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Mehr als eine Frage der Herkunft

04.07.2022

Wie sollen ethnologische Museen von der Welt erzählen? Ein Gespräch mit Provenienzforscherin Antoinette Maget Dominicé, Ethnologe Philipp Schorch und Museumsdirektorin Uta Werlich vor dem Hintergrund der Rückgabedebatte um die Benin-Bronzen.

Es sind gut 5.000 Objekte, Skulpturen und Tafeln zumeist aus Bronze, verteilt über die Museen Europas, allein rund 1.000 Stücke befinden sich in deutschen Sammlungen und Depots. In der Öffentlichkeit gelten diese Benin-Bronzen als klarer Fall von Beutekunst: 1897 plünderten britische Kolonialtruppen im Zuge einer blutigen „Strafexpedition“ den Königspalast von Benin City im heutigen Nigeria. So gelangten die Stücke, die aus dem 16. Jahrhundert stammen, zunächst nach London und über den internationalen Kunsthandel auch in andere europäische Länder. Doch abgesehen von der Frage, wie klar der Fall auch liegen mag: Ihre unverwechselbare Formensprache macht die Stücke gleichsam zu Emblemen einer ausgedehnten Debatte um Raubkunst und Restitution.

Ein Schiff geht auf Reisen

Fachleute bereiten das prachtvolle Segelboot von der Insel Luf für die Verlegung ins Humboldt Forum in der Berliner Stadtmitte vor. Das Luf-Boot bot Platz für fünfzig Personen.

© SPK/photothek.net/Thomas Koehler

Spätestens seit der Diskussion um das Berliner Humboldt Forum wird die Frage auf der großen Bühne verhandelt. Wie können ethnologische Sammlungen all die Kulturen heute noch zeigen? Und wie können sie mit der Tatsache umgehen, dass zumindest ein Teil der Artefakte auf, vorsichtig formuliert, verschlungenen Wegen in den europäischen Häusern gelandet sind? Wie können die Museen, weiland Völkerkundemuseen, sich der Tatsache stellen, dass die Geschichte ihrer Sammlungen oft eng verwoben ist mit der Epoche des Kolonialismus? Und was soll aus den Artefakten werden, deren „Erwerb“ sich nicht sauber klären lässt?

Eine Museumsdirektorin, eine Provenienzforscherin und ein Museumsethnologe diskutieren darüber im Forschungsmagazin EINSICHTEN, welche Aufgaben ethnologische Sammlungen haben und wie andere Kulturen zu ihrer Gestaltung beitragen können: Wie sollen Museen in Zukunft über unsere Welt erzählen?

Berlin, Dresden, Hamburg, Köln, Leipzig, Stuttgart – die Liste der Museen ist lang. Sie alle kündigen an, Benin-Bronzen und andere Objekte in ihre Herkunftsländer zurückzuführen.

Werlich: Auch das Museum Fünf Kontinente ist bereit, Objekte, die aus problematischen Erwerbskontexten stammen, an die Herkunftsländer zurückzugeben. Im Fall der Benin-Bronzen wird es jetzt ein wichtiger Schritt sein zu sehen, wie solch ein komplizierter Prozess gelingen kann.

Was hat denn die Welle der Ankündigungen ausgelöst?

Werlich: Ganz klar: Die Politik treibt das jetzt voran. Die Museen waren gar nicht so zögerlich. Die Diskussion um das Humboldt Forum hat uns Museumsverantwortlichen noch einmal klar gemacht, dass wir uns mit unserer kolonialen Vergangenheit auseinandersetzen müssen. Dafür haben wir nun einen gesellschaftlichen Auftrag erhalten. Die Benin-Bronzen sind jetzt der Prüfstein, ob eine solche Rückgabe funktionieren kann. Es ist ein äußerst komplexer Fall mit einer Vielzahl von Beteiligten und unterschiedlichen Interessen. Allein schon: Wer sind die Stakeholder in Nigeria? Der Staat Nigeria, der Bundesstaat Edo, das Königshaus? Das Thema kommt auch nicht erst jetzt auf. Es gibt schon seit etwa zehn Jahren den sogenannten Benin-Dialog. Dabei sprechen eine ganze Reihe von Museen mit Vertretern in Nigeria.

