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Erinnerungskultur: Von der Verleugnung zur kollektiven Verantwortung

26.03.2025

Wie Geschichte lehren und aufarbeiten? Ein Interview mit Historiker Andreas Etges über Erinnerungskultur in Deutschland und den USA zum Anlass des Projekts „Building a Critical Memory“.

Mahnmal zur Erinnerung an die Opfer des Holocaust

Die steinernen Stelen des Denkmals für die ermordeten Juden Europas in Berlin. | © IMAGO / Bihlmayerfotografie

Wie unterscheidet sich Erinnerungskultur in Deutschland und den USA und was lässt sich voneinander lernen? Dr. Andreas Etges, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Amerika-Institut der LMU, hat dazu eine Konferenzreise organisiert: Das Projekt „Building a Critical Memory: Transitioning from Denial to Collective Responsibility in Germany and the United States“ bringt insgesamt 50 deutsche und US-amerikanische Delegierte aus Wissenschaft, Museen, Gedenkstätten, Stiftungen, NGOs, Bildungseinrichtungen und Medien zusammen.

Für jeweils eine Woche nehmen sie Ende März in Deutschland und im Herbst in den USA an Führungen, Besichtigungen und Diskussionen teil und entwickeln gemeinsam einen vergleichenden Blick auf die Erinnerungskultur in Deutschland und den USA.

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Sie laden mit einem Projekt dazu ein, Erinnerungskultur in Deutschland und USA zu vergleichen. Warum?

Andreas Etges: Genau wie Deutschland müssen sich auch die Vereinigten Staaten mit ihrer schwierigen Geschichte auseinandersetzen. Dort geht es um ein historisches Erbe von Sklaverei und Rassentrennung, Ungleichheit, Diskriminierung und Gewalt. In den letzten Jahrzehnten wurden auch im Süden der USA neue Museen und Gedenkstätten eröffnet, die eine viel kritischere und integrativere Auseinandersetzung mit der Geschichte als früher bieten. Sowohl in Deutschland als auch in den USA gibt es viele Kontroversen darüber, wie Geschichte gelehrt, erzählt und aufgearbeitet werden soll, was erinnert, vergessen oder verzerrt wurde. Was wurde in Stein, Schrift oder Bild festgehalten, welche Erzählung war dominant, wie hat sich das im Laufe der Zeit verändert und welche Auswirkungen hat es heute? Diesen Fragen gehen wir im Rahmen des Projekts „Building a Critical Memory“ gemeinsam nach.

Das „Critical Memory Project“ ermöglicht den Diskurs und Erfahrungsaustausch zwischen Historikerinnen und Historikern und Menschen, die in der Praxis mit Geschichte und der Pflege des kulturellen Erbes in Deutschland und den USA zu tun haben. Wie kam Ihnen die Idee zu diesem besonderen Format und welche Erwartungen sind damit verknüpft?

Die Idee ist gemeinsam mit Margaret Huang, der Präsidentin des Southern Poverty Law Center (SPLC) in Montgomery, Alabama, entstanden. Das SPLC ist bekannt geworden durch seine Arbeit gegen den KuKluxKlan, den Kampf gegen Hassgruppen und Rassismus und den Einsatz für Bürgerrechte. Uns war schnell klar, dass wir keine akademische Konferenz organisieren wollten, sondern einen Austausch, der es Menschen, die mit Erinnerungskultur arbeiten, ermöglicht, das jeweils andere Land, die Bedingungen, Widrigkeiten und erfolgreichen Projekte dort genauer kennenzulernen, um sich gegenseitig zu inspirieren und eventuell auch langfristige Partnerschaften zu etablieren.

Dr. Andreas Etges

Dr. Andreas Etges

ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Amerika-Institut der LMU und forscht und lehrt zur kritischen Erinnerungskultur. | © privat

Was will die US-Delegation dabei speziell von Deutschland und in Deutschland lernen?

Deutschland wird häufig ein Vorbildcharakter zugeschrieben, wenn es um die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit geht. Im Zentrum steht dabei das Argument, dass eine Gesellschaft bestimmte Fortschritte nicht machen kann, solange sie nicht bereit ist, auch offen über die dunklen Seiten ihrer Geschichte zu sprechen und sie kritisch zu reflektieren. Es braucht die Akzeptanz der eigenen Schuld, auch wenn es dort wie hier um die Verbrechen früherer Generationen geht.

