Hatespeech: Von Luther in die Gegenwart
04.11.2024
Flugblätter aus der Reformationszeit klingen wie Hatespeech der Vormoderne. Was sich daran über Gewalt von Sprache lernen lässt, erklärt Literaturwissenschaftlerin Susanne Reichlin.
04.11.2024
Flugblätter aus der Reformationszeit klingen wie Hatespeech der Vormoderne. Was sich daran über Gewalt von Sprache lernen lässt, erklärt Literaturwissenschaftlerin Susanne Reichlin.
Hatespeech ist weniger neu als heutige Social-Media-Nutzende meinen. Auch zur Zeit der Reformation im 16. Jahrhundert wurde schriftlich und öffentlich gestritten, und das weit unter der Gürtellinie. Das Medium waren damals Flugblätter. Wie sie eingesetzt wurden und warum der Blick darauf helfen kann, die Gegenwart besser zu verstehen, erklärt Susanne Reichlin, Inhaberin des Lehrstuhls für Deutsche Literatur des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit im folgenden Interview.
Reformationspolemik war auch Thema ihres Vortrags beim diesjährigen LMU-Princeton-Seminar, das unter dem Titel „Dissens und Streit: Poetik, Politik, Praktiken“ einen historischen Blick auf die Gewalt von Sprache warf, vom Aufkommen der Spottdichtung im antiken Mittelmeerraum bis in die Gegenwart.
Flugblätter erreichten ganz unterschiedliche Personengruppen: Handwerker genauso wie Gelehrte. Das machte sie sehr wirkmächtig.Susanne Reichlin
Sie forschen unter anderem über die Sprache in Flugblättern der Frühen Neuzeit. Welche Rolle spielten Flugblätter damals in der Gesellschaft?
Susanne Reichlin: Vielleicht beginnen wir mit der Ökonomie: Ein Flugblatt zu kaufen war ungefähr so teuer wie zwei Maß Bier oder der Stundenlohn eines Handwerkers. Es gab Verkäufer mit einer Art Bauchladen, die die Flugblätter „ausgeschrien“ haben, wie es in den Quellen heißt. Der Titel und vielleicht auch einzelne fett gedruckte Verse wurden also laut ausgerufen, um Käufer anzulocken. So wurde das Blatt auch für die verständlich, die nicht lesen konnten.
Flugblätter wurden aber auch auf Messen verkauft, in Kirchen angeschlagen, in Wirtshäusern aufgehängt und mit Briefen verschickt. Damit fungierten sie als Multiplikator, weil sie mehr Personen erreichten, als Blätter gedruckt worden sind. Und sie erreichten ganz unterschiedliche Personengruppen: Handwerker genauso wie Gelehrte. Das machte sie sehr wirkmächtig.
Worüber berichteten sie?
Das Flugblattformat, nämlich die Kombination von schlagwortreichen Titeln, relativ großflächigen Bildern und einem längeren Text, ließ sich ganz unterschiedlich verwenden: für einfache Nachrichten und Sensationen genauso wie für religiöse Ermahnungen, politische Information oder Satire: Da wurde eine Schlacht gewonnen, dort wurde ein Komet gesehen. Hier ist ein Bergsturz passiert, dort wurde ein Kind mit zwei Köpfen geboren. Nicht selten wurde an die Sensationsnachricht eine religiöse oder politische Deutung angehängt.
Wie das zu gewichten ist, ist heute nicht immer klar. Wurde wirklich vom Bergsturz berichtet, um die Rezipienten zu Sündenerkenntnis und Beichte zu bewegen? Mich überzeugt das nicht. Ich sehe stattdessen, dass viele erfolgreiche Blätter verschiedene Zielgruppen ansprachen: Religiös orientierte Rezipierende konnten die Blätter genauso lesen wie solche, die an Neuigkeiten oder politischen Stellungnahmen interessiert waren.
Diese Mehrfachadressierung ist eine Technik, die sich in der Geschichte populärer Medien immer wieder beobachten lässt – heutzutage zum Beispiel bei Publikationen aus dem neurechten Antaios-Verlag, wie meine Kollegin Andrea Albrecht, die in Princeton auch einen Vortrag gehalten hat, in einer neuen Publikation nachweist.
Es sind eine stattliche Reihe von Blättern erhalten, die ein hohes Maß an bildlicher und sprachlicher Gewalt enthalten.Susanne Reichlin
Sie untersuchen Flugblätter mit Reformationspolemik, deren bildliche Darstellungen sind sehr grausam. War geregelt, was gesagt und gezeigt werden durfte?