Maget Dominicé: In Nigeria herrschten lange politisch wechselhafte Verhältnisse. Es gab zwar immer wieder Restitutionsforderungen für einzelne Objekte, gleichzeitig war unklar, wer offiziell mit wem reden sollte. Bis ein politisch stabiler Dialog möglich wurde, hat es einige Zeit gebraucht.

Benin-Bronzen

Maske der Königin Idia aus dem 16. Jahrhundert in der benin-Ausstellung im New Yorker Metropolitan Museum of Art.

© Andrea Mohin/ NYT/ Redux/ Laif

Was macht die Benin-Bronzen zu einem Musterfall?

Werlich: Der Fall scheint recht eindeutig zu sein. Momentan vertreten Fachleute sehr stark die Ansicht, dass Objekte, die aufgrund ihrer Beschaffenheit, ihrer Ikonographie, ihrer Qualität dem höfischen Umfeld zuzuordnen sind, mit allergrößter Wahrscheinlichkeit aus der britischen Strafexpedition von 1897 stammen. Wir haben also einen gut dokumentierten Unrechtskontext. Damit ist klar: Diese Objekte müssen zurückgehen. Wir werden sehen, was daraus resultiert. Was passiert, wenn das Eigentumsrecht an den Staat Nigeria übertragen worden ist? Können wir Objekte behalten? Zu welchen Bedingungen werden Objekte zurückgegeben. Wer finanziert diese Rückgaben?

„Rückgabe allein wird geschehenes Unrecht nicht rückgängig machen“

Was heißt überhaupt Restitution? Gehen die Stücke in jedem Fall physisch zurück in ihre Herkunftsländer?

Maget Dominicé: Der Begriff „Restitution“ wird oft mit seinem Pendant „Rückgabe“ in die Diskussion eingebracht. Beide Begriffe benennen die Rückkehr eines Objekts, wenn dies nach den Kriterien internationaler Abkommen als Kulturgut gilt. Eine Restitution kann auf vielfältige Weise erfolgen: Eigentum und Besitz an einem Kulturgut können an ursprüngliche Eigentümerinnen oder Eigentümer übertragen werden, Objekte können aber auch an einem Ort bleiben, wobei dann neue Wege des Austauschs gefunden werden müssen. Die Restitution eines Kulturguts alleine wird aber nie die Zeit zurückdrehen und geschehenes Unrecht rückgängig machen.

Was macht das Leben wirklich besser?

Lesen Sie die Antworten in der neuen Ausgabe unseres Forschungsmagazins EINSICHTEN unter www.lmu.de/einsichten. | © LMU

Türöffner für eine breitere Debatte

Schorch: Ich verstehe nicht, warum sich die öffentliche Debatte momentan so sehr auf die Institution Museum konzentriert. Schließlich beeinflusst doch das Erbe kolonialer Verflechtungen alle Lebensbereiche. Warum meint man, das an der Frage der Benin-Bronzen abarbeiten und damit das Thema bei den Sammlungen abladen zu können? Es ist hochinteressant zu beobachten, was sich da gerade in Deutschland tut. Ich habe in den vergangenen 15 Jahren primär im Ausland gearbeitet und bin auch jetzt gerade wieder auf Hawaii. Dorthin wurden vor Kurzem zum Beispiel menschliche Überreste – die Hawaiianer sprechen von Iwi Kupuna, den Knochen der Vorfahren – nach einer Zeremonie restituiert. Sie kamen aus Sammlungen in Berlin, Bremen, Göttingen und Jena. So etwas war für mich noch vor wenigen Jahren kaum vorstellbar.

