Fühlen, was andere fühlen
18.12.2023
Was bedeutet Empathie angesichts der Krisen der Welt? Ein Interview mit Philosophin Monika Betzler über Mitgefühl und Moral.
18.12.2023
Was bedeutet Empathie angesichts der Krisen der Welt? Ein Interview mit Philosophin Monika Betzler über Mitgefühl und Moral.
Frau Professorin Betzler, die Nachrichten werden von Krisen dominiert, von Kriegen und Naturkatastrophen, sodass man mit dem Mitfühlen kaum nachkommt. Wie ist Ihre Sicht als Philosophin darauf?
Monika Betzler: Täglich mit Opfern aller Krisen auf der Welt im vollen, affektiven Sinne Empathie zu empfinden, mit Kriegsflüchtigen, Geiseln, Betroffenen von Naturkatastrophen, Bergarbeitern in Grubenunglücken, das geht schlichtweg nicht. Denn diese tiefere Form von Empathie erfordert so viele kognitive und emotionale Ressourcen, dass sie die Aufmerksamkeit steuert, überfordert und erschöpft. Man spricht auch vom „depletion effect“. Diesen vermeiden Nachrichtenbeiträge und Spendenaufrufe, wenn sie nur einzelne Betroffene zeigen. Sich in solche „partikularen Personen“ hineinzuversetzen, ist viel einfacher.
Moralisch ist das aber problematisch, weil es ablenken kann von Themen, die mindestens ebenso wichtig sind. Für Journalisten ergibt sich damit auch eine ethische Frage: Ist es nötig, Bilder von konkreten Einzelfällen zu zeigen, die so persönlich sind, dass Rezipienten eine starke Empathie entwickeln? Denn Mitgefühl mit Einzelschicksalen, die wir etwa im Fernsehen sehen, kann die Fähigkeit zu unparteilichen Moralüberlegungen einschränken.
Wenn ich tiefe Empathie mit der Angst eines Gegenübers habe, verliere ich den Überblick, ob dessen Angst überhaupt angemessen ist und somit meine Empathie verdient. Gleichzeitig verhindert dies zu überlegen, ob andere mehr meiner Aufmerksamkeit verdienen. Empathie kann nicht nur unbegründete Gefühle verstärken, sondern auch schnell zu Parteilichkeit führen.Monika Betzler
Basiert Moral nicht auf Empathie?
Zwar glaubten schon schottische Aufklärer wie der Philosoph David Hume, dass Empathie die Basis der Moral ist, und auch moderne Philosophen sehen eine enge Verbindung. Denn natürlich kann Empathie zu „prosozialem Handeln“, wie Psychologen es nennen, führen. Ich sehe das jedoch kritisch. Denn wenn ich tiefe Empathie mit der Angst eines Gegenübers habe, verliere ich den Überblick, ob dessen Angst überhaupt angemessen ist und somit meine Empathie verdient. Gleichzeitig verhindert dies zu überlegen, ob andere mehr meiner Aufmerksamkeit verdienen. Empathie kann nicht nur unbegründete Gefühle verstärken, sondern auch schnell zu Parteilichkeit führen.
Was genau verstehen Sie als Philosophin unter Empathie?
Zunächst versteht die analytische Philosophie unter Empathie einen komplexen mentalen Zustand, der sich mit dem einer anderen Person „verschachtelt“. Eine Form davon, die kognitive Empathie, setzt lediglich die imaginative Fähigkeit voraus, sich in das mentale Leben anderer hineinzuversetzen oder „sich in die Schuhe des anderen zu stellen“, wie es im Englischen heißt. Bei der stärkeren Form, der „affektiven Empathie“, versetzt man sich so intensiv in den Gefühlszustand der anderen Person, dass man tatsächlich „mitzufühlen“ scheint.
Wenn diese Person zum Beispiel Angst empfindet – vor einem gefährlichen Tier, einem Einbrecher oder einer Situation im Krieg – und ich meine volle Aufmerksamkeit auf ihre aktuelle Erfahrung richte und mich in sie hineinfühle, dann erlebe ich etwas wie eine „Quasi-Angst“. Dabei ist mir immer noch bewusst, dass dieses Gefühl sich originär auf den anderen und nicht mich selbst bezieht – im Gegensatz zur weniger komplexen „emotionalen Ansteckung“ etwa bei Babys: Wenn eines weint, fangen die anderen auch an. Dennoch ist der Zustand voller affektiver Empathie so komplex, dass er in Bezug auf eine Gruppe überfordernd und fast unmöglich ist.
Wie ist die Philosophie zur heutigen Definition von Empathie gekommen?
Zunächst entwickelte sie sich im späten 19. Jahrhundert, allerdings in Bezug auf ästhetische Werke, also Gemälde und Literatur. Der dabei verwendete deutsche Begriff „Einfühlung” wurde mit „empathy“ ins Englische übersetzt und dann mit „Empathie“ wörtlich rückübersetzt. Ein weiterer historischer Vorläufer geht bis zur schottischen Aufklärung im 18. Jahrhundert zurück. Damals stand Empathie unter dem Begriff „sympathy“ im Fokus. Der Ökonom und Philosoph Adam Smith definierte sie als „fellow feeling“, das es ermöglicht, auf Leid oder Freude anderer zu reagieren und teilweise das zu fühlen, was sie fühlen.
