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Putins Rhetorik: „Auf emotionaler Ebene bis zum Äußersten gegangen“

21.03.2022

Literaturwissenschaftler Riccardo Nicolosi analysiert die Reden zum Krieg gegen die Ukraine und erkennt eine Eskalation, die schon vor Jahren begann.

Professor Riccardo Nicolosi ist Lehrstuhlinhaber für Slavische Philologie an der Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaften der LMU.

Prof. Dr. Riccardo Nicolosi | © Privat

Begnadete Redner verstehen es, ihre Zuhörer zu begeistern. Spielt Putin in einer Liga mit Martin Luther King und Barack Obama?

Riccardo Nicolosi: Putin ist in der Tat kein begnadeter Orator. Er ist niemand, der die Masse mitreißen kann. Das war aber auch niemals seine Aufgabe. Im Übrigen auch nicht im Alltag: Er hat nie wirklich Wahlkampf gemacht, hat sich also nie in einer Situation befunden, in der er die Leute bei einem Auftritt begeistern musste. Er hat immer die Rolle des Präsidenten super partes kultiviert, der außerhalb dieser politischen Auseinandersetzungen steht.

Was macht ihn dann als Redner aus?

Putin hat sich über die Zeit eine vielschichtige Rhetorik aufgebaut, die sehr interessant ist. Er arbeitet dabei durchaus viel mit rationalen Argumenten. Zum Beispiel vergleicht er die aktuelle Situation in der Ukraine mit dem Kosovo. In seiner Argumentation ist die russische Bevölkerung von einem Genozid bedroht. Er stellt die Frage: Warum war eine Intervention 1999 völkerrechtlich legitim und die Annexion der Krim 2014 und die heutige militärische Intervention wären es nun nicht?

Diese rationalen Argumente mischt er häufig mit der historischen Narration einer Wiederzusammenführung der russischen Welt. Eine Idee, die sehr alt ist und bei der es weniger um den Wiederaufbau der UdSSR geht, sondern die sich an das Zarentum Russland aus dem 19. Jahrhundert anlehnt. Bei der Ansprache über die Anerkennung der Volksrepubliken Lugansk und Donezk machte dieser Punkt etwa die Hälfte seiner Rede aus.

Als drittes Element in seiner Rhetorik bedient Putin aktuell massiv eine emotionale Ebene, über die vergleichsweise wenig gesprochen wird. Russland sei das Opfer einer Weltpolitik, die es nach dem Zerfall der Sowjetunion ständig gekränkt, belogen und betrogen habe. Die Verwebung dieser drei Ebenen in Verbindung mit einer monologischen Vortragsweise, die keine Widerrede akzeptiert, macht die Wirkung seiner Rhetorik aus.

Der Kreml spiegelt sich in der Moskwa.

© IMAGO / agefotostock

Ist das wirklich Putin, der in seinen Auftritten spricht, oder sind es seine Redenschreiber?

Putin hat eine ganze Abteilung mit Dutzenden Redenschreibern und Fachexperten, die alle für unterschiedliche Themen zuständig sind. Trotzdem wissen wir mit ziemlicher Sicherheit, dass er auch selbst an seinen Reden mitschreibt und Schwerpunkte vorgibt. Die Frage ist: Was glaubt Putin selbst? Ich denke, dass er davon überzeugt ist, dass sich Russland in einem entscheidenden Kampf gegen den Westen befindet. Das Thema zieht sich wie ein roter Faden durch seine Präsidentschaft.

Mit freiem Oberkörper beim Angeln und Reiten. Wie so viele Diktatoren pflegt Putin das Image eines Strongman. Spiegelt sich das auch in seiner Rhetorik wider?

Definitiv. Er ist nach Jelzin, dessen letzte Jahre von einem kranken und fast unberechenbaren Präsidenten geprägt waren, als der starke Mann angetreten. Als Mann aus dem Geheimdienst, der sehr entschieden, entschlossen und maskulin ist. Das zeigt sich auch in seiner Sprache, die vom Historisch-Staatstragenden bis hin zum Vulgär-Gewalttätigen reicht.

Gerade jetzt im Alter, wenn Bilder weniger Maskulinität ausstrahlen, wird seine Sprache noch wichtiger werden. Das konnten wir auch bei Putins jüngsten Reden aus seinem Arbeitszimmer beobachten, bei denen er sich bedrohlich am Tisch festgekrallt hatte. Diese sehr direkten Ansprachen sollten Wut ausdrücken und gezielt Angst machen.

Nach diesen Reden entstand im Westen der Eindruck, der russische Präsident habe den Verstand verloren. Wie haben Sie das wahrgenommen?

