 Zimmer.

© Institut für Vorderasiatische Archäologie/A. Otto

Ein Modellhaus Mesopotamiens der altbabylonischen Zeit

Was ist das Besondere an dem von Ihnen ausgegrabenen Haus?

Wir haben nun erstmals ein Modellhaus Mesopotamiens der altbabylonischen Zeit mit allem, was dazu gehört: mit Essensresten und Funden, die auf die Funktion der verschiedenen Räume schließen lassen, sowie textlichen Belegen. Wir haben zum Beispiel eine Speisekammer ausgegraben, in der noch die Schinken in einer Räuchernische aufgehängt hingen. Es gab auch einen Raum, in dem wahrscheinlich die Hausherrin Kindern lesen und schreiben beibrachte.

Wir kennen auch ganz genau das Ehepaar, das dort wohnte. Sin-nada war Intendant des zweitwichtigsten Tempels von Ur, also eine Art Priester und Manager in einem und damit eine sehr hochrangige Persönlichkeit. Toll sind die Briefe, die sie sich schrieben, die wir auch gefunden haben und die unglaublich lebendig sind. Das ist sehr selten: Dass man Texte und weitere Funde in einem Haus zu einer bestimmten Zeit so exakt zusammenbringt, dass es wie eine Momentaufnahme ist, durch die wir einen Tag im Leben dieser Menschen genau rekonstruieren können.

4000 Jahre alte Briefe eines Ehepaars

Ausgegrabener Brief und ausgegrabene Keramikschalen am Boden der Ausgrabungsstätte in Ur.

Brief (links) und Keramikschale

Das Team um Adelheid Otto kann das Haus dank der gefundenen Siegel und Keilschrifttexte zeitlich genau einordnen. Dadurch lässt sich auch die Keramik genau datieren. „Wir haben in dem Haus drei Schichten exakt datierbarer Keramik gefunden. Wir können dadurch ganz neu die Keramik dieser Zeit darlegen.“ Die LMU-Archäologin und Archäologen Albert Dietz und Samar Shamas erarbeiten daraus derzeit, gefördert von der DFG, ein Handbuch zur altbabylonischen Keramik Südmesopotamiens. | © Institut für Vorderasiatische Archäologie/A. Otto

Was schrieben sich die beiden?

Der eine Brief von Sin-nada lautete „Mach dir keine Sorgen, mir geht es gut.“ Wir dachten: Ach, was für ein glückliches Ehepaar! Der letzte Text, den wir zerschmettert vor der Haustür im Inneren gefunden haben, lautete: „Nuttuptum, du machst mir immer Vorwürfe, ich würde dich vernachlässigen und wäre zu oft weg. Das stimmt doch gar nicht!“ Man meinte beim Lesen, einer Ehekrise beizuwohnen, die da ausdiskutiert wird. „Es ist doch nur, weil …“ Und dann bricht der Text ab.

Das klingt, als wäre Nuttuptum recht selbstbewusst gewesen?

Die Frau fasziniert mich. Man weiß bislang mehr über Männer als über Frauen dieser Zeit. Es ist klar, dass diese Frau lesen und schreiben konnte. Sie scheint ihrem Mann schriftlich Vorwürfe gemacht zu haben, dass er so selten daheim ist. Wir haben auch einen Brief ihres Vaters an sie gefunden.

Zu dieser Zeit war der Bildungsstand extrem hoch. Da ihr Mann viel unterwegs war, ist es naheliegend, dass Nuttuptum den Schreibunterricht gab. Zumal wir auch in der Speisekammer zwei Schultexte gefunden haben, einem Bereich, wo sich ein Mann damals eher selten aufhielt. Man weiß, dass es theoretisch Frauen als Lehrerinnen gab, aber bislang konnte man es nie konkret an einer Person festmachen. Ich finde es sehr spannend, dass diese Frau eine aktiv in der Wirtschaft agierende Person war, die noch dazu Unterricht gegeben hat.

Die Rolle der Frauen in Ur

Überreste des Ofens in der ausgegrabenen Villa in Ur.

Überreste des großen Ofens in der Villa in Ur.

Vermutlich wurden hier Gerichte für die Tempel zubereitet. | © Institut für Vorderasiatische Archäologie/A. Otto

Woher wissen Sie, dass sie wirtschaftlich aktiv war?

Aus manchen Texten, die wir gefunden haben, geht hervor, dass Nuttuptum von einer Bierbrauerin viel Treber bekam, mit dem sie dann wohl die Schafe oder Schweine gemästet hat. Da es außergewöhnlich große Öfen in ihrer Küche gab, nehmen wir an, dass sie zusammen mit ihrem Mann in der Tempelverwaltung zuständig war und die Mahlzeiten für die Tempel dort zubereitet hat. Ich bemühe mich daher immer zu sagen: „Es ist das Haus des Sin-nada und der Nuttuptum“, gerade weil Frauen in der Forschung zu dieser Zeit oft hinten runterfallen.

Warum ist das so?

Es gibt weniger Belege für sie. Die meisten Texte sind aus öffentlichen Administrationen, einem Palast oder Tempel. Es gibt zwar immer wieder Ausnahmen und auch Frauenarchive, aber es wird davon ausgegangen, dass Verwaltungstexte von Männern geschrieben wurden.