Warum?

Schorch: Als ich 2014 als Postdoc an die LMU kam, konnte man die Forscher, die zur Kolonialgeschichte der Deutschen gearbeitet haben, hierzulande an einer Hand abzählen. Auch heute ist unser Wissen über dieses Kapitel noch extrem gering. In Deutschland kommen solche Fragen erst jetzt aufs Tapet, nachdem sie in den angloamerikanischen Staaten schon in den 1980er-Jahren breit diskutiert wurden. Wir reden gerne über Benin-Bronzen, weil sie so emblematisch sind, und tun so, als könnten die Museen uns mit einer Restitution das Problem mit der unbehandelten deutschen Kolonialgeschichte irgendwie vom Hals schaffen.

Aber könnte da die Auseinandersetzung um Museumsbestände nicht der Türöffner für eine viel breiter angelegte Debatte sein?

Schorch: Ja, die Hoffnung habe ich auch. Die Göttinger Historikerin Rebekka Habermas hat gerade einen Zeitschriftenband zum „postkolonialen Erinnern“ herausgebracht. Darin zum Beispiel ist der Ansatz viel breiter, da sind Museen nur ein Knoten in einem postkolonialen Netz. Das Überseemuseum in Bremen etwa ist dafür ein perfektes Beispiel: Seine Geschichte zeigt deutlich, wie die Faktoren Wirtschaft, Wissenschaft und Anthropologie in einem dichten Geflecht verwoben waren. Genau das heute zu zeigen, darum geht es.

Werlich: Man kann sich auch die Frage stellen, warum Deutschland mit Restitutionen an Nigeria beginnt. Nigeria war nie deutsche Kolonie. Auf der anderen Seite haben wir Kamerun, wo es trotz der riesigen Konvolute in deutschen Sammlungen noch keinerlei Initiative gibt. Da zeigen sich meines Erachtens außenpolitische Interessen. Man könnte auch fragen, warum die Debatte ausgerechnet mit den ethnologischen Sammlungen anfängt. Um einen kulturellen Dialog zu fördern, könnte man ja auch andere Bereiche einbinden, etwa deutsche Kunst in Afrika zeigen, davon hört man aber nichts. Warum nicht Dürer in Kamerun ausstellen?

Maget Dominicé: Auch heute werden in der Kulturpolitik zusätzlich weitere Ebenen mitverhandelt. Die Ausstellung „Deutschland 8“ zum Beispiel wurde 2017 – zur Erinnerung an die Aufnahme diplomatischer Beziehungen 45 Jahre zuvor – in China gezeigt. Kultur wird wieder sehr viel stärker in der Realpolitik eingesetzt. Das gilt, wie ich es aus dem französischen Kontext kenne, auch für Restitutionsdebatte: Dort ging es nebenher um Verträge für bestimmte Dienstleistungen oder Migrationsregelungen.

„Das Luf-Boot: Das ist eine typisch deutsche Debatte“

Ein weiteres Emblem, das für die Restitutions-Debatte steht, ist das Luf-Boot, das aus Papua-Neuguinea stammt, ebenfalls im Zuge einer Strafexpedition requiriert wurde und zu den imposanten Schaustücken im Humboldt-Forum gehört. Der bekannte Historiker Götz Aly hat die Geschichte um das Boot in Buchlänge ausgerollt. Warum entzündet sich die Debatte an solchen Einzelfällen?

Schorch: Wenn ich weiß, was Schlagzeilen produziert, ist es leicht, das zu bedienen. Das ist eine typisch deutsche Debatte, ich finde sie intellektuell einigermaßen limitiert. Damit wird der Umgang mit der kolonialen Vergangenheit auf materielle Dinge reduziert, auf den rechtlichen Status eines Bootes. Und hat man den ansatzweise geklärt, so soll es scheinen, ist das Problem kolonialer Verflechtungen und post- oder neokolonialer Realitäten gelöst.