Ich denke nicht, dass er den Verstand verloren hat. Sieht man sich Putins Reden und Auftritte der letzten Jahre an, erkennt man, dass die Themen nicht neu sind und lediglich eine stufenweise emotionale Steigerung bis nahe an den Wahnsinn stattgefunden hat. Die Bedrohung Russlands durch die Expansion des Westens war bereits seit Anfang der Nullerjahre ein wiederkehrendes Thema für ihn. Die Affektrhetorik eines betrogenen Russlands, das immer aufrichtig gewesen sei, kann man verstärkt seit Putins Rede 2007 bei der Münchner Sicherheitskonferenz beobachten. Und 2014 basierte die Annexion der Krim auf der gleichen Argumentation wie jetzt die Invasion der Ukraine. Reden sind außerdem nicht spontan. Wir können daher von einer Inszenierung ausgehen, die vermitteln soll: Wir sind unberechenbar, also mischt euch nicht ein!

Putin spricht nur von militärischen Spezialeinsätzen und nicht von einem Krieg. Warum ist diese Unterscheidung für seine Rhetorik so wichtig?

Weil es sich in seinen Augen um eine Befreiungsoperation handelt. Damit ist verbunden, sich nicht als Aggressor, sondern als Retter zu sehen. In der Bevölkerung gibt es sicherlich auch keinen Rückhalt für einen Angriffskrieg gegen ein Land, das geographisch, kulturell und sprachlich so nah an Russland ist.

So einen Krieg könnte man schwer erklären, aber bei einer Spezialoperation, bei der man das russische Volk in der Ukraine vor einem Genozid schützt, sieht das anders aus. Deswegen auch die ganze Zensur auf russischer Seite, um Informationen über den Krieg vor der Bevölkerung zurückzuhalten. Andererseits beobachten wir gerade, dass die Kriegsbilder die Russen durchaus erreichen, dass aber viele ihnen trotzdem nicht glauben wollen. Das ist ein Effekt der russischen Propaganda der letzten zwei Jahrzehnte, deren Ziel es war, Skeptizismus gegenüber jeder Form von Wahrheit zu verbreiten.

Genozid und Entnazifizierung sind weitere Schlagworte, die er immer wieder anführt. Was will er damit bewirken?

Einerseits soll es der Invasion der Ukraine auf rationaler Ebene eine völkerrechtliche Legitimation geben. Auch vor der eigenen Bevölkerung, die den Ukrainern ja oftmals sogar familiär verbunden ist. Andererseits stellt er damit auch eine Verbindung zwischen der aktuellen Situation und dem Zweiten Weltkrieg her, einer Epoche, in der die Sowjetunion heldenhaft gegen Nazideutschland, einen westlichen Aggressor, und Kollaborateure aus der Ukraine kämpfte.

Diese Art des Rückbezugs auf westliche Verfehlungen, um den Regierungen gewissermaßen einen Spiegel vorzuhalten, ist ein rhetorisches Mittel, das Putin häufiger verwendet. So zum Beispiel als die russische Regierung kürzlich behauptete, dass die Ukraine den Einsatz chemischer Waffen vorbereite. Das erinnert stark an den Einmarschgrund der USA in den Irak und heißt: Wir sind nicht schlechter als der Westen.

Wer ist die Zielgruppe für Putins Reden?

Putin richtet sich nicht nur an Russland, sondern immer auch an die russische Bevölkerung außerhalb Russlands, für die sich der Kreml zuständig fühlt. Also in vielen der ehemaligen Sowjetrepubliken.

Gleichzeitig ist auch immer die Bevölkerung im Westen angesprochen. Outlets wie Russia Today sorgen dafür, dass Inhalte aus Putins Reden wie die Osterweiterung der NATO und die vermeintlich ungerechte Behandlung Russlands auf Deutsch, Englisch und weiteren Sprachen in die Welt getragen werden. Das Ziel ist an dieser Stelle, Desinformation zu verbreiten und Zwietracht zu säen. In Stasi-Sprache würde man es wohl Zersetzungsarbeit nennen.

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Sie haben darüber gesprochen, dass Putin seine Rhetorik über die Jahre immer weiter eskaliert hat. Gibt es in Ihren Augen da noch einen Weg zurück zur Deeskalation?

Das ist eben das große Problem, weil Putin auf emotionaler Ebene wirklich bis zum Äußersten gegangen ist. Das ist tragischerweise aus rhetorischer Sicht die letzte Stufe, die er zünden konnte. Er hat sich in dieser Hinsicht in den letzten Wochen stark persönlich und als Staatsoberhaupt exponiert. Aus diesem Grund ist es auch schwer vorstellbar, dass Putin sich auf Kompromisse einlässt und diese verkündet. Solange er den Krieg persönlich vertritt, kann ich mir nicht vorstellen, dass verbal und rhetorisch abgerüstet wird.

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Sehen Sie auch die Podiumsdiskussion der Graduiertenschule für Ost- und Südosteuropastudien mit Professor Riccardo Nicolosi und Professor Martin Schulze Wessel sowie Professorin Petra Stykow "Der Krieg Russlands gegen die Ukraine. Rhetorische, historische und politische Hintergründe" auf YouTube.

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