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Exakte Unordnung

29.08.2022

Der Physiker Dmitri Efetov gibt der Erforschung des Werkstoffs Graphen einen neuen Twist – aus dem Magazin EINSICHTEN.

Manchmal hat Unordnung auch ihre guten Seiten. Manchmal muss nicht alles akkurat gestapelt sein. Manchmal sind es die kleinen Abweichungen von der Norm, die dabei helfen, Neues zu entdecken und auch auf bahnbrechende Ideen zu kommen.

Prof. Dr. Dmitri K. Efetov mit seinem Team im Labor

Wunderwerkstoff auf dem Schirm:

Dmitri Efetov (stehend) diskutiert mit Kollegen über das Verhalten von zweilagigen Graphen, wenn man es mit Strom oder Laserlicht malträtiert.

© LMU / Jan Greune

Physiker Dmitri Efetov ist ein Meister dieser kontrollierten Unordnung. Der gebürtige Bochumer mit Forschungsstationen in Barcelona, am Massachusetts Institute of Technology und der Columbia University ist seit August 2021 Inhaber des Lehrstuhls für Experimentelle Festkörperphysik an der LMU und stapelt allerdings nicht Bücher oder ausgedruckte Studien. Efetov stapelt Graphen, eine besondere, ultradünne Form des Kohlenstoffs. Und weil er dabei bewusst unordentlich vorgeht, führt das zu Effekten, die eines Tages in Quantencomputern oder beim verlustfreien Transport von Strom eine große Hilfe sein könnten. Vor allem aber führt Efetovs Stapeln zu einer neuen, noch großenteils unverstandenen Physik: der Twistronik.

Solche Überraschungen haben bei Graphen System. Der Stoff galt schon immer als sehr alltägliches Wundermaterial. Er steckt zum Beispiel in Bleistiften. Rutscht deren Graphitmine über ein Blatt Papier, bleiben darauf einzelne Kohlenstoffschichten hängen: Graphen. Das Material ist nur eine Atomlage dick und hat eine sechseckige Grundstruktur wie Bienenwaben oder ein sehr, sehr feiner Hasendraht.

Dieser geometrische Aufbau war seit langem bekannt. Erst 2004 gelang es Physikern jedoch, eine einzelne Lage des Materials herzustellen und zu vermessen – mit verblüffenden Ergebnissen: Graphen ist demnach leichter als Papier, zugleich aber 200-mal so fest wie Stahl. Es ist ein guter Wärmeleiter, und es leitet Strom besser als die meisten Metalle. Verantwortlich dafür sind die Elektronen im Graphen. Sie verhalten sich wie Lichtteilchen, die masselos und fast mit Lichtgeschwindigkeit durch die Welt flitzen.

Als änderten zwei Blätter plötzlich ihre Farbe

Muster des Fortschritts

Lesen Sie die neue Ausgabe unseres Forschungsmagazins EINSICHTEN unter www.lmu.de/einsichten | © LMU

Als 2010 der Physik-Nobelpreis für die Entdeckung des Graphens vergeben wurde, schien es der Wunderstoff geschafft zu haben. Er sollte, so das Versprechen, die Welt revolutionieren – vom wunderbar leitenden Transistor bis zum leichten, festen Tennisschläger. Doch die Revolution blieb aus, das Material enttäuschte im Praxiseinsatz. Graphen kam aus der Mode, auch in der Forschung. „Wir hatten damals das Gefühl, fast alles über dieses Material zu wissen, so dass keine großen Überraschungen mehr zu erwarten waren“, sagt Dmitri Efetov. „Als Grundlagenforscher ist das nichts, was einen begeistert.“

Doch dann bekam das Feld einen ganz neuen Twist. Forschende fragten sich: Was passiert, wenn wir Graphen stapeln – und zwar nicht so akkurat wie in der Graphit-Mine eines Bleistiftes, wo Atom über Atom sitzt, sondern etwas unordentlicher?

Als erstes hatte ein Team des Massachusetts Institute of Technology (MIT) in den USA den Dreh raus. Die Gruppe um Pablo Jarillo-Herrero konnte im März 2018 im Fachblatt Nature zeigen, dass zwei Graphenschichten, die um 1,1 Grad gegeneinander verdreht werden, überraschende Eigenschaften hervorbringen. Je nach Temperatur, Magnetfeld und angelegter Spannung konnten die Physikerinnen und Physiker das Material in einen Isolator verwandeln oder aber in einen Supraleiter, in dem Elektronen keinen Widerstand mehr erfahren. Es war, als änderten zwei Blätter plötzlich ihre Farbe, sobald sie ein bisschen verdreht würden. Eine neue Physik war geboren: Twistronik, ein Kunstwort aus Twist und Elektronik.