Aber muss da nicht provozieren, mit großem Aufwand ein Humboldt Forum zu eröffnen und als eines der zentralen Schaustücke ein Objekt zu wählen, das aus einem „schwierigen“ Kontext stammt?

Schorch: Natürlich, wenn es einen Unrechtszustand gibt, gilt es den klar zu benennen.

Die Museen könnten an den Exponaten die Geschichte des deutschen Kolonialismus und zum Beispiel die damit verbundene Handelsgeschichte ausstellen.

Maget Dominicé: Zu diesem Thema läuft in der Tat in Bremerhaven gerade ein Projekt zur Geschichte der Norddeutschen Lloyd, die als eine der größten Reedereien des Kaiserreichs sozusagen ein Big Player des deutschen Kolonialismus war.

Werlich: Vielleicht muss man sich da aber die Frage stellen, ob die Ethnologischen Museen die richtigen Orte sind, um diese Geschichten zu erzählen. Wir sind als Ethnologen ja eigentlich an anderen Fragestellungen interessiert, an den Menschen hinter den Objekten, den kulturellen Aspekten, die ich über die Objekte vermitteln kann. Selten arbeiten bei uns deshalb Historikerinnen und Historiker. Vielleicht sollte sich Deutschland überlegen, ein Dokumentationszentrum zur Kolonialgeschichte einzurichten. Und noch eines: Ja, wir haben problematische Konvolute in unseren Häusern, aber der Generalverdacht, unter dem die Sammlungen mitunter stehen, geht an der Sache vorbei.

Benin-Relief aus dem Museum Fünf Kontinente

Bronzeplatten aus dem Königreich Benin im heutigen Nigeria erinnern oft an historische Ereignisse oder bedeutende Persönlichkeiten aus dem Königreich, hier sind zwei Würdeträger zu sehen.

© MFK/ Nicolai Kästner

Verstehen, wie Kolonialismus funktioniert

Aber warum fallen die Anwürfe gerade jetzt auf fruchtbaren Boden?

Werlich: Das kann ich Ihnen nicht beantworten. Natürlich scheint sich unsere Gesellschaft in einem großen Umbruch zu befinden: Wir sind heute postmigrantisch. Womöglich lässt sich schon damit einiges erklären.

Schorch: Ich stelle immer wieder fest, dass die heutige Generation der Studierenden andere Fragen stellt.

Maget Dominicé: Überhaupt sind heute viele Initiativen in Museen verortet, die man dort von zehn Jahren nie gesehen hätte. So gibt es eine neue Reihe im Münchner Lenbachhaus: „Worte finden – Sensible Sprache in Provenienzforschung und im musealen Kontext“, an der auch das Museum Fünf Kontinente beratend beteiligt ist.

Schorch: Es gibt eine viel stärkere Mobilität bei der Wissensbildung. Ich sehe zum Beispiel, dass das Ethnologie-Institut der LMU viel internationaler geworden ist. Hier untersuchen wir, wie Sammlungsaktivitäten, Missionstätigkeit, ökonomische Interessen und politische Expansion miteinander verflochten waren, wie sie zusammenwirkten, um eine koloniale Ambition umzusetzen. Das deklinieren wir am Fall von Rapa Nui, der Osterinsel, in seiner ganzen Komplexität durch. Wir wollen verstehen, wie Kolonialismus funktioniert und wie er noch heute nachhallt. Die Aufarbeitung kolonialer Realitäten ist für mich eine absolute Notwendigkeit.

Welche Rolle können die Sammlungen da heute spielen?

Werlich: Wir können uns nicht nur auf Fragen der Provenienz konzentrieren. Wir Museen müssen auch dem Interesse an unserer Kulturvermittlung gerecht werden. Im Museum Fünf Kontinente haben wir aber immerhin das Glück, dass wir eine Stelle für Provenienzforschung besetzen können. Wir werden uns intensiv damit auseinandersetzen, welche Rolle das Museum selbst im kolonialen Kontext gespielt hat, wie seine Protagonisten darin verstrickt waren.

