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Flugblätter im Zweiten Weltkrieg: „Ei ssörrender“

16.09.2024

Von der Aufforderung, sich zu ergeben: Am Historischen Seminar haben Studierende eine Ausstellung zu Kriegspropaganda und Flugblättern im Zweiten Weltkrieg konzipiert.

Studierende und Kursleiter stehen nebeneinander vor Tafeln der Ausstellung

Benedikt Sepp und Roman Schwarz (3. u. 2. v. r.) mit Studierenden aus dem Kurs. | © LMU

Im Zweiten Weltkrieg waren Flugblätter ein Teil der Kriegsführung aller Parteien. Millionenfach wurden sie von Flugzeugen abgeworfen – darunter auch das letzte Flugblatt der Weißen Rose. Am Historischen Seminar der LMU hat Dr. Benedikt Sepp in einem Kurs mit Studierenden eine Ausstellung dazu konzipiert. Im Interview sprechen er und Roman Schwarz, einer der Teilnehmenden, der nun für die Öffentlichkeitsarbeit der Ausstellung zuständig ist, über die Auswirkungen der Flugblätter auf den weiteren Kriegsverlauf.

Der Inhalt von Flugblättern, die im Zweiten Weltkrieg verbreitet wurden, war oft eine Mischung aus Wahrheit, Propaganda und Falschmeldungen. Lässt sich das mit manchen heutigen Social-Media-Kanälen vergleichen?

Benedikt Sepp: In gewisser Weise kann man sie vielleicht tatsächlich als Vorgänger von diesen Fake-News-Schleudern verstehen. Zwar richteten sich die Flugblätter zielgerichteter an die Adressaten als heutige Falschmeldungen. Aber in beiden Fällen werden verschiedene Wahrheitsregime mit einem klaren Zweck aufgebaut. Bei den Flugblättern war dieser, Soldaten zur Kapitulation oder sogar zu Sabotage zu bewegen. Sie werden übrigens bis heute von den Militärs eingesetzt.

Roman Schwarz: Wobei Flugblätter nicht immer Fake News enthielten, manche waren auch wahrheitsgetreu.

Flugblätter waren neben dem Radio das wichtigste Element der psychologischen Kriegsführung. Was war darauf zu lesen?

Sepp: Das war ganz unterschiedlich. Wir haben uns vor allem mit Flugblättern beschäftigt, die an der Front verbreitet wurden. Da ging es oft um vermeintliche Aufklärung über Propaganda. Also zum Beispiel, dass es angeblich viel weniger Panzer gibt, als die eigene Regierung glauben machen will. Ein weiteres Thema waren Passierscheine für Soldaten. Auf denen stand, wie man die Waffe wegwirft und kapituliert.

Schwarz: Auf US-amerikanischen Flugblättern für deutsche Soldaten wurden oft die Speisepläne für Kriegsgefangene gedruckt. Die Sowjetunion ergänzte das um Bilder von essenden Soldaten im Plausch mit russischen Offizieren. Die Amerikaner versprachen sogar Weiterbildungsangebote. Damit wollte man ein positives Bild von der Kriegsgefangenschaft zeichnen und die Soldaten zum Aufgeben bewegen.

Propagandaflugblatt aus dem Zweiten Weltkrieg mit der Aufschrift Ei Sörrender

Flugblatt aus dem Zweiten Weltkrieg. „Viele Soldaten wussten wegen der Sprachbarriere nicht, wie man kapituliert“, erklärt Historiker Benedikt Sepp.

Flugblätter für verschiedene Zielgruppen

Was waren weitere Inhalte von Flugblättern?

Sepp: Neben aufwendigen Grafiken, brutalen Bildern von verstümmelten Leichen oder erotischen Zeichnungen gab es häufig auch emotionale Appelle. Beispielsweise, die Soldaten müssten endlich wieder ihrer Verantwortung für die Familie nachkommen. Immer wieder wurde auch die eheliche Treue der Frau aufgegriffen. Als Dresden bombardiert wurde, hat die Royal Air Force der Bevölkerung per Flugblatt versucht zu erklären, warum dies nötig ist.