Zur Zeit Sin-nadas und Nuṭṭuptums scheinen die Frauen eine Rolle gehabt zu haben, die, sofern sie geschäftsfähig und wirtschaftlich aktiv waren, der eines Mannes nicht nachstand. Insbesondere wenn die Frauen in der Tempeladministration involviert waren. In Ur gab es in den Tempeln wahrscheinlich mehr Frauen als Männer, weil die Klöster, in denen sie in Ur gelebt haben, vor allem mit Frauen bestückt waren. Viele niederrangige Positionen hatten Männer inne. Die Oberpriesterin und die Priesterinnen mittleren Ranges waren Frauen. Etwa 200 Jahre vor Nuṭṭuptum war Encheduana Oberpriesterin in Ur. Sie gilt als die erste Dichterin der Weltgeschichte. Von dieser Zeit an, etwa 2300 vor Christus bis circa 1700 vor Christus, scheint eine Blütezeit für Frauen in Ur gewesen zu sein.

Überstürzte Flucht, verlassenes Zuhause

Skelett in der Gruft in der ausgegrabenen Villa in Ur

In dem Haus wurde auch eine Gruft gefunden, in der Gebeine der verstorbenen Familienmitglieder aufgeschichtet gefunden wurden.

„Das Haus war ein Neubau, aber die Skelette wurden offenbar aus den Gräbern im alten Wohnhaus mitgenommen und in einer Gruft neben dem Haus beigesetzt, aufgeschichtet wie in einem Gebeinhaus“, sagt LMU-Archäologe Berthold Einwag. Die Auswertung der Knochen zeigt, dass der Gesundheitszustand der Personen sehr gut war. Sie hatten sich offenbar auch ausgewogen ernährt. | © Institut für Vorderasiatische Archäologie/A. Otto

Warum haben Sin-nada und Nuṭṭuptum ihr Leben in Ur aufgegeben?

Der Hausbesitzer und seine Frau mussten offenbar sehr plötzlich das Haus verlassen und haben daher alles zurückgelassen. Der König, dessen Diener er war, war gestürzt, vielleicht sogar ermordet worden. Möglicherweise wurde auch Sin-nada ermordet oder er musste zumindest aus Ur weggehen. Man hört dann einfach nichts mehr von ihm. Die Tatsache, dass er alles im Haus zurückließ, spricht dafür, dass es nicht freiwillig war. Das war 1835 vor Christus.

War es nicht ein Glücksfall, dass Sie genau an diesem Ort gegraben haben, wo Sie eine Villa samt Inhalt gefunden haben?

Der absolute Glücksfall! Es gibt Tausende Häuser dieser Zeit. Wir haben wirklich wie die Nadel im Heuhaufen dieses eine Haus gefunden, in dem auch noch die Privatarchive des Ehepaars lagen. Es lässt sich gar nicht sagen, was für eine Ausnahme das ist. Als Archäologin hat man vielleicht einmal im Leben einen so unglaublichen Glücksgriff.

Blick auf Ur von oben mit der ausgegrabenen Villa am Rand der Stadt.

Adelheid Otto hat ein Wohnhaus am Rand der Stadt ausgegraben. Das Ziel war herauszufinden, welche Gesellschaftsschicht dort wohnte. Die Ausgrabungen brachten eine weiträumige Villa zum Vorschein. „Ich glaube, dass generell in dieser Gegend von Ur wohlhabende Personen gelebt haben. Die Ärmeren haben wohl eher in Vororten außerhalb der Stadtmauer gelebt“, sagt Adelheid Otto.

© Institut für Vorderasiatische Archäologie/A. Otto

Einmalige Ausgrabung für Studierende

Wie haben das Ihre Studierenden, die bei den Ausgrabungen dabei waren, wahrgenommen?

Ich glaube, sie fanden es sehr aufregend, haben aber in dem Moment gar nicht verstanden, wie außergewöhnlich es war. Jetzt, nach und nach, sagen sie: Das war ja wie im Märchen! Man ist danach ‚verdorben‘ für die Archäologie, weil man nie mehr so tolle Funde machen wird.

Es war wirklich, wie man sich Archäologie immer vorstellt: Man gräbt aus und da liegen einfach die Tontafeln und Siegelabrollungen, die Nahrungsmittel und Terrakotta-Figurinen in einem Haus. Normalerweise findet man vielleicht zwei, drei Stücke in einer gesamten Kampagne und ist dann glücklich, einen Bruchteil dieser Funde zu haben.

Es ist wirklich eines der aussagekräftigsten Häuser aus der altbabylonischen Zeit in ganz Vorderasien.

Videoplayer

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28.06.2024

Was ist mit den ausgegrabenen Funden passiert?

Die besten Funde kamen nach Bagdad ins Museum. Das Haus selber haben wir abgedeckt und zugeschüttet, damit es konserviert wird. Es wird also wohl nie wieder jemand dieses Haus sehen. Zu besichtigen ist es tatsächlich nur in dem virtuellen 3D-Rundgang.

Tagung:

Vom 25. bis 26. Juli 2024 organisiert das Institut für Vorderasiatische Archäologie einen internationalen Workshop, auf dem die Ergebnisse der Ausgrabungen vorgestellt werden. Zum Programm

Mehr zur Forschung über Ur:

Institut für Vorderasiatische Archäologie der LMU: Übersicht der Ausgrabungen in Ur

Ausgrabungen in Ur: Altbabylonische Keramik

3-D-Modell: Wie Wohlhabende vor 4000 Jahren lebten (Bericht des LRZ)

Publikationen:

Adelheid Otto: Excavations at Ur. In: Münchener Abhandlungen zum Alten Orient 7, 2022, S. 350-357)

Adelheid Otto: A New Archaeological Response to an Old Question: When and how Did Ur Recover in the Old Babylonian Period? In: Proceedings of the 12th International Congresson the Archaeology of the Ancient Near East. Volume 2, Bologna 2021 (pdf ab S. 15)

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