Wie sieht es für Ihr Haus aus?

Werlich: Ein großer Bestand unserer frühen Sammlungen stammt aus einer groß angelegten, naturkundlich ausgerichteten Expedition, die Johann Baptist von Spix und Carl Friedrich Philipp von Martius 1820 unternommen hatten. Diese Objekte wurden im Bestreben gesammelt, die Welt zu erkunden, unbekannte Regionen zu begreifen und zu erschließen, im Auftrag der bayerischen Akademie der Wissenschaften. Und dann haben wir die Sammlungen von Objekten, die unter Ludwig I. in China und Indien als Kunstgegenstände angeschafft worden sind, und die große Japansammlung Philipp Franz von Siebolds, die auch Handelsgeografie erzählen sollten. Es gibt also bei uns sehr unterschiedliche Zugänge zu den Objekten und Teilbeständen.

Den Lackhut, den der buddhistische Eremit U Kanti auf diesem historischen Bild trägt, verkaufte er dem Museumsdirektor Lucian Scherman 1911 für eine Rupie. | © Scherman/ MFK

Ein Lackhut vom buddhistischen Abt

Wie sah es in der eigentlichen Kolonialzeit aus?

Werlich: Da kamen Schenkungen bayerischer Militärs hinzu, die in den deutschen Kolonien tätig waren. Hier stellt sich die Frage, welche Rolle das Museum in dieser Zeit gespielt hat. Hat es nur passiv aufgenommen oder hat es auch aktiv akquiriert? Bislang haben wir unsere Sammlungshistorie einigermaßen unkritisch betrieben, haben den Sammlungskontext nur ungenügend problematisiert. Was ist beispielsweise davon zu halten, wenn Lucian Scherman 1911 im heutigen Myanmar mit seiner Frau unterwegs ist und von einem buddhistischen Abt einen wertvollen Lackhut bekommt, den er symbolisch mit einer Rupie bezahlt?

Kann die Provenienzforschung helfen, den Vorwurfsgestus zurückzuweisen, mit dem derzeit das alles behandelt wird?

Maget Dominicé: Ja und nein. Natürlich hilft sie dabei, die Erwerbsketten zu rekonstruieren. Zugleich braucht sie aber einen viel breiteren Raum, um auch den Kontexten und Rezeptionsgeschichte nachzugehen. In der Tat sind derzeit die ethnographischen Sammlungen in den Sturm geraten, andere Häuser sind von den politischen Debatten verschont geblieben. Dabei kann man für so manche Objekte in anderen Museen ebenso die Frage nach den Erwerbskontexten stellen.

Welche Rolle spielte die Wissenschaft in den Häusern?

Werlich: Die ersten Sammlungen des Hauses wurden in einem wissenschaftlichen Kontext angelegt. Allerdings war von den frühen Direktoren der eine ein Reisejournalist, ein anderer ein verdienter Militär, der aus Kamerun zurückkam. Das waren Leute, die mit Ethnographika wenig anfangen konnten. Scherman war dann der erste Direktor, der gleichzeitig einen Lehrstuhl für „Völkerkunde Asiens“ an der Universität hatte. Die Verbindung von Universität und Sammlung greift hier in München also nur bedingt.

Schorch: Es lässt sich nicht die deutsche Institutionengeschichte schreiben. Es gab früher die Vielstaaterei, heute den Föderalismus. Es gab Westdeutschland und die DDR. Und nicht zuletzt gab es eine Vielzahl unterschiedlicher kolonialer Verflechtungen, die das Gesicht der Sammlungen jeweils erheblich prägten. Zieht man das Bild noch ein wenig größer, war es in Deutschland die Institution des Ethnologischen Museums, die die Entwicklung der Ethnologie als Wissenschaftsdisziplin angeschoben hat, dafür sind Berlin und Leipzig Paradebeispiele. In Großbritannien etwa entstanden die Sammlungen weit früher, schon zu Zeiten von Cooks Reisen und damit nach dem Konzept der Wunderkammer, als Herrscher bereits in der Renaissance allerlei Kuriositäten sammelten.