Studien belegen, dass wir mit Kindern eher Empathie haben als mit Alten, mit Hübschen eher als mit Hässlichen, eher mit solchen, die uns ähneln, als mit anders Aussehenden. Moralisch ist das natürlich fragwürdig.Monika Betzler
Mit wem haben wir Empathie?
Möglich ist Empathie mit Menschen – oder grundsätzlich Wesen mit Bewusstsein – und möglicherweise auch mit Tieren. Mit einem Stein dagegen kann man keine Empathie haben. Studien belegen, dass wir mit Kindern eher Empathie haben als mit Alten, mit Hübschen eher als mit Hässlichen, eher mit solchen, die uns ähneln, als mit anders Aussehenden. Moralisch ist das natürlich fragwürdig. Andere wichtige Faktoren sind geteilte Erfahrungswerte – auch grundmenschliche wie das Empfinden von Todesangst. Aber das hat Grenzen. Die konkrete Situation eines ukrainischen Soldaten zum Beispiel, der im Schützengraben liegt, kann ich persönlich mir beim besten Willen nicht hinreichend gut vorstellen. Grundsätzlich ist Empathie eine „zweipersonale Einstellung“, die sich auf die Komplexität des mentalen Lebens eines anderen Wesens richtet.
Machen digitale Medien es noch schwerer, Empathie moralisch sinnvoll zu lenken?
Sicherlich durch die Nachrichtenflut, andererseits durch die Tatsache, dass das Internet oft eine polarisierte Welt ist, in der Algorithmen uns mit genau den Menschen verknüpfen, die so „ticken“ wie wir. Dadurch verlernen wir, uns in jemanden hineinzuversetzen, der etwa politisch in einer anderen „Bubble” lebt. Zudem laufen wir durch den überproportionalen menschlichen Kontakt über soziale Medien Gefahr, ein konkretes Gegenüber nicht mehr „lesen“ zu können, um an seinen realen Erfahrungswelten teilzuhaben. Empathie ist schwer möglich, wenn man sich nicht begegnet.
Sollte man Empathie für andere, die einem nur virtuell oder als Gruppen bekannt sind, also aus philosophisch-moralischer Sicht unterdrücken?
Zumindest sollte man noch davon zurücktreten können – um zu überlegen, was in dieser Situation tatsächlich moralisch gefordert ist. Vielleicht wird man Betroffenen mit abstrakteren Überlegungen gerechter – dass sie Menschen mit Würde, Rechten und Ansprüchen sind etwa. Damit kann man ihnen gegebenenfalls besser helfen als mit dem tiefen Einfühlen in ihre Erfahrungswelt.
Es ist fragwürdig, ob Empathie im Politischen überhaupt die richtige Einstellung ist – eine Einstellung, die sich ja konkret an einzelne Menschen richtet. Gerichtet auf eine generalisierte Gruppe, kann sie so überfordern, dass sie moralisch sinnvolles Handeln möglicherweise bremst.Monika Betzler
Ist der Verweis auf Empathie also der falsche Ansatz, um Handeln zu leiten – und weltpolitisches Geschehen zu beurteilen?
Aus meiner Sicht ja. Barack Obama sagte über den Zustand der Welt einmal: „Wir haben ein Empathie-Defizit.“ Aber ich finde das viel zu undifferenziert und über-idealisiert. Denn es ist fragwürdig, ob Empathie im Politischen überhaupt die richtige Einstellung ist – eine Einstellung, die sich ja konkret an einzelne Menschen richtet. Gerichtet auf eine generalisierte Gruppe, kann sie so überfordern, dass sie moralisch sinnvolles Handeln möglicherweise bremst. Ich denke, viel eher als das Teilen von Emotionen braucht es hier Mitgefühl in einem weiteren Sinne – ein Verständnis, eine Kommunikation.
Kann Empathie im Angesicht des aktuellen Zustands der Welt dennoch helfen?
Auf zwischenmenschliche Beziehungen mit dem Partner, Familienmitgliedern, Freunden, Kollegen bezogen ganz sicher. Denn da hat Empathie einen inhärenten Wert: die Nähe. Sie bringt uns anderen Menschen und ihrer Erfahrungswelt näher, schafft Intimität, Anerkennung, Verständnis und Bindung. Damit ist sie ein Kitt für soziale Bindungen, die wiederum ein menschliches Grundbedürfnis sind und Kraft spenden. Kinder erfahren durch die Empathie der Eltern eine Wertschätzung ihrer Perspektive, die es ihnen erst ermöglicht, eine Identität zu erwerben – weil der Mensch quasi im Spiegel der anderen er selbst wird. Und auch Erwachsene erfahren gerne Empathie. Weil wir Menschen es brauchen, uns gesehen zu fühlen.
Professorin Monika Betzler hat seit 2014 den Lehrstuhl für Praktische Philosophie und Ethik an der LMU inne. Sie betreibt Grundlagenforschung im Bereich der Moraltheorie, der Metaethik, der Moralpsychologie sowie der angewandten Ethik und befasst sich unter anderem mit Theorien des guten Lebens.
Ein Schwerpunkt liegt auf relationalen Aspekten, etwa der Analyse von Fähigkeiten wie Empathie, Verzeihen, Bewunderung, Aufmerksamkeit in Beziehungen.