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„Geistesarbeit ist ein sozialer Prozess“

06.07.2023

Seit Herbst hat Carlos Spoerhase den Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturwissenschaft mit Schwerpunkt Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts inne.

Professor Spoerhase mit blauem Hemd vor dem Philologicum der LMU

Professor Carlos Spoerhase | © LMU

Mit grundlegenden, ganz praktischen Fragen der Literaturwissenschaft und -produktion befasst sich Professor Carlos Spoerhase. So beschäftigt ihn unter anderem die Frage des literarischen Formats und welchen Einfluss dieses auf die Form und den Inhalt von Texten hat. „Man kann beobachten, dass sich im 19. Jahrhundert Erzähltexte geändert haben, je nachdem, in welchem Format sie präsentiert wurden“, erläutert Spoerhase. „Adalbert Stifter zum Beispiel hat aus finanziellen Gründen seine Erzählungen in Journalen publiziert und erst später zum Buch umgearbeitet – zum Teil mit starken Änderungen, etwa Stil, Syntax oder die Struktur des Textes betreffend“, sagt Spoerhase. Das materielle Format, in dem Literatur zirkuliere, bestimme eben nicht nur die äußerliche Erscheinung, sondern auch den Text selbst.

Eine Frage des Formats

Dies gelte aber nicht nur bei der Produktion literarischer Texte. „Ich habe versucht, zu rekonstruieren, wie Geisteswissenschaftler ihre Themen auf sehr formatspezifische Weise bearbeiten“, so der Literaturwissenschaftler. So konnte Spoerhase am Beispiel des renommierten Literaturwissenschaftlers, -kritikers und Essayisten Peter Szondi zeigen, dass dieser bei der Umarbeitung seines Habilitationsvortrags zunächst zu einem Aufsatz, dann zu einem Essay, schließlich zu einem Essayband immer wieder zum Teil erhebliche Anpassungen vorgenommen habe – je nachdem, in welcher Publikation der Text erscheinen sollte. „Das jeweilige Publikum wurde mitgedacht; wenn etwa ein wissenschaftlicher Text in einer Zeitung erscheinen soll, muss er entsprechend den Lesegewohnheiten der Zielgruppe bearbeitet werden.“

Das ist ein weiterer wichtiger Aspekt in Spoerhases Forschung: Dass nämlich Literaturproduktion und Geisteswissenschaft ausgesprochen soziale Tätigkeiten sind, auch wenn das Stereotyp des einsam am Schreibtisch und zwischen Bücherregalen versunkenen, ja geradezu antisozial wirkenden Geistesarbeiters medial immer wieder genutzt wird, um dessen Arbeitsweise darzustellen.

Dabei gebe es zahlreiche Personen, die am Schaffensprozess beteiligt seien: „Es gibt Assistenten, die zuarbeiten, Familienmitglieder, Kollegen oder Studierende, die wichtige Anregungen geben“, unterstreicht Spoerhase, dessen jüngst erschienenes und mit seinem Kollegen Steffen Martus gemeinsam veröffentlichtes Buch Geistesarbeit – eine Praxeologie der Geisteswissenschaften sich genau mit diesem Aspekt befasst.

Außerdem stehe mit der Frage „Wer soll das eigentlich lesen?“ die Antizipation der künftigen Leserschaft am Beginn jedes Publikationsprojekts.

Forschung zum Literaturnobelpreis

Nach Studium und Promotion an der Humboldt-Universität (HU) Berlin war Carlos Spoerhase als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Kiel und an der HU; Gastaufenthalte führten ihn unter anderem an das King’s College in London oder an die Princeton University. Aus Letzterem entstand auf Initiative von Carlos Spoerhase und Professor Joel B. Lande aus Princeton ein Summer Seminar, das in diesem Juni zum ersten Mal an der LMU stattfand: Promovierende sowie Professorinnen und Professoren international renommierter Universitäten tauschten sich hier zu kollaborativen Prozessen in der Literaturproduktion und -wissenschaft aus.

Vor Annahme des Rufs an die LMU war Spoerhase zunächst Professor in Mainz und schließlich für fünf Jahre an der Universität Bielefeld. Dort befasste er sich bereits im Rahmen eines Teilprojekts des Sonderforschungsbereichs „Praktiken des Vergleichens: Die Welt ordnen und verändern“ mit der Forschung zum Literaturnobelpreis. „Mich interessieren hier die Prozesse, die bewirken, wie schnell, ja fast synchron eine globale Aufmerksamkeit bei der Verleihung erreicht wird, wie schnell Übersetzungen der Werke in mehrere Sprachen vorliegen und somit eine globale Klasse von Autorinnen und Autoren entsteht“, erläutert Spoerhase. Dieses Thema wird er auch an der LMU weiterbearbeiten.

Schreiben unter Zensurbedingungen

Seit Kurzem befasst sich Carlos Spoerhase mit dem Schreiben unter Zensurbedingungen. Sein Fokus hier liegt insbesondere auf dem 19. Jahrhundert, wo vor dem Hintergrund restaurativer politischer Tendenzen zum Teil sehr strenge Zensurmaßnahmen durchgesetzt wurden. „Ich versuche herauszuarbeiten, wie Autoren schreiben, wenn sie wissen, dass sie beobachtet werden, aber dennoch ein Lesepublikum mit politisch heiklen Botschaften erreichen wollen. Der Blick soll dabei vor allem auf die Rezipierenden gerichtet sein, zum Beispiel zur Frage, wie diese die versteckten Botschaften entziffern können. „Wir recherchieren derzeit entsprechende Archivalien, wie etwa Briefwechsel, zeitgenössische Literaturkritiken oder Leseerfahrungen von Zeitungsredakteuren, um Aufschluss darüber zu erhalten, wie Texte dekodiert werden konnten.

Jüngst war der Literaturwissenschaftler in diesem Kontext auch mit einem Antrag für ein Teilprojekt im Rahmen des Sonderforschungsbereichs „Vigilanzkulturen“ am Historischen Seminar der LMU erfolgreich. Überhaupt schätzt er die vielfältigen Möglichkeiten der interdisziplinären Arbeit, die München bietet – nicht zuletzt ein Grund, warum er wirklich gern an die LMU gekommen ist.

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