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Note für Note zum Aha-Moment

03.07.2017

Musikwissenschaftler Hartmut Schick ediert die Werke von Richard Strauss. Bereits die ersten Bände des Langzeitprojekts eröffnen einmalige Einblicke in das Schaffen des Orchestervirtuosen und bieten Inspirationen für künftige Aufführungen.

„Macbeth“ hat Richard Strauss nicht losgelassen. Er schrieb die Tondichtung, seine erste, zwischen den Jahren 1886 und 1888 und arbeitete sie mehrmals um, zuletzt 1891. Zwei Fassungen zeigen heute, wie der Komponist aus einer guten eine außergewöhnliche Partitur machte. „Man sieht in einem entscheidenden Moment seiner Karriere, wie sich Richard Strauss zum Genie wandelt“, sagt Hartmut Schick, Inhaber des Lehrstuhls für Musikwissenschaft an der LMU und Projektleiter der „Kritischen Ausgabe der Werke von Richard Strauss“, in deren Rahmen nun die ersten beiden Bände veröffentlicht wurden. Sie enthalten unter anderem die frühe Tondichtung „Macbeth“ in drei Fassungen. Takt für Takt lässt sich nachvollziehen, wie Strauss die Partitur mit wenigen Änderungen entscheidend verbessert hat. „Man sieht, wie er sich selbst kritisiert. An einer Stelle nimmt er die Lautstärke zurück, an einer anderen tauscht er Instrumente aus oder fügt neue hinzu. Das gibt es bei so gut wie keinem Komponisten dieser Größe. Und hier hat man es nun von einem, der möglicherweise als der beste Orchestervirtuose in der Musikgeschichte gelten kann.“

In dem Editionsprojekt werden seit dem Jahr 2011 erstmals alle verfügbaren Quellen der Kompositionen, die zu Lebzeiten von Richard Strauss entstanden und von ihm autorisiert worden sind, zusammengetragen und verglichen. Bislang werden seine Werke auf Basis der Erstausgaben gespielt, die mit allen Fehlern, die sie enthielten, immer wieder nachgedruckt wurden. „Unser Ziel ist es, die Werke so vorzulegen, wie es sich der Komponist gewünscht hat, wie es zu seinen Lebzeiten aber nie realisiert wurde“, sagt Schick. Nicht weniger als den „bestmöglichen Notentext“ wollen die Musikwissenschaftler erstellen.

Das wird Auswirkungen auf die Aufführungspraxis haben. In einem der kommenden Bände veröffentlichen die Musikwissenschaftler beispielsweise eine zuvor nie im Druck erschienene und zuletzt im Jahr 1940 gespielte Variante der Oper „Salome“. Die sogenannten Dresdner Retouchen hat Strauss selbst für eine Aufführung an der Dresdner Semperoper im Oktober 1930 angebracht. Seine Änderungen der Orchesterbegleitung hatten vor allem das Ziel, den Gesang der Salome besser durchdringen zu lassen. „Er hat den Orchestersatz reduziert und abgedämpft, sodass eine schlanke, zarte Stimme besser durchkommt“, sagt Schick. Damit eröffnete Strauss die Partie der Salome für einen anderen Sängertypus als er bis dahin üblich war – lyrisch und leicht statt hochdramatisch, da er sich eine kindlicher wirkende Protagonistin wünschte. „Das wird sicher eine Rolle spielen, wenn die Oper neu einstudiert wird“, sagt Schick. Das gilt auch für die anderen Werke. „Für uns ist die Arbeit mit den Bänden getan. Aber die Verlage werden auf dieser Basis praktische Ausgaben machen. Das wird zur Verbreitung unseres Notentextes beitragen“, sagt sein Mitarbeiter Dr. Andreas Pernpeintner.

Die Online-Plattform www.richard-strauss-ausgabe.de, die zusammen mit der IT-Gruppe Geisteswissenschaften der LMU erstellt wurde, ergänzt die geplanten 52 Editionsbände. Online werden Liedtexte im Original sowie in der Bearbeitung von Richard Strauss veröffentlicht, daneben Briefe und andere Dokumente wie Rezensionen, die die Entstehungsgeschichte der Werke möglichst umfassend dokumentieren. Ein Jahr nach Erscheinen eines neuen Bandes werden zudem die Textteile daraus dort veröffentlicht. Den Wissenschaftlern eröffnet die Online-Plattform die Möglichkeit, die kritische Werkausgabe laufend auf dem neusten Stand zu halten und dort neue Erkenntnisse und Korrekturen zu vermerken. Die Webseite ist frei zugänglich und bietet einem breiten Publikum einen Zugang zu den Werken des Komponisten. „Es wird sich ein Quellenrepertoire ansammeln, mit dem beispielsweise auch Dramaturgen arbeiten können. Das ist eine schöne Spielwiese selbst für jemanden, der nicht an Noten interessiert ist.“

„Auffällig aktuell“ Richard Strauss, der im Jahr 1864 in München geboren wurde, hatte als Komponist früh Erfolg. „Handstreichartig“ eroberte er schon als junger Mann sein Publikum, wie es Hartmut Schick formuliert, und wurde zum erfolgreichsten und meistgespielten klassischen Komponisten des 20. Jahrhunderts. An die 500 Werke hat er bis zu seinem Tod im Jahr 1949 komponiert. Die Fachwelt jedoch hatte er über Jahrzehnte polarisiert. „Man hat Strauss übel genommen, dass er in einer entscheidenden Phase der Musikgeschichte, in der sich die Musik zur Atonalität weiterentwickelt hat, dem Denken in Tonarten treu blieb“, sagt Schick. Erst in den vergangenen Jahrzehnten hat sich der Blick auf den Komponisten gewandelt: „Wenn man Strauss durch die Brille der Postmoderne sieht, die sich nicht geschämt hat, auf Älteres zurückzugreifen und mit gewissen Brüchen wieder fruchtbar zu machen, ohne deswegen reaktionär zu sein, war Strauss im Grunde der Postmoderne voraus. Für viele Komponisten der heutigen Zeit ist er wieder auffällig aktuell. Sie können sich für Strauss begeistern und sein kompositorisches Handwerk bewundern, die Komplexität seiner Partituren“, sagt Schick. Es sei an der Zeit, sich mit aller wissenschaftlichen Genauigkeit seinen Werken zuzuwenden.

