Fossile Larven: Leben auf engstem Raum
19.08.2022
Larven mit extrem vergrößertem Rumpf aus fossilem Bernstein geben LMU-Zoologen Einblick in die Evolution der frühen Netzflügler und ihrer Lebensweise.
19.08.2022
Larven mit extrem vergrößertem Rumpf aus fossilem Bernstein geben LMU-Zoologen Einblick in die Evolution der frühen Netzflügler und ihrer Lebensweise.
In Baumharz erstarrt und dabei wie in einer Zeitkapsel konserviert: In Bernstein eingeschlossene Fossilien geben detaillierte Einblicke in die Anatomie längst ausgestorbener Arten. Die LMU-Zoologen Prof. Joachim T. Haug und Dr. Carolin Haug haben in etwa 100 Millionen Jahre altem Bernstein aus Myanmar fossile Netzflüglerlarven (Verwandte von Florfliegen) aus der Kreidezeit mit auffällig stark vergrößerten Hinterleibern entdeckt. „Es handelt sich dabei um den bislang ältesten Fund sogenannter hypogastrischer Insekten, die ihren Hinterleib extrem vergrößern können“, so Haug.
Dieses auch als Physogastrie bezeichnete Phänomen kommt auch bei vielen rezenten Arten von Insekten und anderen Gliederfüßern vor. Grundlage ist eine starke Faltung der äußeren Körperhülle, die bei Bedarf eine starke Vergrößerung des Körpervolumens erlaubt. Auf diese Weise können etwa Zecken beim Blutsaugen enorm an Umfang zugewinnen oder Honigtopfameisen ihren Hinterleib als voluminösen Nektarspeicher für die Kolonie verwenden. Ein weiteres Beispiel: Raupen, die im Laufe ihrer Entwicklung in den Larvenstadien bis zur Verpuppung sehr viel fressen und dabei schnell an Körpervolumen zunehmen.
Bei manchen hypogastrischen Arten erlauben zusätzlich regelmäßige Häutungen eine noch stärkere Vergrößerung des Rumpfes. Hinweise auf solche Häutungen fanden die Forschenden auch bei den fossilen Larven aus dem Bernstein, deren Körperbau und -proportionen sie mit rezenten Arten verglichen. Anhand morphologischer Merkmale, vor allem des Kopfes und der Mundwerkzeuge, konnten die Zoologen die fossilen Larven innerhalb der Netzflügler (Neuroptera) der Gruppe Berothidae zuordnen. Da die Larven einiger rezenter Arten Phasen ihres Larvenstadiums in Termitennestern verbringen, vermuten die Forschenden, dass auch die fossilen Larven so gelebt haben könnten.
„Larven der Berothiden leben oft räuberisch – man könnte es auch parasitisch nennen – in engen Gängen von Termitenbauten, was diese Annahme unterstützen würde“, so Haug. Häufig trete Physogastrie im Zusammenhang mit einem Leben in engen Räumen auf und sei mit einer speziellen Jagdstrategie verknüpft: „Die Larven füllen mit ihrem Körper die Gänge fast komplett aus, sodass die Beute nicht mehr entkommen kann.“ Trotz dieser Annahmen über die Lebensweise der neu gefundenen fossilen Larven ist die Rekonstruktion ihres kreidezeitlichen Lebensraums noch nicht abgeschlossen: „Es gibt aus anderen Studien auch viele Hinweise auf fossile Netzflüglerlarven, die in Totholz lebten, und sogar einige wenige auf eine grabende Lebensweise in oberen Bodenschichten.“
Fest steht: Da Physogastrie innerhalb der Gliederfüßer (Euarthropoda) sehr unregelmäßig verteilt ist, hat sich das Merkmal im Lauf der Evolution wohl mehrmals unabhängig voneinander entwickelt. Durch den Fund der fossilen Netzflüglerlarven ist nun außerdem klar, dass es Physogastrie in der Evolutionsgeschichte der Gliederfüßer bereits vor mindestens 100 Millionen Jahren gegeben haben muss. Der Fund stellt den bislang ältesten Nachweis bei Insekten dar.
„Insgesamt gab es in der Kreide offensichtlich mehr Formenvielfalt bei den Larven der Netzflügler, als es heute der Fall ist“, so Haug. Vieles ist seitdem wieder verschwunden, die Larven der meisten rezenten Netzflüglerarten sind schnelle und schlanke Jäger. Doch daneben hat auch die Strategie der Berothiden überdauert. Noch immer entwickeln die Larven dieser Gruppe eine beachtliche Körperfülle: „Das scheint seit 100 Millionen Jahren zu funktionieren, denn das Merkmal der Physogastrie hat sich erhalten.“
Joachim T. Haug, Carolin Haug: 100 Million-year-old straight-jawed lacewing larvae with enormously inflated trunks represent the oldest cases of extreme physogastry in insects. Scientific Reports 2022