Es gab zwar Zensurordnungen, die auch Blasphemie („Ketzerei“) oder die Schmähung von „vornehmen Personen“ verboten haben, doch war deren Durchsetzung schwierig und meistens von politischen Interessen abhängig. Deshalb sind trotz der Zensur eine stattliche Reihe von Blättern erhalten, die ein hohes Maß an bildlicher und sprachlicher Gewalt enthalten.
Wie lässt sich diese sprachliche Gewalt erklären?
Im historischen Rückblick erweist sich diese bildliche und sprachliche Gewalt als Effekt einer Eskalationsspirale. Die Gegner schaukeln sich gegenseitig hoch: Wenn eine Seite ein Argument unter der Gürtellinie gemacht hat, zieht die andere Seite nach. Polemik ruft Gegenpolemik hervor und so werden die Sprache und die Bilder immer grausamer und gewaltvoller.
Dabei fällt aber noch etwas auf: Viele Bilder siedeln die grausamen Szenen auf einer Bühne oder einem Podest an. Das deutet an, dass Polemik nie nur gegen einen direkten Gegner gerichtet war, sondern immer auch den Versuch darstellt, Dritte anzusprechen, eine größere Öffentlichkeit für sich zu gewinnen.
Dieses Muster lässt sich bis in die Gegenwart hinein erkennen. Auch heute lohnt es sich, bei Hatespeech genau hinzuschauen: Geht es darum, einen konkreten Gegner herabzusetzen und zu beleidigen oder wird nicht vor allem zum Publikum oder zur Öffentlichkeit geschielt und versucht, dieses für sich einzunehmen oder gar es aufzuhetzen?
Bis heute staunt man, wie aggressiv im 18. und 19. Jahrhundert über – aus heutiger Sicht – wissenschaftliche Kleinigkeiten gestritten wurde. Man attackierte den Menschen, nicht seine Thesen.Susanne Reichlin
Sie sagten, dass die Flugblätter immer polemischer wurden, weil sich die gegnerischen Parteien gegenseitig hochschaukelten. Wann hörte diese Spirale auf?
Die meisten Reformationsblätter wurden von Theologen, also Gelehrten, verfasst. Und die Polemik unter Gelehrten hörte auch nach den Religionsfrieden und der Aufklärung nicht auf. Bis heute staunt man, wie aggressiv im 18. und 19. Jahrhundert über – aus heutiger Sicht – wissenschaftliche Kleinigkeiten gestritten wurde. Man attackierte den Menschen, nicht seine Thesen. Das lässt sich auch in der Wissenschaft des 20. Jahrhunderts noch beobachten.
Sie haben beim LMU-Princeton Summer Seminar einen Vortrag gehalten, in dem Sie auch nach einer gemeinschaftsstiftenden Funktion der Polemik fragen. Wie ist das gemeint?
Wir haben im Seminar einen Text des Soziologen Georg Simmel gelesen, der beobachtet, dass Streit und Uneinigkeit zwar für die einzelnen Akteure negativ sind, gesamtgesellschaftlich aber durchaus viele produktive Aspekte haben. Er verweist hierzu auf die Konkurrenz in den Wissenschaften, wo durch den Dissens Erkenntnisse gewonnen werden können, von denen am Ende alle profitieren.
Wir haben in unserem Seminar versucht, diesen Ansatz auf historisch unterschiedliches Material zu übertragen – also: nicht die Perspektive derer einzunehmen, die sich gegenseitig polemisch beschimpfen, sondern aus einer höheren Perspektive auf ihren Dissens zu schauen: Zeichnen sich dank des Dissenses Erkenntnisse ab, von denen später beide Seiten profitieren? Oder – um bei der Reformationspolemik zu bleiben – entwickeln sich hier vielleicht Formen und Formate von Öffentlichkeit, die über den konkreten Streitanlass hinaus Bestand haben? Führt die gegenseitige Infragestellung von religiösen Praktiken und religiösen ‚Wahrheiten‘ allenfalls auch zu anderen Begründungsformen von Religion?
Bei der Reformationspolemik ist zudem auffällig, wie ähnlich beide Seiten operieren. Sie benutzen nicht nur dieselben rhetorischen und bildlichen Strategien, sondern auch sehr ähnliche Argumente. Wenn es um sprachliche oder bildliche Gewalt geht, knüpfen beide Seiten an Formeln an, die wir aus der antijüdischen Polemik kennen. So zeigen sich im Streit durchaus Gemeinsamkeiten, die die beiden Parteien unterschwellig verbinden. Doch anders als in den sehr positiven Beispielen Simmels zeigen sich hier auch Formen der Gemeinschaftsstiftung, die von einer Geschichte der Gewalt gegen Dritte und Juden kaum zu trennen ist.