Flugblätter wurden millionenfach über feindlichem Gebiet abgeworfen – aber wurden sie auch gelesen?

Sepp: Darüber gibt es nur eingeschränkte Kenntnisse, weil der Besitz streng verboten war. Meine Großmutter zum Beispiel hat mehrere Abwürfe erlebt, sich aber nicht getraut, eines der Flugblätter aufzuheben. Kurz vor dem D-Day haben die Alliierten auf diese Art versucht, die Deutschen über ihre Dominanz aufzuklären. Danach haben sich tatsächlich viele Menschen ergeben. Doch vermutlich hätten sie das angesichts der Belagerung deutscher Städte auch so getan. Eine Studie der US Army in den 1950er-Jahren ergab, dass vor allem Flugblätter für Kinder erfolgreich waren. Sie wussten nicht, dass das Lesen verboten war, und haben die Informationen oft in die Familien hineingetragen. Auch die Passierscheine wurden später oft eingenäht in den Wehrmachtsuniformen gefunden.

Haben sich Inhalt und Gestaltung der Flugblätter im Verlauf des Zweiten Weltkriegs geändert?

Sepp: Dazu gibt es keine systematische Untersuchung. Mein Eindruck ist, dass vor allem die sowjetische Propaganda durch die steigende Anzahl von Kriegsgefangenen sprachlich und durch die Insiderinfos inhaltlich immer besser wurde. Gegen Kriegsende ging es weniger um inhaltliche Themen, stattdessen wurden die Speisepläne in Gefangenschaft immer mehr zum schlagenden Argument. Zu dieser Zeit wurden Flugblätter bereits in mobilen Druckereien in Frontnähe gedruckt. Die deutschen Flugblätter hingegen wurden immer schlechter, vor allem sprachlich – vermutlich, weil viele Übersetzer schon gestorben waren.

Schwarz: Nach dem Fall des italienischen Regimes 1943 berichteten die Alliierten auch oft auf Flugblättern, dass es Deutschland bald genauso ergehe.

Wer entschied darüber, was auf den Flugblättern stand?

Sepp: In der Regel Propagandaabteilungen, die in den Armeen angesiedelt waren. In der Sowjetunion ging es zu Kriegsbeginn noch sehr zentralistisch zu, im weiteren Verlauf wurde die Verantwortung aber weiter nach unten verlagert. Teilweise richteten sich die Flugblätter sogar an einzelne Einheiten und verbreiteten auch Klatsch und Tratsch. Viele Inhalte wurden von prominenten geflohenen Oppositionellen verfasst. Auf sowjetischer Seite zum Beispiel vom kommunistischen Politiker Walter Ulbricht, bei den Alliierten unter anderem von Klaus Mann, dem Sohn des Literaturnobelpreisträgers Thomas Mann.

Flugblätter aus privater Sammlung

Wie entstand die Idee, eine Ausstellung zu Flugblättern zu organisieren?

Sepp: Bisher gab es nur wenige seriöse Quellen. Klaus Kirchner, auf dessen privater Sammlung die Ausstellung basiert, hat als Kind während des Zweiten Weltkriegs Flugblätter gesammelt und sie zu seinem Lebensthema gemacht. Er kaufte und tauschte und baute sein Haus in eine Art Privatmuseum um. Sein Bestand war in dieser Größe sicher einmalig und ein Glücksfall für die Forschung. Nach seinem Tod kaufte das Weisse Rose Institut einen Teil des Nachlasses.

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In der Ausstellung wird auch das letzte Flugblatt der Weißen Rose gezeigt, das von der Royal Air Force über den deutschen Linien abgeworfen wurde. Wie gelangte das in die Hände der Briten?