Efetov, damals noch am Institut de Ciències Fotòniques in Barcelona, zog 2019 nach. Zusammen mit seinem Team konnte er als weltweit dritte Forschungsgruppe den Effekt nachweisen. Mehr noch: Dem Team gelang es auch, die äußeren Bedingungen, bei denen der Stapel supraleitend wird, detaillierter zu erfassen.

Abgebremst wie zwei Autos auf der Münchner Leopoldstraße

Was in diesem gestapelten Graphen vor sich geht, ist noch immer nicht ganz verstanden. Klar ist, dass sich die Sechseckstrukturen der beiden verschobenen Graphenschichten überlagern. Druckt man die Muster auf zwei Folien aus und verdreht diese gegeneinander, zeigen sich durch die ungleiche Überlagerung der jeweiligen Linien dunklere und hellere Stellen. Ein deutlich größeres, ebenfalls sechseckiges Muster wird erkennbar.

Moiré-Effekt heißt das Phänomen, das auch an den Elektronen im Graphen nicht spurlos vorbeigeht. Die neue, übergeordnete Struktur verändert deren Verteilung. Zuvor noch lichtschnell, werden sie nun abgebremst wie Autos in der Rushhour auf der Münchner Leopoldstraße. Das hat Folgen: Auf einmal bekommen die Elektronen einander zu spüren, sie interagieren, sie sind „stark korreliert“, wie es in der Sprache der Physik heißt.

Genau diese Korrelation ist ein großes Thema in der modernen Festkörperphysik – theoretisch noch weitgehend unverstanden, mit vielen offenen Fragen und hoffentlich vielen Überraschungen. „Solche wechselwirkenden Elektronen hat uns eine Lage Graphen nie geboten“, sagt Efetov im Videogespräch.

Untersuchung von zweilagigem Graphen im Reinraum: Um Eigenschaften des Kohlenstoffsandwichs zu vermessen, muss es auf minus 272 Grad Celsius gekühlt sein.

© Jan Greune

Auch ein anderes, ebenfalls ungenügend verstandenes Gebiet der Physik bringt die Forschung mit korrelierten Elektronen in Verbindung: Supraleitung bei vergleichsweise hohen Temperaturen. Das Ganze ist weit mehr als eine theoretische Spielerei. Sollte es eines Tages gelingen, Strom bei Raumtemperatur verlustlos zu transportieren, würde das die Energieversorgung revolutionieren. Antworten auf die Frage, warum und unter welchen Umständen Elektronen im verdrehten Graphen keinen Widerstand mehr spüren, könnten hier entscheidende Hinweise geben.

Die Twistronik erlaubt, so die ersten Erkenntnisse aus Efetovs Labor, aber auch Einblicke in Phänomene des Magnetismus, in Isolatoren und sogar in exotische Zustände, die mit der Physik Schwarzer Löcher in Verbindung gebracht werden. „Bislang sind diese Fragestellungen immer nur bei unterschiedlichen Materialien aufgetaucht“, sagt Efetov. „Dass sie alle in einem Material existieren – im verdrehten Graphen – ist neu und eröffnet ein riesiges Spielfeld sowie eine zuvor unbekannte Physik.“

Nur Graphit und ein einfaches Klebeband

Hinzu kommt, dass das Material vergleichsweise simpel hergestellt werden kann. Es reicht, wie schon bei der Entdeckung, die zum Nobelpreis führte, ein transparentes Klebeband aus dem Regal mit Bürobedarf. Efetov klebt es auf einen Graphitkristall und zieht es wieder ab. Graphenschichten bleiben darauf haften. Eine der Schichten wird mit einem Plastikstempel angehoben, um 1,1 Grad verdreht und auf die andere gelegt. Fertig. „Rein vom Konzept ist das extrem einfach“, sagt Dmitri Efetov. „Man kann sich das wirklich wie zwei Blätter Papier vorstellen, die leicht verdreht aufeinandergelegt werden.“

Im Detail ist es natürlich nicht so einfach. Die verdrehten Schichten, Ordnung muss sein, bewegen sich gerne zurück in die akkurat gestapelte Ausgangsstellung des Graphits. Sie verspannen sich, wenn sie übereinander gerollt werden. Sie liegen nicht plan auf. Wer schon einmal versucht hat, eine Schutzfolie auf den Bildschirm eines Smartphones zu rollen und an den Luftblasen unter der Folie verzweifelt ist, kennt die Probleme. „Es hat Jahre und Jahre gedauert, bis wir eine Methode gefunden hatten, die gute Resultate liefert“, sagt Efetov.