Heute wird in der Debatte um Hatespeech befürchtet, dass die sprachliche Verrohung zu mehr physischer Gewalt führt. Wie war das damals?
Dargestellte körperliche Gewalt wie die Zerstückelung des Körpers von Luther (siehe Abbildung in der Bildergalerie) wird im Text allegorisch gedeutet als Zergliederung seiner Lehre, als Dissens unter seinen Anhängern. Das Blatt erweckt so vordergründig den Eindruck, dass alles gar nicht so körperlich gemeint ist, dass die sprachliche oder bildliche Gewalt ein bloßes Darstellungsmittel ist. Das ist aber trügerisch. Wir hätten nicht so viele Blätter mit bildlicher und sprachlicher Gewalt, wenn es nur um die allegorische Ebene ginge. Vielmehr ruft die sprachliche und bildliche Gewalt Emotionen hervor, schürt Aggressivität und so fort.
Wir begegnen hier wieder der oben erwähnten Strategie der Mehrfachadressierung: Ein Teil der Rezipierenden mag das Blatt allegorisch verstehen, ein anderer Teil wird es dagegen als Darstellung von Gewalt lesen, die Gewalt legitimiert oder allenfalls gar gewalttätige Gegenreaktionen provoziert. Wenn man nun noch bedenkt, dass hier antijüdische Bildformeln aufgerufen werden, so ist klar, dass es einen Bezug zwischen der dargestellten Gewalt in den Blättern und physischer Gewalt gibt, auch wenn man dies nicht als einfache kausale Beziehung greifen kann.
Forschungen zu Hatespeech auf Twitter, heute X, können nachweisen, dass antijüdische Formulierungen Luthers bis heute tradiert und aktualisierend wiederverwendet werden.Susanne Reichlin
Ist von dieser Polemik etwas bis heute geblieben?
Auf alle Fälle. Forschungen zu Hatespeech auf Twitter, heute X, können nachweisen, dass antijüdische Formulierungen Luthers bis heute tradiert und aktualisierend wiederverwendet werden.
Sie meinen, ohne Quellenangabe?
Ja, ohne Quelle und dem Sprachwandel angepasst; aber doch weitaus präziser als bloß ein Stereotyp oder Sprichwort, das über die Jahrhunderte hinweg tradiert wird. Es ist allerdings nicht klar, ob denjenigen, die sie benutzen, die Geschichte ihrer Formulierungen bewusst ist.
Dadurch, dass man heute große Textkorpora digital durchsuchen kann, wird sichtbar, wie unoriginell aktuelle Formen von Hatespeech sind – bzw. dass sie häufig eine lange Geschichte haben.
Zeigt Ihre Forschung, dass es Regeln dessen braucht, was gesagt und gezeigt werden darf?
Von der Reformationspolemik her kommend würde ich sagen: Es braucht vielleicht weniger konkrete Regeln als geregelte Verfahren. Diese sollten verhindern, dass sich die Gegner gegenseitig hochschaukeln und dadurch die Grenzen dessen, was sagbar ist, zum verletzenden Sprechen hin verschoben werden.
Bei dem Seminar in Princeton haben wir uns den amerikanischen Kontext und insbesondere die Frage, wie auf dem Campus mit Dissens umzugehen ist, angesehen. Es entstand schon der Eindruck, dass unsere Gesellschaften verlernt haben, zivilisiert und produktiv mit Uneinigkeit umzugehen. Gesellschaftlicher Dissens eskaliert sehr schnell, die Debatten werden emotional und polemisch – zum Teil auch, weil „Polarisierungsunternehmer“ (wie sie der Soziologe Steffen Mau nennt) dies befeuern.
Gerade meine amerikanischen Kolleginnen und Kollegen, die sich in Bezug auf die Campusproteste keineswegs einig waren und für die die Diskussionen, weil es ihre Universitäten betrifft, strapaziöser waren, haben mir aber auch gezeigt, wie ein geregelter, produktiver Umgang mit Dissens aussehen kann. Sie haben beispielsweise immer sehr präzise betont, von welchem Standpunkt, welchen Erfahrungen aus sie sprechen.
Prof. Susanne Reichlin ist Inhaberin des Lehrstuhls für Deutsche Literatur des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit mit einem Schwerpunkt auf der Texttheorie. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich unter anderem mit Flugblättern des 16. und 17. Jahrhunderts.
Mehr zur Forschung von Prof. Susanne Reichlin:
Lehrstuhl für Deutsche Literatur des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit mit einem Schwerpunkt auf der Texttheorie
LMU-Princeton Summer Seminar: Dissens und Streit: Poetik, Politik, Praktiken