Sepp: Die Geschwister Scholl wurden beim Verteilen des Flugblattes in der LMU verhaftet. Doch über den Widerstandskämpfer Helmuth James Graf von Moltke gelangte es über Skandinavien nach Großbritannien. Dort wurde es in einer Millionenauflage gedruckt und verteilt. Damit wollte man den Deutschen zeigen, dass die Geschlossenheit weit weniger groß ist, als von den Nationalsozialisten propagiert wurde. Auch ein sowjetisches Flugblatt nahm darauf Bezug und bezeichnete die Mitglieder der Weißen Rose als „Helden“ und „Vorbild“ für alle Deutschen.

Wer die Ausstellung besucht, lernt unter anderem auch, dass Flugblätter nicht nur mit Flugzeugen abgeworfen wurden.

Sepp: Ja, das ist ein sehr faszinierendes Thema. Es gab verschiedene Techniken, die schon lange historisch erprobt sind. Beispielsweise wurden Flugblätter einfach an Ballons gehängt. Bekannt ist auch Artilleriemunition, die statt Sprengstoff Flugblätter enthält. Die Wehrmacht ging sogar noch einen Schritt weiter und entwickelte eine Rakete, die in 1000 Meter Höhe Flugblätter verteilen konnte. Bis heute hat die Bundeswehr Flugballons im Bestand, die eine Klappe öffnen und dadurch Flugblätter verteilen können.

Kurs mit Studierenden

Die Ausstellung wurde im Rahmen eines Kurses mit Studierenden entwickelt. Wie kam der Kurs bei den Studierenden an?

Schwarz: Wir waren alle sehr motiviert. Am Anfang des Semesters gab es verschiedene Expertenvorträge. Mich hat vor allem interessiert, wie sich die Bedeutung von Flugblättern aus wissenschaftlicher Perspektive im Laufe der Zeit verändert hat. Es handelt sich dabei ja um ein sehr altes Medium. Es gab sogar einen Besuch im Archiv des Weisse Rose Instituts. Besonders fasziniert haben mich zusammengerollte Flugblätter, die beim Abwurf nicht auseinandergegangen sind.

Sepp: Geschichtsstudierende bekommen selten etwas echt Altes in die Hand. Der Nachlass von Klaus Kirchner war nicht in sauberen Archivboxen verpackt, sondern inzwischen verschimmelt, teilweise verbrannt oder zerbröselt. Da lag Geschichte auf dem Schreibtisch. Daher war es nicht verwunderlich, dass der Kurs schnell ausgebucht war. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren entsprechend motiviert und haben sich ordentlich hineingekniet, um diese Ausstellung auf die Beine zu stellen.

Propagandaflugblatt mit gezeichnetem Neptun

Auch auf Gottheiten und die Antike wurde in manchen der Propagandaflugblätter zurückgegriffen.

Welche Flugblätter sind Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?

Schwarz: Ein italienisches Flugblatt, auf dem der römische Meeresgott Neptun abgebildet ist. Während im Hintergrund Panzer und Leichen versinken, sagt er auf Englisch sinngemäß: „Was für eine großartige Ausbeute.“ Als Lateinstudent hat mich fasziniert, wie auf Gottheiten und die Antike zurückgegriffen wurde.

Sepp: Ich habe zwei Stücke, die sich mir besonders eingeprägt haben: Ein simples Dokument, auf dem „Ei ssörrender“ steht. Denn viele Soldaten wussten wegen der Sprachbarriere nicht, wie man kapituliert. Das zeigt, dass die Flugblätter im Feld und nicht am Schreibtisch gelesen wurden und welchen konkreten Zweck sie erfüllen sollten. Das zweite ist ein Flugblatt, das sich an eine bestimmte Division in Schwaben richtete. Dabei wurde an den „Schwabenstolz“ appelliert. Das zeigt, wie kleinteilig und spezifisch Flugblätter adressiert waren.

Zur Ausstellung:

Eine Bombe voller Blätter. Ausstellung über Propagandaflugblätter aus dem Zweiten Weltkrieg"

Verlängert bis 15. Oktober 2024

Eingangsbereich der Fachbibliothek Historicum, Schellingstraße 12, 80799 München

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