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Professor Mario Haim kombiniert Kommunikationswissenschaft mit Informatik

07.12.2022

Neu an der LMU, erforscht Mario Haim Computational Communication – und sieht einen teilweisen Paradigmenwechsel seines Faches.

Algorithmen und „Big Data“ beeinflussen unsere moderne Kommunikation – und stellen auch die Kommunikationswissenschaft vor viele neue Fragen: Wie wirkt sich die ständige Smartphone-Nutzung auf das menschliche Wohlergehen aus? Welche Rolle spielen riesige Plattformen für unsere Nachrichtenwelt? Und was sind passende Methoden, um solche Fragen zu erforschen? Professor Mario Haim, neu an der LMU, befasst sich mit solchen Themen – und kombiniert dabei die klassische Kommunikationswissenschaft mit Methoden der Informatik.

Seit Februar dieses Jahres hat Mario Haim die neu geschaffene Professur für Kommunikationswissenschaft mit Schwerpunkt Computational Communication Research an der LMU inne. Nach einer Ausbildung zum Betriebsinformatiker und sozialwissenschaftlichem Studium in Augsburg, Helsinki sowie an der LMU wurde der gebürtige Österreicher 2018 über das Thema Orientierung von Online-Journalismus an seinen Publika an der LMU promoviert. In Norwegen forschte er fortan als Postdoc an der Universität Stavanger und als Research Fellow an der OsloMet Universität; er war Gast an der Columbia Journalism School in New York und der süddänischen Universität Odense. Von 2019 an hatte Haim eine Juniorprofessur für Datenjournalismus an der Universität Leipzig inne, bevor er im Februar 2022 den Ruf an das Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der LMU annahm.

Hier erforscht Haim zum einen, wie Algorithmen die öffentliche Kommunikation beeinflussen. In seinen jüngsten Veröffentlichungen beschäftigte Mario Haim sich mit der „Plattformisierung” der Nachrichten, der Vielfalt von Google-Treffern und etwa der Frage, wie Suchmaschinen zur Verhinderung von Suiziden beitragen können. Er publizierte Arbeiten über Stereotypen und Sexismus bei Nutzer-Kommentaren über Journalistinnen und Journalisten oder die Anfälligkeit für Fake News in sozialen Medien je nach politischer Orientierung.

Professor Mario Haim steht auf eine Balkon und blickt in die Kamera, er trägt eine Brille und ein graues Jackett. Hinter ihm sieht man die Silhouette der Stadt.

Professor Mario Haim

© vzign

Soziale Effekte wie vor 40 Jahren

Die Computational Communication Science basiere dabei nach wie vor auf den Annahmen der klassischen Kommunikationswissenschaft. „Ein Beispiel ist das Phänomen, das wir im Lockdown während der Pandemie gesehen haben: Wenn Menschen in zunehmend geschlossenen Kommunikationsräumen der sozialen Medien sich eng mit Gleichgesinnten vernetzen, dort keine Gegenmeinungen und nur Likes ihres Freundeskreises erfahren, können sie das Gefühl bekommen, ihre sei die verbreitete Meinung – ganz unabhängig davon, ob das auch wirklich so stimmt“, so Haim. „Damit sind wir etwa bei der Theorie der Schweigespirale, einer klassischen Theorie der Kommunikationswissenschaft. Das ist ein sozialer Effekt, den wir auch schon vor 40 Jahren hatten – nur dass er durch eine algorithmisch kuratierte, fragmentierte Kommunikation noch einmal forciert wird.“

Sein zweites großes Themengebiet ist die Methodenforschung. Wie die Sozialwissenschaften generell müsse sich auch die Kommunikationswissenschaft methodisch weiterentwickeln. „Wir brauchen ein Methodenrepertoire, mit dem sich diese neuen Aspekte unseres Faches überhaupt beforschen lassen.“ Reine Befragungen funktionierten beim Erforschen des digitalen Kommunikationsverhaltens nicht mehr. „Schon weil wir aus Studien wissen, dass Menschen sich in dieser Hinsicht völlig falsch bewerten. Sie unterschätzen etwa ihre Zeit am Handy und überschätzen dagegen ihren Nachrichtenkonsum.“

Ein anderes Problem: „Wie erhebt man die Daten von vier Millionen Facebook-Feeds? Und was machen wir dann damit?“ Statt Befragungen, Beobachtungen und Inhaltsanalysen sähen Forschende sich heute mit automatisierter Beobachtung konfrontiert, mit Methoden wie Tracking, computergestützter Text- und Bildanalyse oder „agentenbasierter Modellierung“, einer speziellen, individuenbasierten Art der computergestützten Simulation. „Bei der Datenauswertung brauchen sie zudem Methoden der Künstlichen Intelligenz, weil sie bei Tweets, Posts und YouTube-Videos nicht nur deutlich mehr, sondern auch ganz anders gelagerte Daten als früher haben – samt Attributen wie Likes, die auf die Popularität eines Posts hinweisen.“ Auch dafür brauche man „informatorische Methoden“ des Natural Language Processing, Machine Learning und der Machine Vision.

Paradigmenwechsel Kommunikations- und Sozialwissenschaften

„Aber wie können unsere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler solche Methoden anwenden, ohne zusätzlich eine Informatik-Ausbildung zu brauchen?“, so Haim. Dazu befasst er sich mit automatisierter Inhaltsanalyse in der Journalismusforschung und der Erfassung von Facebook-Daten – und entwickelt nicht zuletzt selbst Forschungssoftware für die Kommunikationswissenschaft.

„Bei den Methoden der Kommunikations- und Sozialwissenschaften erleben wir einen Paradigmenwechsel“, so Haim. „So ist beispielsweise die Frage, wie eine repräsentative, valide Tweet-Erhebung aussieht, gar nicht so leicht zu beantworten. Denn der klare Anforderungskatalog, den wir für Methoden wie die Befragung sehr wohl haben, muss auf die digitale öffentliche Kommunikation erst noch angemessen übertragen werden.“ Dabei gehe es auch um zuverlässige Standards und ethische Normen.

Weil Medienunternehmen wie Facebook, TikTok und Telegram oft wenig offen dafür seien, Forschenden Zugriff auf anonymisierte Daten zu gewähren, machen sich diese unter anderem das Prinzip der „Datenspende” zunutze. „Gemäß EU-Gesetzen kann jeder Europäer und jede Europäerin etwa bei Instagram seine Daten anfordern. Wir Forschende bitten in Befragungen darum, dies zu tun und uns die Daten in verkürzter und anonymisierter Form zu Forschungszwecken zur Verfügung zu stellen.“

Das sei ein „sehr aufwendiger, aber datenschutzkonformer Weg“, mit leider geringem Rücklauf. „Wie man idealerweise auf Menschen zugeht, ist gerade eine heiße Frage im Feld.“ Dafür lässt sich gut auf Befunde der klassischen Befragungsforschung, aber auch der Spendenforschung aufbauen. Mario Haim und sein Team bitten schon mal Studierende am Rande von Vorlesungen um Datenspenden. „Und Kolleginnen und Kollegen von der Universität Amsterdam gingen auf Nachtschwärmer zu, die bei einem Musikkonzert in der Schlange standen.“

In einem Podcast diskutiert Haim mit wechselnden Gästen über aktuelle Fragen seines Fachs.

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