Der Kunsthistoriker Philippe Cordez erforscht die Bedeutung von Objekten, die aus der Vormoderne stammen. Als Research Fellow an die LMU gekommen, leitet er inzwischen eine Nachwuchsforschergruppe des Elitenetzwerks Bayern.
Vielleicht kann man sich Philippe Cordez auch als Sachensucher vorstellen. Der Kunsthistoriker forscht über Objekte der Vormoderne, die er unter anderem in Museen auf der ganzen Welt entdeckt. Darunter sind Gegenstände, die einst Karl dem Großen zugeschrieben wurden, oder Elfenbeinkämme aus dem Früh- und Hochmittelalter, die mit ihren Funktionen die gängige Annahme darüber, was ein Kamm ist, auf die Probe stellen, weil sie eben nicht nur reine banale Gegenstände sind, sondern zum Beispiel für spirituelle Akte in Kirchen verwendet wurden. „Der Begriff Objekt und die Vorstellung, die wir heute davon haben als etwas Materielles, räumlich Begrenztes und funktional Definiertes, ist sehr jung, gerade einmal 200 Jahre alt“, sagt Cordez. Die Objekte, die er erforscht sind wesentlich älter, was zur verwirrenden Überlegung führt: „Was ist ein Objekt, wenn es kein Objekt ist? Als mir zum ersten Mal bewusst wurde, dass etwas, was so evident und alltäglich erscheint wie ein dreidimensionales Objekt, in Frage gestellt ist, hat mich das sehr erstaunt. Es gibt wohl eine sehr große Diversität der Beziehungen, die Menschen mit dem haben können, was wir heute Objekte nennen.“
In seiner Forschung deckt Philippe Cordez diese Beziehungen auf. „Die Kunstgeschichte hat sich von ihrer Gründung im 19. Jahrhundert an auch für Objekte zuständig gesehen, sich aber im 20. Jahrhundert mehr und mehr auf Bilder konzentriert. Die Architektur blieb immer dabei, aber dreidimensionale Objekte, die man in die Hand nehmen kann – was man im 19. Jahrhundert als Kunstgewerbe bezeichnete und weshalb es immer noch Museen für angewandte Kunst gibt – sind aus der universitären Forschung nahezu verschwunden. Wenn die Kunstgeschichte jedoch eine Bildwissenschaft wird, verliert sie einen Teil von sich selbst und viele Chancen in der Zusammenarbeit mit Museen, aber auch im interdisziplinären Austausch mit den anderen Geisteswissenschaften. Wir versuchen, in Verbindung mit den Bildwissenschaften die Objektwissenschaften in der Kunstgeschichte zu stärken und so das Fach noch anschlussfähiger zu machen für andere Disziplinen“, beschreibt er den Ansatz seiner Forschergruppe.
Denn Philippe Cordez, der im Jahr 2013 zunächst mit einem Research Fellowship an die LMU gekommen ist, hat bereits wenige Monate später die Leitung der Nachwuchsforschergruppe „Vormoderne Objekte“ des Elitenetzwerks Bayern übernommen. Seither verbindet der gebürtige Franzose das Fellowship mit seiner Position als Nachwuchsgruppenleiter. „Die Flexibilität des Fellowship-Programms schätze ich sehr. Ich musste sie von Beginn an in Anspruch nehmen“, sagt Cordez. In den ersten Monaten half ihm das Fellowship, die Nachwuchsgruppe vorzubereiten, inzwischen ermöglicht es, die Gruppe am Institut zu verankern und auch in die Lehre einzubinden.
So bezieht er in dem Projekt „Objekte in Buchform“ auch Studierende in seine Forschung mit ein. Insgesamt 50 solcher Gegenstände haben die Kunsthistoriker inzwischen ausgewählt, anhand derer sie untersuchen, warum gerade die Buchform und was genau daran übernommen wurde. Philippe Cordez nimmt ein Buch mit ledernem Umschlag in feinem viktorianischen Dekor zur Hand – bis er zum Erstaunen des Betrachters den oberen Teil hochhebt und ein Nähkästchen zum Vorschein kommt. „Das ist ein zunächst seltsam erscheinendes Objekt mit dem Titel ‚Lady’s Companion‘, das aber gar nicht so selten war im 19. Jahrhundert“, erklärt Cordez und holt Faden, Nadel, Fingerhut, ein kleines Messer und vieles mehr aus dem Kästchen hervor. „Das ist sicher keine Kunst im Sinne des Kunstbegriffs des 18. und 19. Jahrhunderts. Aber ich verstehe Kunst als etwas Gemachtes und in diesem Fall als etwas klug Gemachtes. Wir untersuchen solche Objekte vom Spätmittelalter bis heute und kommen dabei auf ebenso interessante wie komplexe Fälle, für die sich kein Fach zuständig fühlt.“
