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„Interessen wecken, unabhängig von Stereotypen“

06.04.2021

Woran liegt es, dass weniger Frauen als Männer MINT-Studiengänge wählen? Nicht an den Kompetenzen, sagt LMU-Forscher Frank Niklas.

Ein Mädchen und ein Junge Spielen mit Plastikfiguren

Stereotype greifen früh: Schon Kindergartenkinder unterscheiden nach Mädchen- und Jungenspielzeug. | © Kristin Gründler / AdobeStock

Frank Niklas ist Professor für Pädagogische Psychologie und Familienforschung an der LMU und forscht darüber, wie ungleiche Bildungschancen das spätere Leben prägen. Im Interview spricht der Psychologe über die vermeintlich unterschiedlichen Kompetenzen von Männern und Frauen in naturwissenschaftlichen Fächern.

Der Anlass unseres Gesprächs ist, dass nach wie vor weniger Frauen als Männer naturwissenschaftliche Studiengänge wählen. Welche Rolle spielen denn die frühen Jahre dafür, welche Interessen und Kompetenzen Kinder entwickeln?

Frank Niklas: Im Kindergartenalter gibt es bei den Kompetenzen von Jungen und Mädchen keine Unterschiede, die auf dem Geschlecht basieren. In unserer Forschung untersuchen wir die Vorläuferfähigkeiten für Mathematik und sprachliche Kompetenzen. Da geht es zum Beispiel darum, wie gut Kinder Mengen und die Anzahlen dahinter unterscheiden können oder ob sie Buchstaben als Symbole für Sprache erkennen. Kinder, die diese Fähigkeiten früher und besser erwerben, haben später Vorteile in der Schule, wenn es um Mathematik oder Deutsch geht. Unsere Datensätze zeigen, dass die Mädchen eben nicht durchschnittlich besser im sprachlichen Bereich oder die Jungen besser in Mathematik sind. Diese Unterschiede lassen sich erst ab der Grundschulzeit beobachten, gegen Ende der ersten Klasse.


Wie geht es dann mit der Kompetenzentwicklung weiter?

Um die weitere Entwicklung anzusehen, können wir auf Daten von Schulstudien wie IGLU oder auch PISA zurückgreifen, die die Leistung von 15-Jährigen testen. Sie zeigen tatsächlich diese stereotypen Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen in vielen Ländern der Welt, aber nicht in allen. Deutschland gehört zu den Ländern, in denen Mädchen in Deutsch bessere Leistungen zeigen als Jungen, und Jungen sind laut dieser Studien etwas besser in Mathematik. Diese Unterschiede sind eher klein, aber sie sind vorhanden.

Da stellt sich natürlich die Frage, woher kommt dieser Gap, der dann immer größer wird und langfristig dazu führt, dass sich auch mehr Jungen für MINT-Fächer interessieren und Mädchen sich häufiger dagegen entscheiden.

Und woher kommt er?

Darauf gibt es keine eindeutige Antwort. Genetische Geschlechtsunterschiede scheinen dabei jedenfalls keine primäre Rolle zu spielen. Geschlechtsstereotype, die in der Gesellschaft vorherrschen, haben definitiv einen Einfluss auf die unterschiedliche Kompetenzentwicklung. Schon Drei-, Vierjährige unterscheiden nach typischem Jungen- und Mädchenspielzeug. Kinder haben Geschlechtsstereotype sehr früh verinnerlicht, ohne dass sich klar sagen lässt, woher das so stark kommt.

In einer unserer Studien haben wir uns auch das Selbstkonzept der Kinder angesehen und sie gefragt, wie gut sie selbst sich in Mathe und im sprachlichen Bereich einschätzen. Und da finden wir schon etwas früher die Unterschiede, dass Jungen sich etwas besser in Mathematik einschätzen und Mädchen etwas schlechter. Wobei die allgemeine Selbstüberschätzung unabhängig von den Bereichen bei Jungen stärker vorhanden zu sein scheint als bei Mädchen.

