Rechtsinformatik: „Für unseren Hackathon muss man kein Hacker sein“
11.11.2021
Ein Workshop gibt Jurastudierenden Einblick ins Programmieren. Die Lehrveranstaltung ist mit einem Lehrinnovationspreis 2021 der LMU ausgezeichnet.
11.11.2021
Ein Workshop gibt Jurastudierenden Einblick ins Programmieren. Die Lehrveranstaltung ist mit einem Lehrinnovationspreis 2021 der LMU ausgezeichnet.
Maschinelle Verträge, Websites für Fluggast-Klagen und Computer, die Akten prüfen – auch in der Jurisdiktion schreitet die Digitalisierung voran und „Legal Tech“ übernimmt immer mehr Aufgaben. In einem innovativen Workshop an der LMU erhielten angehende Juristinnen und Juristen einen Einblick ins Programmieren und mögliche Anwendungen.
„Wir wollten Studierenden die Angst vor der Technik nehmen“, erklärt der Leiter des Kurses, Sebastian Nagl. Denn als „Digital Natives“ hätten diese zwar allesamt Smartphones und wüssten die vielen Apps darauf zu bedienen. „Aber wie die digitale Technik dahinter funktioniert, das wissen die wenigsten“, sagt der 32-Jährige. Gerade das sei jedoch nötig, um Sachverhalte IT-rechtlich beurteilen oder andererseits selbst entwickeln zu können. Um Abhilfe zu schaffen, bot Nagl im vergangenen Wintersemester den extracurriculären Workshop „Legal Tech-Anwendungen in der Praxis“ am Rechtsinformatikzentrum der LMU an. Die Veranstaltung in Kooperation mit der Technischen Universität München sowie der Munich Legal Tech Student Association e.V. wurde jüngst mit dem Lehrinnovationspreis der LMU ausgezeichnet.
Wir wollten Studierenden die Angst vor der Technik nehmenSebastian Nagl, Kursleiter
Das Feld „Legal Tech“ sei in Deutschland noch in der Entwicklung, sagt Sebastian Nagl, der selbst derzeit als Rechtsreferendar am Oberlandesgericht München sowie als „Legal Engineer” in einer Kanzlei arbeitet. „Während IT-Recht durch das Voranschreiten von E-Commerce und sozialen Plattformen längst superrelevant ist, kam Legal Tech – ein modernes Wort für Rechtsinformatik – hier erst relativ spät an. Der Grundgedanke: Wie kann ich durch technische Anwendungen ein juristisches Problem lösen oder zumindest optimieren.“ Als Beispiel: „Wenn eine Kanzlei früher ein großes Mandat bekommen hat, wälzten die Anwälte erstmal monatelang Akten, um rechtlich relevante Zusammenhänge zu prüfen. Heute macht der Computer das in wenigen Minuten.” Auch Mahnungen, Blitzerzettel und etwa Inkassoschreiben seien „alle schon raus aus dem Tätigkeitsbereich des Anwalts“ und Legal Tech-Unternehmen überlassen.
Der Jurist als Mensch spiele dabei immer weniger eine Rolle, weil die Technik ihm Arbeit abnehme. So ließe mancher Anwalt seine Kunden heute erstmal digitale Fragebögen durchklicken, um automatisch vorzusortieren, ob rein formell eine Chance auf Erfolg besteht. „Das kann beiden Seiten Zeit und Geld sparen, etwa wenn eine zwingend vorgeschriebene Frist bereits überschritten wurde.“ Ein anderes Beispiel seien Internetseiten wie Flightright, auf denen Bürger halbautomatisiert ihre Fluggastrechte geltend machen können. Und gerade habe der Bundesgerichtshof in einem bahnbrechenden Urteil maschinelle Vertragsgeneratoren zugelassen. „Solche Anwalts-Privilegien bröckeln“, erklärt Nagl. „Für den Juristen bleibt immer weniger Zusatzarbeit, stattdessen kann er sich auf das Kerngeschäft beziehen: Die Interaktion mit dem Mandanten und die rechtliche Bewertung auf komplexerer Ebene. All das eben, was – noch – nicht digitalisierbar ist.“
Für Sebastian Nagl ist der Umgang mit Computern so etwas wie eine Herzensangelegenheit. „In meiner Jugend in den Bergen um Berchtesgaden war ich ein Gamer – und brachte mir während des Jura-Studiums an der LMU nebenher autodidaktisch das Programmieren bei – als handwerklicher Ausgleich zum juristischen Lernen sozusagen.“ Heute hat er das Erste Staatsexamen in der Tasche und bescheinigt sich selbst „alle Charakterzüge eines klassischen Nerds: Ich spiele Magic-Karten, Dungeons and Dragons und programmiere auch in meiner Freizeit“.