Warum man das Buch mit dem Titel „Lady’s Companion“, das keines ist, nicht als bizarr abtun und ins Kuriositätenkabinett stellten sollte, zeigt die kunsthistorische Objektanalyse: Mit der Buchform wurde eine symbolische Eigenschaft übernommen. „Die Besitzerin zeigte sich damit als eine Dame von Welt. Das ist kein Nähset, mit dem man groß genäht hat. Damit machte man kleine Basteleien in Gesellschaft mit den Freundinnen oder der Familie. Es gab damals etliche Frauenzeitschriften mit diesem Titel. Die Besitzerin zeigte sich mit diesem Objekt als tugendhaft und drückte aus: ‚Ich nähe, wie ich lesen, schreiben oder malen könnte‘.“ Auch ein Stift ist im Nähset dabei. Und sogar einen Aquarellkasten in Buchform haben die Kunsthistoriker in ihren Projektkatalog aufgenommen. Durch ihre Herangehensweise erkennen sie, was die Menschen damals mit dem Buch an sich verbanden. „Sie haben eine Eigenschaft des Buches isoliert. In diesem Fall die Idee von Raffinesse und Bildung, die sich durch das Objekt auf den Menschen übertragen hat, auch wenn es gar kein Buch mehr war, sondern, wie hier, ein Nähset.“
Bei seinen Untersuchungen arbeitet Cordez mit Spezialisten verschiedener Disziplinen zusammen. So wurde eine Apothekerin und Medizinhistorikerin mit der Analyse der Taschenapotheke von Samuel Hahnemann, dem Begründer der Homöopathie, beauftragt. Hahnemann, der seine Taschenapotheke um 1820 ebenfalls in Buchform herstellen ließ, setzte dabei auf die Symbolik von Wissen. „Hahnemann wählte diese Form, um seiner Erfindung eine gelehrte Autorität zu verleihen und sie zu legitimieren.“
Die Objekte seiner Forschung entdeckt Philippe Cordez auf vielen Museumsreisen in Europa und auch Nordamerika, die ihm die Reisemittel des Fellowships ermöglichten und die, so Cordez, „für die Entwicklung der Objektwissenschaft als ein lange vernachlässigtes Feld der Kunstgeschichte unerlässlich sind“. Außerdem nutzt er das Internet und Ebay für seine Recherchen, worüber er zum Beispiel ein französisches Feuerzeug in Buchform aus dem ersten Weltkrieg mit der Inschrift Verdun 1916 erworben hat, angefertigt aus Munition.
Vergessenes hervorholen
Seinem Forschungsgegenstand nähert sich Philippe Cordez in verschiedenen Fallstudien, anhand derer er ebenso kunsthistorische Methoden für die Analyse entwickelt als auch jedes Mal andere Aspekte beleuchtet. So legt er in dem Projekt „Object Fantasies“ den Blick auf das Kreative: „In unserem Umgang mit Objekten spielt immer auch etwas Kreatives mit. Unsere Phantasien und Erinnerungen sind wesentlicher Teil des Bezugs, den wir zu einem Objekt haben. Sie spielen auch eine große Rolle beim Gestalten neuer Objekte.“ Zu seinem Forschungsinteresse kam Cordez schon früh. „Ich habe unter anderem an der Ecole de Louvre in Paris Museumswissenschaften studiert. Das hat mich sehr geprägt. Als Museologe interessiere ich mich dafür, warum wir überhaupt Objekte in Museen über Jahrhunderte aufbewahren. Das ist nicht selbstverständlich und wird von vielen Menschen auf der Welt nicht gemacht.“
In einem seiner ersten Projekte untersuchte Philippe Cordez Objekte, die Karl dem Großen zugeschrieben wurden – und das oft zu unrecht. Das war in den meisten Fällen bekannt und nicht schwer zu entlarven, oft sprechen die Jahreszahlen für sich. Cordez jedoch rekonstruierte erstmals, warum diese Objekte dem Herrscher zugeordnet wurden: „Karl der Große war als christlicher Kaiser sehr prägend für die politischen Systeme in den Jahrhunderten danach. Viele Institutionen wollten seine Präsenz demonstrieren, zum Beispiel um damit auszudrücken: Karl der Große hat uns dieses Objekt und auch die Rechte an diesen oder jenen Ländereien gegeben. Das war insbesondere wichtig für alte Abteien, die aus der Karolingerzeit stammten und die ihre juristischen Ansprüche auf einmal gegenüber jüngeren Orden verteidigen mussten“, – was ihnen mithilfe dieser Rhetorik auch gelungen sei.
„Man hat diese Zuordnungen als falsche Zuschreibungen in der Kunstgeschichte wahrgenommen und korrigiert. Dadurch hat man diese Erzählung wissenschaftlich nicht mehr berücksichtigt. Das sollten wir aber, da es Teil der Geschichte eines solchen Objektes und sehr oft der Grund dafür ist, warum es überhaupt erhalten ist.“ Mit seinem Ansatz weitet Cordez also nicht nur den eurozentrischen Blick der Kunstgeschichte. Er holt auch hervor, was vergessen wurde. Und so könnte man ihn, ebenso wie als Sachensucher, vielleicht auch als Geschichtenschürfer bezeichnen, der immer auf der Suche nach der Bedeutung dessen ist, was wir sehen, wenn wir Objekte sehen, die einst keine waren.