Interview: „Putin betreibt ein Retroprojekt“
02.03.2022
Wie sind Argumentation und Ziele der russischen Regierung im Krieg gegen die Ukraine historisch zu bewerten? Nachgefragt bei dem Historiker und Osteuropaexperten Martin Schulze Wessel.
02.03.2022
Wie sind Argumentation und Ziele der russischen Regierung im Krieg gegen die Ukraine historisch zu bewerten? Nachgefragt bei dem Historiker und Osteuropaexperten Martin Schulze Wessel.
Professor Martin Schulze Wessel ist Inhaber des Lehrstuhls für Geschichte Ost- und Südosteuropas an der LMU und derzeit Fellow am St Antony’s College in Oxford.
Könnten Sie Argumentation und Ziele Russlands beim Angriff auf die Ukraine historisch analysieren?
Martin Schulze Wessel: Der Angriff Russlands auf die Ukraine ist keineswegs mit den offiziell von der russischen Regierung vorgegebenen Zielen zu erklären. Es geht Putin nicht wirklich um die Zurückdrängung der Nato und auch nicht um die Selbstbestimmung der russischen Bevölkerung in der Ukraine.
Meine These ist, dass Putin ein Retroprojekt betreibt. Er hat schon oft gesagt, dass der Zerfall der Sowjetunion die größte geostrategische Katastrophe unserer Zeit darstellt. Es geht ihm um eine Revision verloren gegangener Verhältnisse. Putin will die Auflösung der Sowjetunion rückgängig machen und ihre ehemaligen Republiken wieder in einen Machtzusammenhang mit dem Kreml als Zentrum bringen.
Das verfolgt Putin mit unterschiedlichen Mitteln: Gegen die Ukraine setzt er Krieg ein. In Georgien hat er zunächst die sezessionistischen Bewegungen unterstützt und dann militärisch eingegriffen. Und in Belarus hält er einen Diktator nach verlorenen Wahlen bedingungslos an der Macht. Lukaschenko ist dadurch vollständig abhängig geworden von Russland. Dass er sein Land jetzt als Aufmarschbasis zur Verfügung stellt und Putin auch direkt militärisch unterstützt, macht ihn mit zum Kriegsverbrecher.
In den letzten zwei Jahren ist die Geschichte Russlands als Retroschicht seiner Argumentation aufgetaucht. Putin verklärt die russische Vergangenheit und versucht daran anzuknüpfen.Martin Schulze Wessel, Lehrstuhlinhaber für die Geschichte Ost- und Südosteuropas
In einem früheren Interview sagten Sie: „In Putins jüngeren Verlautbarungen sieht man eine Tendenz, sein politisches Handeln in historische Zusammenhänge zu setzen. Dabei spielt das russische Zarenreich eine weit größere Rolle als die ehemalige Sowjetunion“. Wie weit in die Geschichte reicht seine Argumentation zurück und ist sie haltbar?
Martin Schulze Wessel: Putin redet sehr viel von Geschichte. Bei seinen Reden ist nicht immer jedes Detail falsch, er mischt vielmehr Halbwahrheiten mit Lügen. Aber er verfügt nicht über historische Einsicht. Sonst wüsste er, dass man Verhältnisse, die 30 Jahre zurückliegen, nicht mit Gewalt wiederherstellen kann.
In den letzten zwei Jahren ist die Geschichte Russlands als Retroschicht seiner Argumentation aufgetaucht. Putin verklärt die russische Vergangenheit und versucht daran anzuknüpfen. Angefangen bei der mittelalterlichen Kiewer Rus, einem Gebilde, in dem Russen, Belarussen und Ukrainer zusammengelebt haben. Putin will zurück zu dieser Ureinheit der drei ostslawischen orthodoxen Nationen, präziser gesagt zu der Einheit, wie sie von russischer Seite im Zarenreich des 19. Jahrhunderts interpretiert wurde. Und das ist ein sehr viel größeres Projekt, als den Zerfall der Sowjetunion rückgängig zu machen.
Für Putins Argumentation ist aber charakteristisch, dass er verzerrt und vieles weglässt. Ich will beispielhaft den Holodomor nennen, eine Hungersnot, die von Stalin bewusst herbeigeführt worden ist.Martin Schulze Wessel, Lehrstuhlinhaber für die Geschichte Ost- und Südosteuropas
Was verbindet Russland und die Ukraine noch?
Martin Schulze Wessel: In der russisch-ukrainischen Geschichte gibt es zwei Phasen, auf die sich Putin positiv beziehen kann: die gemeinsame Kiewer Rus und den Zweiten Weltkrieg, in dem Russen und Ukrainer und andere Völker der Sowjetunion den Sieg über NS-Deutschland errungen haben.
Für Putins Argumentation ist aber charakteristisch, dass er verzerrt und vieles weglässt. Ich will beispielhaft den Holodomor nennen, eine Hungersnot, die von Stalin bewusst herbeigeführt worden ist. Die Ukrainer wurden davon mit fast vier Millionen Toten besonders betroffen, auch die Kasachen und auch Russen in der Wolgaregion. Die Hungersnot war eine Folge der forcierten Industrialisierungspolitik Stalins im ersten Fünf-Jahres-Plan. Um seine Aufbauziele in den städtischen Zentren zu erreichen, betrieb Stalin eine gnadenlose Kollektivierungspolitik auf dem Land, kombiniert mit nicht zu realisierenden Abgabequoten für Getreide und andere Landwirtschaftsprodukte. Damit nahm er das Entstehen einer großen Hungersnot sehenden Auges in Kauf. Damit nicht genug: Die von ihm selbst herbeigeführte Hungersnot verband er in der Ukraine mit einer Terror-Kampagne gegen ukrainische Intellektuelle und Künstler.
Heute wird die große Hungersnot in der Ukraine auch wegen der Kombination mit dem anti-ukrainischen Kulturkampf Stalins als Genozid begriffen. In Russland dagegen hält man an der These fest, die Hungersnot sei allein mit dem Zwang zur Industrialisierung zu erklären, die viele Sowjetrepubliken ereilt habe. Man weist die Genozid-These zurück. Dass Putin heute einen absurden Genozid-Vorwurf gegenüber den Ukrainern in Bezug auf deren Politik gegenüber der russischen Minderheit in der Ukraine erhebt, ist eine sachlich falsche und gehässige Antwort auf die historischen Genozid-Vorwürfe von ukrainischer Seite. Diese Äußerungen Putins sind repräsentativ für seine Interpretationsmuster, aber auch für die Gehässigkeit, derer sich Putin rhetorisch bedient.