Um auch weniger Technik-affine Studierende auf den sich ändernden Rechtsmarkt vorzubereiten, war sein Workshop zweigeteilt. „Ein Blockseminar sollte den Studierenden zunächst ein Gefühl für das Programmieren, etwa mit Python oder JavaScript, vermitteln und sie so auf das zweite Modul vorbereiten: unseren ‚Legal Tech-Hackathon’“.
Je interdisziplinärer der Hackathon, desto praxistauglicher sind die ErgebnisseSebastian Nagl
Bei einem „Hackathon“ – Wortschöpfung aus „Hacking“ und „Marathon“ – erstellen die Teilnehmenden gemeinsam und in vorgegebener Zeit Softwareprodukte oder suchen mithilfe der digitalen Technik Problemlösungen. „Die Teams bleiben tagelang in einem Raum“, erzählt Sebastian Nagl, der selbst an zahlreichen Hackathons teilgenommen hat, “versorgt mit Lebensmitteln, Kaffee und Bier für den Abend. Beim Programmieren unterstützen sie sich gegenseitig, sitzen zwischendurch zusammen, haben einfach Spaß.“ In seinem Workshop wollte er das auch in Corona-Zeiten nachempfinden – und veranstaltete den Hackathon als Zoom-Meeting.
Unter den sechs Teams à fünf Studierenden waren dann allerdings nicht nur Juristen und Informatiker, sondern auch etwa Studierende der Mathematik und Psychologie. „Denn je interdisziplinärer der Hackathon“, erklärt Sebastian Nagl, „desto praxistauglicher sind die Ergebnisse.“ So entwickelte ein Team eine Software, die aus Tatbestandsaufnahmen vor Gericht Prognosen für das Urteil trifft, indem sie die benutzte Sprache untersucht, deren Wortwahl etwa und Wiederholungen. Ein anderes hatte die Idee zu einem „Tool“, das Bürgern hilft, in Angelegenheiten das zuständige Gericht zu finden. Und ein drittes Team dachte sich eine Chatbot-Funktion aus, das Nutzer vorab mit dem Anwalt kommunizieren lässt. Statt fertiger Software-Programme konnten die Teams der Jury sogenannte ,Mock-ups’ präsentieren – gemalte Papierplakate, die Schritt für Schritt die einzelnen Bildschirmansichten einer Anwendung zeigten. „Denn für unseren Hackathon musste man kein Hacker werden – er richtete sich ganz klar an Einsteiger.“ Von der Jury bewertet wurde demnach auch nicht die technische Qualität des digitalen Produkts, sondern die zugrunde liegende Idee.
Rückblickend war, obgleich virtuell, doch vieles wie bei einem realen Hackathon. „Ich habe das ganze Wochenende nicht geschlafen“, resümiert Sebastian Nagl, scheint darüber aber nicht traurig zu sein. „Alle Studierenden haben viel gelernt und dazu noch Spaß gehabt. Ich bin der LMU und den Kooperationspartnern sehr dankbar. Und für mich persönlich war es das Highlight meiner gesamten universitären Zeit.“