Ich glaube, dass es tatsächlich sehr vieles in unserer Gesellschaft gibt, das Kinder dazu bringt, Stereotype schnell zu übernehmen. Man muss sich nur Fernsehwerbung anschauen, die ganz klar geschlechtsspezifisch zugeschnitten ist, oder in Spielzeugläden gehen, wo nach Bereichen für Mädchen und für Jungen getrennt wird. Solche wiederholten Einordnungen in Kategorien – das mag mehr oder weniger subtil sein – nehmen schon junge Kinder wahr. Wenn sie immer wieder damit konfrontiert werden, hat das einen Einfluss auf ihre Entwicklung und ihr Selbstkonzept.

Wenn mehr Frauen für MINT-Fächer begeistert werden sollen, geht es also weniger darum, die mathematischen Kompetenzen von Mädchen zu fördern, sondern eher darum, dass sie gar nicht erst vergessen, dass sie in Mathe gut sind?

Genau. Wir sprechen in der Psychologie auch von dem sogenannten Stereotype-Threat. Das ist ein Phänomen, das sich nicht nur bei jungen Kindern zeigt: Allein das Wissen darum, dass ein Stereotyp existiert, führt dazu, dass es sich in den objektivierbaren Leistungen tatsächlich widerspiegelt.

Wenn ich als Mädchen um das Stereotyp weiß, dass Mädchen nicht so gut in Mathe sind, führt das dazu, dass ich bei einem Mathetest nervöser bin und ein Leistungsdruck entsteht. Allein das beeinflusst die Leistung negativ, völlig unabhängig davon, ob die Furcht berechtigt ist oder nicht. Zahlreiche Untersuchungen zeigen, dass dieser Stereotype-Threat nicht nur bei angeblichen Geschlechtsunterschieden auftritt.

Sie sagten vorhin, dass sich Mädchen recht früh selbst in Mathe schlechter einschätzen als in Deutsch. Woher kommt das?

Jeder und jede von uns führt auch unbewusst und bewusst einen internen Vergleich der eigenen Kompetenzen durch. Wenn man in Mathe sehr gut ist, ist die Tendenz da, die eigene Leistung in Deutsch schlechter einzuschätzen, als sie es womöglich objektiv gesehen ist, und umgekehrt. Mädchen, die sehr gute Rückmeldungen für ihre sprachlichen Kompetenzen bekommen, ziehen dann vielleicht den Umkehrschluss – der falsch sein kann –, dass sie in Mathe eben nicht so gut sind.

LMU-Professor Frank Niklas

Frank Niklas ist Professor für Pädagogische Psychologie und Familienforschung an der LMU. | © LMU

Jetzt gibt es sehr erfolgreiche Naturwissenschaftlerinnen, die sich ja offensichtlich nicht davon abbringen ließen, dass sie in Mathe kompetent sind. Was ließe sich daraus lernen?

Bei ihrer Berufswahl kann eine Rolle gespielt haben, dass sie entweder über diesen Stereotypen stehen oder umgekehrt bewusst sagen „jetzt erst recht“, sich also nicht davon unterkriegen lassen, sondern den gegenteiligen Weg gehen.

Und dann gibt es natürlich auch individuelle Neigungen. Genauso wie manche Jungen mit Mathe nichts anfangen können, gibt es Mädchen, denen das liegt. Wenn die individuellen Interessen und Kompetenzen stark genug ausgeprägt sind und dann auch noch Erfolgserlebnisse dazukommen, stärkt das das Interesse. Durch das gestiegene Interesse beschäftige ich mich mehr mit der Thematik und werde dadurch noch besser.

So entsteht ein sogenannter Engelskreislauf, der auch dazu führen kann, dass ich mich später für einen entsprechenden Beruf entscheide.


Wenn Eltern die Interessen und Kompetenzen ihrer Kinder fördern wollen, sollten sie also nicht auf Geschlechtsstereotype eingehen?

Ja, es ist ganz wichtig, die Geschlechtsstereotype nicht noch zu befördern. Eltern sollten ihrem Kind die Chance geben, die eigenen Interessen zu entfalten, völlig unabhängig davon, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist.

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