Klar ist, dass es auch bei uns blinde Flecken, Widerstände und Schwierigkeiten gab und gibt. Dass in Dachau auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers eine Erinnerungsstätte entstanden ist, war ja keine Initiative des Staates, sondern von Überlebenden, die sich dafür eingesetzt haben. In München, Nürnberg und Berlin stehen Führungen auf dem Programm, in denen ganz konkret die Frage im Mittelpunkt steht, wie deutsche Städte mit dem materiellen Erbe der NS-Zeit umgehen. Gemeinsam wollen wir im Rahmen des Projekts Versäumnisse und erfolgreiche Praktiken beleuchten und erörtern, wie man von der Verleugnung zu kollektiver Verantwortung kommen kann, wie Aufbau und die Pflege einer kritischen Erinnerung aussehen können.

Gelände des National Memorial for Peace and Justice in Montgomery

Gelände des National Memorial for Peace and Justice in Montgomery | © Irmgard Zündorf

Gibt es bereits Beispiele für Projekte, in denen es solche gegenseitigen Lerneffekte gegeben hat?

Eine der beeindruckendsten Memorial Sites in den USA ist das National Memorial for Peace and Justice in Montgomery, Alabama. Auf über 800 von der Decke hängenden Metallquadern wird mit Nennung von Namen, Ort und Datum an mehr als 4400 Schwarze erinnert, die durch Lynchmorde getötet wurden – einer für jeden Bezirk, in dem ein solcher Mord stattfand.

Bryan Stevenson, der Gründer und Vorsitzende der Equal Justice Initiative, auf deren Einsatz das Memorial zurückgeht, nennt als Inspiration für die Denkmäler explizit das Holocaust-Mahnmal in Berlin und das dezentrale Konzept der „Stolpersteine“, die überall in Europa an das Schicksal von Menschen erinnern, die durch die Nationalsozialisten deportiert, ermordet oder vertrieben wurden.

Die Idee hinter unserem Austausch ist unter anderem, diese Art von gegenseitiger Inspiration weiter anzustoßen und Möglichkeiten für Kooperationen und Förderungen zu entdecken. Manche unserer Partner im „Critical Memory Project“ haben in dieser Form bislang noch nie zusammengearbeitet.

Aktuell ist die gesellschaftliche Erinnerung an historische Schuld massiven Angriffen ausgesetzt.

Es gibt momentan fraglos einen Backlash gegen den Aufbau einer kritischen Erinnerung und den Übergang von der Verleugnung zur kollektiven Verantwortung, in den USA noch viel mehr als bei uns. Dort sind mit der neuen Regierung einige Institutionen, die sich der Erinnerungskultur verschrieben haben, unter Beschuss geraten.

In Texas und Florida werden ganze Geschichtslektionen aus Schulbüchern gestrichen und die Lehrpläne verändert. Die Frage danach, an was wir uns als Gesellschaft wie erinnern wollen, gewinnt gerade ganz neu an Bedeutung. Sowohl Deutschland als auch die USA kämpfen mit wachsendem Rassismus und Antisemitismus. Auch deshalb ist dieser Austausch für beide Seiten so wichtig.

Mehr zum Projekt Building a Critical Memory:

Das Projekt „Building a Critical Memory: Transitioning from Denial to Collective Responsibility in Germany and the United States“ startet am 28. März mit einem hybriden Diskussions-Panel im Amerikahaus in München mit prominenten Teilnehmerinnen und Teilnehmern wie Margaret Huang, der Präsidentin des Southern Poverty Law Center (SPLC), und Jim Grossman, dem Direktor des amerikanischen Historikerverbandes.
Partner des Projekts sind neben der LMU München das Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam (ZZF), das Deutsche Historische Institut in Washington, D.C., das Southern Poverty Law Center (SPLC) in Montgomery, das Carter Center der Jimmy Carter Presidential Library in Atlanta, das National Center for Civil and Human Rights in Atlanta und das Birmingham Civil Rights Institute. Die wichtigsten Geldgeber sind die Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) und die Halle Foundation in Atlanta.

Weitere Partner, die einen Teil der Finanzierung oder Sachleistungen unterstützen, sind das NS-Dokumentationszentrum und die Bayerische Amerika-Akademie/Amerikahaus in München, die KZ-Gedenkstätte Dachau, das Dokumentationszentrum Topographie des Terrors in Berlin, die Internationale Akademie Nürnberger Prinzipien und das Tempelhof Projekt.

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