Auch international hat das Interesse an dem Komponisten zugenommen. „Richard Strauss hat in den vergangenen zehn, fünfzehn Jahren eine Renaissance erlebt. Insbesondere in Japan und den USA ist er sehr beliebt.“ Das lässt sich an den Zugriffszahlen auf die Webseite ablesen, die auch Informationen auf Englisch anbietet: Mehr als ein Viertel der Besucher kommt aus Japan. „Es ist ein dezidiert internationales Projekt“, sagt Schick.

Die erste kritische Edition der Werke von Richard Strauss wird von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften über 25 Jahre gefördert – ein Zeitraum, der Laien lang erscheinen mag, aber allein angesichts der Quantität der Werke doch kurz ist und die Musikwissenschaftler unter Druck setzt. „Es ist unglaublich aufwendig, solche Partituren, die bei Opern und Orchesterwerken bis zu 44 Notensysteme haben, Zeichen für Zeichen zu vergleichen“, sagt Schick. Zudem sichten die Forscher Briefe von Richard Strauss, die ihnen unter anderem das Richard-Strauss-Archiv in Garmisch-Partenkirchen zur Verfügung stellt, etwa an Verlage oder Dirigenten, von denen der Komponist täglich bis zu zehn schrieb. Ihnen lässt sich unter Umständen entnehmen, welche Änderungen Strauss autorisiert oder auf welche Fehler er hingewiesen hat. Es sind viele tausend Briefe, die nun im Rahmen des Projekts erstmals in einer Datenbank wissenschaftlich erfasst und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.

Kleine Unterschiede, große Wirkung Bei der mühevollen Grundlagenarbeit des Notensichtens und -vergleichens werden die Wissenschaftler immer wieder mit Überraschungsmomenten belohnt wie jenem beim Vergleich der „Macbeth“-Partituren: „Als Herausgeber wälzt man die Noten hundertmal hin und her. Es ist aufregend und ein sinnliches Erlebnis, wenn man auf einmal sieht: Da ist Strauss etwas eingefallen, und erkennt, warum. Es sind kleine Unterschiede, die eine so große Wirkung haben, dass man von einem enormen Fortschritt sprechen kann. Es ist ein Lehrbeispiel, das man jedem Kompositionsschüler in die Hand drücken müsste“, sagt Dr. Stefan Schenk, Herausgeber des Bandes.

Auch sein Kollege Andreas Pernpeintner kennt diese Momente. Er hat eine bislang unbekannte Klavierbegleitung zu dem Lied „Breit über mein Haupt“ entdeckt. „Das Manuskript mit der späteren Fassung des Liedes war bekannt. Aber seltsamerweise hatte niemand bemerkt, dass es eine völlig neue Begleitung ist. Das zu erkennen, war wirklich ein Aha-Erlebnis.“ Es sei eine schöne, ganz andersartige Fassung, meint Schick.

Bereits die ersten veröffentlichten Bände des Editionsprojekts enthalten zudem bislang nie veröffentlichte Werke. So hat Pernpeintner in einem Museum in Belgien ein Manuskript in Händen gehalten, das zuvor noch nie ediert worden war. „Das ist für das Konzertpublikum unmittelbar greifbar“, sagt Pernpeintner. „Es gehört dazu, dass wir viele Dynamikangaben korrigieren, das ist unser Tagesgeschäft, aber wir stellen auch Werke als Notentext zur Verfügung, die nie zuvor erschienen sind.“

Nicht nur solche Premieren, die selbst für Strauss-Experten neu sind, sogar Dynamikangaben können Begeisterung hervorrufen. So haben die Musikwissenschaftler erstmals die Fassung eines Liedes mit Eintragungen dokumentiert, wie sie Richard Strauss mit seiner Frau, der Sängerin Pauline Strauss-de Ahna, während der eigenen Probearbeiten vorgenommen hat. „Eine Sängerin, der wir die Fassung zeigten, hat diese Eintragungen sofort übernommen. Sie wird das Lied nun genauso singen“, sagt Schick. Angesichts der Fülle an Noten, die die Musikwissenschaftler in den kommenden Jahren noch sichten werden, sagt er: „Es ist Grundlagenarbeit, die man gerne tut, wenn man weiß, dass die Bände nicht in den Regalen verstauben, sondern etwas zum Klingen bringen.“

Mehr Informationen zum Projekt: Kritische Ausgabe der Werke von Richard Strauss

Professor Hartmut Schick ist Inhaber des Lehrstuhls für Musikwissenschaft an der LMU. Er leitet das Editionsprojekt „Kritische Ausgabe der Werke von Richard Strauss“ der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, das vom Akademienprogramm des Bundes und der Länder finanziert wird und im Jahr 2011 seine Arbeit an der LMU aufnahm.

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