1,1 Grad: der magische Winkel

In einem Reinraum, wie er gerade an der LMU zur Erforschung der Graphenschichten umgebaut wird, befestigt Efetov dann winzige Kontakte am Kohlenstoffsandwich. Anschließend geht es in einen Superkühlschrank, einen sogenannten Kryostaten. Da die Supraleitung erst bei minus 272 Grad Celsius auftritt, muss die Probe fast bis zum absoluten Nullpunkt abgekühlt werden. Ist das alles geschafft, kann endlich gemessen werden.

Im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses steht dabei, wie sich die Elektronen im doppellagigen Graphen bewegen. Efetov und sein Team legen dazu eine kleine Spannung an die Kontakte an. Wobei „klein“ übertrieben ist, es sind nur einige Milliardstel Volt. Das Team variiert diese Spannung und schaut, wie sich das auf den Strom auswirkt, der durch die Probe fließt. Der Strom, wenige Billionstel Ampere, wird gemessen. Er wird verstärkt, entrauscht und verrät dann – hoffentlich – was im Graphen vor sich geht.

Efetov malträtiert das Material aber nicht nur mit elektrischer Spannung. Auch Laserlicht kommt zum Einsatz und führt ebenfalls zu seltsamem Verhalten. So seltsam, dass sich daraus eine der möglichen Anwendungen des verdrehten Graphens ergibt: Fällt ein Lichtteilchen auf die Struktur, springt diese aus ihrem supraleitenden Zustand zurück in den Normalzustand, was den Messgeräten direkt auffällt. „Mit solch einem Detektor können wir ein einzelnes Lichtteilchen ausmessen“, sagt Efetov. Interessant ist das zum Beispiel für Quantencomputer, die mit Licht rechnen und derzeit entwickelt werden. Aber auch in der Quantenkommunikation, bei der Informationen abhörsicher über Glasfasern geleitet werden und anschließend detektiert werden müssen, könnte solch ein Gerät zum Einsatz kommen.

Grundlagenforscher Dmitiri Efetov in seinem neuen Büro: „Das Stapeln von Materialien wie Graphen könnte das Werkzeug sein, das uns den Weg zu einer neuen Physik öffnet.“

© Jan Greune

Die Tür zu einer neuen Physik öffnen

Noch ist das Theorie, und noch gibt es viel zu erkunden bei der Twistronik. Forschungsteams haben gerade damit begonnen, mehr als zwei verdrehte Schichten zu stapeln. Drei, vier oder sogar fünf Graphenlagen haben sie inzwischen untersucht – immer in der Hoffnung, die Supraleitung so zu höheren Temperaturen treiben zu können, insbesondere in Richtung der Raumtemperatur. Noch schaut es nicht danach aus. Ob dies prinzipiell unmöglich ist oder nur an schlecht gestapeltem Graphen liegt, ist allerdings offen. Auch andere Materialien wie Molybdänsulfid, ein Schmiermittel, das ebenfalls aus einzelnen Lagen besteht und somit gestapelt werden kann, sind ein interessantes Thema für die Forschung.

Efetov setzt auf einen anderen Ansatz: Einige der heutigen Hochtemperatur-Supraleiter sind ebenfalls geschichtet. Warum nicht eine Lage extrahieren, mit einer zweiten Lage unordentlich stapeln und schauen, was passiert? Vielleicht steigt ja die Temperatur.

Noch mehr als jede Anwendung steht für Dmitri Efetov aber die grundlegende, die neue Physik der verdrehten Schichten im Mittelpunkt. Mit gestapeltem Graphen existiert nun eine vergleichsweise einfache Methode, um in diese Welt einzutauchen, um ihre seltsamen Regeln zu entdecken und physikalische Lehren daraus zu ziehen. Unordnung ist dabei Mittel zum Zweck: „Wir wollen diese exotischen Zustände verstehen“, sagt Dmitri Efetov. „Das Stapeln der Materialien ist das Werkzeug, das uns die Tür zu dieser Physik öffnet.“

Prof. Dr. Dmitri Efetov ist seit 2021 Inhaber des Lehrstuhls für Experimentelle Festkörperphysik an der LMU. Efetov, Jahrgang 1980, studierte Physik an der ETH Zürich und forschte für seine Diplomarbeit bereits an der Columbia University in New York, wo er später auch seinen Ph.D. machte. Danach wechselte er als Postdoktorand an das Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge, USA, bevor er 2017 an das Institut de Ciències Fotòniques (ICFO) in Barcelona ging. 2019 zeichnete ihn der Europäische Forschungsrat mit einem seiner prestigeträchtigen Starting Grants aus.

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