Wie wirkten sich diese Unterschiede in der Folgezeit aus?

Schorch: Dieser späte Boom führte in Deutschland im Laufe der Zeit zu einer starken Trennung zwischen wissenschaftlicher und museologischer Ethnologie. Das wiederum geht einher mit dem generell nachlassenden Interesse an materieller Kultur in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Diese Abkehr ist in Deutschland weit stärker als etwa in den USA. Die Fokussierung auf das Buch, auf Texte als primäre historische Quellen habe ich im sogenannten Westen nirgends so erlebt wie in Deutschland. Und das dürfte einer der Gründe sein, warum derzeit die Überforderung so groß ist: Die Abwendung von materieller Kultur und Hinwendung zu anderen empirischen, methodischen und theoretischen Ansätzen steht der schieren Fülle von Dingen gegenüber, die in den deutschen Museen zusammengetragen sind. Immerhin bildeten Ende des 19. Jahrhundert die Berliner Häuser die größte Sammlungsinstitution der Welt.

„Ethnologische Sammlungen sind hervorragende Wissensspeicher“

Wie kann der Umgang mit den Artefakten in den Sälen und Depots aussehen?

Schorch: Ethnologische Sammlungen sind hervorragende Wissensspeicher, um die Geschichte kollaborativ aufzuarbeiten. Damit können wir Fragen nach zukünftigen Lebensweisen, nach den Beziehungen zwischen Mensch und Umwelt – wichtige Fragen des 21. Jahrhunderts also – beantworten. Für mich hat eine Sammlung den gleichen Status wie eine Bibliothek, vielleicht eröffnet sie aufgrund der Dreidimensionalität und ihrer sensorischen Qualität den Zugang zu anderen Welten der Wahrnehmung als das Buch.

Wie können die Museen ihre Rolle als Wissensspeicher zurückbekommen?

Schorch: In vielen Disziplinen ist wieder ein steigendes Interesse an materiellen Dingen zu beobachten. Wir arbeiten – gemeinsam mit Angehörigen der sogenannten Herkunftsgesellschaften – daran, die Sammlungen wieder als materielle Archive und die Gegenstände als Ausdruck von Kreativität, kultureller Anpassung und Innovation zu verstehen.

Welche neuen Formen von Teilhabe und Kollaboration lassen sich im Zuge eines Restitutionsprozesses entwickeln?

Schorch: Bei einer Restitution handelt es sich nicht um das Ende einer Beziehung, sondern um ein neues Kapitel. Man sollte Restitution in einen viel komplexeren Kontext setzen und sie zukunftsorientiert angehen. Ein Restitutionsprozess ist ein verkörperter Prozess von Beziehungsarbeit, von post colonial memory work. Daran zeigt sich, dass materielle Dinge – seien es menschliche Überreste oder religiöse Objekte – nach wie vor Menschen zusammenbringen und mobilisieren; es entstehen emotionale Verbindungen und potenziell ein echter interkultureller Dialog. Die Museen schaffen die Voraussetzungen dafür. Was für eine Verarmung wäre es, wenn es diese Institutionen kultureller Vielfalt nicht mehr gäbe!

Werlich: Mein Wunsch wäre, dass die Museen so gut ausgestattet sind, dass ich die Möglichkeit und die Ressourcen habe, Expertinnen und Experten aus Herkunftsgesellschaften hierher zu holen und gemeinsam an den Sammlungen zu arbeiten.

Eigentlich ein naheliegender Gedanke. Warum ist da über die Jahrzehnte offenbar wenig passiert?

Werlich: Kein Geld, manchmal auch kein Interesse. Statt einen Co-Kurator mit einer entsprechenden Expertise einzubinden, hat man das Geld schon mal lieber in Marketing gesteckt. Alles eine Frage der Schwerpunktsetzung.

Schorch: Für mich ist das Entscheidende an der aktuellen Debatte, dass die Sammlungen wieder ernst genommen werden. An der Universität Cambridge beispielsweise gibt es schon ein neues Zentrum für Material Culture, mit dem wir auch zusammenarbeiten. Am Center for Advanced Studies der LMU haben wir einen Schwerpunkt „Materiality – Museology – Knowledge“, in dem wir Archäologie, Ethnologie, Kunstgeschichte und Naturgeschichte zusammenbringen. Überhaupt hat die Museologie an der LMU heute einen ganz anderen Stellenwert als noch vor zehn Jahren.

Also hat die Debatte um die Provenienz der Ethnologischen Sammlungen doch auch ihr Gutes?

Werlich: Natürlich. Ich glaube, ohne die Diskussion ums Humboldt-Forum wären wir nicht an dem Punkt, dass wir unsere Sammlung so kritisch hinterfragen. Wir haben in den vergangenen Jahren den Fokus auf Transparenz gelegt, haben viele Dokumente wie Inventarbücher online gestellt und werden auch die Ergebnisse der Provenzienzforschung im Haus sichtbarer machen. Klar, die Polemik, die in mancher Kritik steckt, ist nicht immer schön und manchmal auch over the top, aber sie bewegt halt was.

Moderation: Hubert Filser und Martin Thurau

Prof. Dr. Dr. Antoinette Maget Dominicé ist Juniorprofessorin für Werte von Kulturgütern und Provenzienzforschung am Institut für Kunstgeschichte der LMU. Maget Dominicé, Jahrgang 1980, studierte Kunstgeschichte, Geschichte, Germanistik und Rechtswissenschaft an den Universitäten Lausanne, Paris und Eichstätt. Promoviert wurde sie in Rechtswissenschaft (Öffentliches Recht) und Kunstgeschichte. Nach Stationen unter anderem am Institut national du patrimoine, Paris, war sie Oberassistentin bei den Grundlagenfächern an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Luzern. Antoinette Maget Dominicé gehört dem Förderbeirat „Koloniale Kontexte“ des Deutschen Zentrums für Kulturgutverluste an.

Prof. Dr. Philipp Schorch ist Professor für Museumsethnologie an der LMU. Schorch, Jahrgang 1978, wurde in Museum and Heritage Studies an der Victoria University of Wellington in Aotearoa New Zealand promoviert. Nach Stationen an der Deakin University, Australien, und der Universität Göttingen forschte er an der LMU im Rahmen eines Marie-Curie-Fellowship. Schorch arbeitete als Leiter der Forschung an den Museen für Völkerkunde in Leipzig, Dresden und Herrnhut, bevor er wieder an die LMU kam. Der Europäische Forschungsrat (ERC) zeichnete ihn 2018 mit einem seiner prestigeträchtigen Starting Grants aus. Schorch ist zudem Honorary Senior Research Associate am Museum of Archaeology and Anthropology der University of Cambridge, Großbritannien.

Dr. Uta Werlich ist Direktorin des Museums Fünf Kontinente in München. Werlich, Jahrgang 1970, hat Sinologie, Ethnologie sowie Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft in Bonn, Berlin und Tainan, Taiwan, studiert. Sie ist promovierte Sinologin und Ethnologin. Nach Stationen als wissenschaftliche Assistentin am Museum für Völkerkunde Hamburg und als Kuratorin für Zentral- und Ostasien am Museum der Kulturen in Basel leitete sie zuletzt die Ostasien-Abteilung am Linden-Museum in Stuttgart, bevor sie im Jahre 2018 nach München kam.

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