Romanistik: Mit Literatur Geschichte und Gesellschaft verstehen
22.01.2025
Benjamin Loy erforscht an der LMU, wie Literatur Ästhetik, Politik und Gesellschaft verbindet.
22.01.2025
Benjamin Loy erforscht an der LMU, wie Literatur Ästhetik, Politik und Gesellschaft verbindet.
„Romanistik ist traditionell ein breit aufgestelltes Fach“, sagt Professor Benjamin Loy. Diese Feststellung mag lapidar klingen, doch wenn der Philologe aufzählt, welche Forschungsschwerpunkte er an der LMU seit seiner Berufung auf eine Professur für Romanische Philologie im April 2024 gesetzt hat und welche er noch setzen wird, wirkt sie eher untertrieben. „Romanistik ist eine vergleichende Literatur-, Sprach- und Kulturwissenschaft, die Beziehungen und Netzwerke zwischen Literaturen und Kulturen in Geschichte und Gegenwart erforscht“, betont Benjamin Loy.
Ihm geht es dabei immer auch um den Zusammenhang zwischen Ästhetik und Politik – unter anderem mit Blick auf autoritäre Regime und Diskurse in Europa und Lateinamerika. Schließlich betrachtet er Literatur auch als Medium, das sich mit den Phänomenen der sozialen, ökonomischen und ökologischen Beschleunigung in der Moderne auseinandersetzt.
Benjamin Loys Forschungen basieren auf der Erkenntnis, dass alle Formen menschlicher und gesellschaftlicher Organisationen sich über Prozesse des Erzählens ausprägen. Diese Formen des Erzählens überschreiten die Grenzen von Nationen, Sprachen und Literaturen, was sich am Beispiel der Romania besonders gut zeigen lässt. Im Rahmen eines seiner Schwerpunkte – der literarischen Moderne ab Mitte des 19. Jahrhunderts – lassen sich etwa die Literaturen der iberischen Halbinsel und Lateinamerikas kaum ohne die stilprägenden Einflüsse der französischen Lyrik und des realistischen Romans verstehen.
Auch im 20. Jahrhundert bildet sich ein globaler literarischer Raum heraus, in dem Texte und Ästhetiken zwischen den Kontinenten zirkulieren. Verlage, Übersetzerinnen und Übersetzer sowie die Literaturkritik spielten dabei eine zentrale Rolle, wie Loy in zahlreichen Publikationen zum globalen Buchmarkt untersucht hat. Loy selbst promovierte mit einer Arbeit über Roberto Bolaño, „den wichtigsten lateinamerikanischen Autor des 21. Jahrhunderts“, der sich unter anderem intensiv mit den Problemen der Militärdiktaturen in Lateinamerika auseinandersetzte – ein Feld, das Loy auch an der LMU weiter beschäftigen wird.
Romanistik ist eine vergleichende Literatur-, Sprach- und Kulturwissenschaft, die Beziehungen und Netzwerke zwischen Literaturen und Kulturen in Geschichte und Gegenwart erforscht.Benjamin Loy
Momentan arbeitet Loy mit Kolleginnen und Kollegen aus Brasilien und den USA zu populistischen und autoritären Positionen und Ästhetiken in den Literaturen Lateinamerikas im 20. Jahrhundert. Es sei bemerkenswert, so Loy, wie stark etwa in den 1920er- und 1930er-Jahren Autoren das Ziel einer „ästhetischen Ermächtigung“ verfolgten und letztlich über den Weg einer „ästhetischen Diktatur“ eine neue nationale Gemeinschaft begründen wollten.
Solche Kämpfe um politische Macht und Autorität seien nicht nur mit Waffen, sondern vor allem auch diskursiv geführt worden – über die Sprache und die Macht der Bilder. Diese Mechanismen seien auch gegenwärtig im globalen Erstarken des Populismus zu beobachten.
Als in Brasilien die größte faschistische Bewegung Lateinamerikas entstand, war es ein Dichter und Romancier, Plínio Salgado, der einen Staatsstreich unternahm, betont Benjamin Loy. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg orientierten sich verschiedene lateinamerikanische Führerfiguren an der von den Nazis in Deutschland praktizierten ästhetischen Überwältigung in Literatur, Kunst und Architektur.
Darüber hinaus beschäftigt sich Loy immer wieder mit Literatur und Film als Formen, die Vorstellungen von Gesellschaft mitprägen. Für Lateinamerika spielt dies eine zentrale Rolle in der globalen Wahrnehmung der Region, denkt man etwa an die besonders in Mexiko und Kolumbien vielfach thematisierte Narco-Kultur, also die Welt des Drogenhandels. Um diese hat sich in der Literatur, aber auch in der Musik und im Film eine spezielle Form der populären Heroisierung entwickelt, die nicht nur ästhetische Wirkung entfaltet, sondern auch politisch problematisch ist.
Skeptisch sieht Benjamin Loy zudem das Bild, das zeitgenössische lateinamerikanische Literatur vermittelt, die in Europa besonders gelesen und von Verlagen nachgefragt wird. Er spricht von einer verzerrten Wahrnehmung, als gebe es dort vor allem Gewalt und Diktatur. Sicher, es sei ein „gewalttätiger Kontinent“, aber eben auch viel mehr. Dieser Aspekt werde in der gegenwärtigen Wahrnehmung jedoch nur wenig beachtet.
Solche Fragen nach unterschiedlichen Wahrnehmungsformen stehen auch im Mittelpunkt eines neuen Forschungsprojekts des Philologen. Darin geht es um Kategorien von Zeit aus der Perspektive der Literaturen des Globalen Südens.
„Es ist interessant, wie Autorinnen und Autoren in Fiktionen und Essays darüber nachdenken, wie sich die Erfahrungen widerspiegeln, eine Region zu sein, die stark vom Kolonialismus geprägt und ausgebeutet wurde. In unserem Projekt geht es weniger um die ökonomischen Dimensionen dieser Ausbeutung, sondern um Machtfragen, die mit bestimmten Formen und Praktiken des Wissens in diesen kolonialen und postkolonialen Kontexten einhergingen", erläutert Loy. „Konkret fragen wir danach, wie westliche Zeitkategorien ein zentrales Instrument von Herrschaft waren, wie sie zu neuen Formen der sozialen und ökonomischen Beschleunigung in der Moderne beitrugen und wie diesen Kategorien in den Literaturen und Künsten in Lateinamerika und Afrika ganz eigene Zeitformen entgegengestellt wurden, die nach Alternativen zur radikalen Fixiertheit auf die Zukunft suchten.“
Wichtig für den Philologen ist auch die Vernetzung, denn Forschung geschieht nicht „im stillen Kämmerlein“. Zusammen mit anderen Philologinnen und Philologen der LMU möchte er am neu gegründeten Zentrum für Gegenwartsliteratur München, dessen stellvertretender Sprecher er ist, unter anderem über den Stellenwert der Literatur in der Gesellschaft diskutieren.
Loy selbst schreibt regelmäßig Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung über Theater und andere romanistische Themen, „um Themen zu setzen“, etwa über den Militärputsch in Chile oder das gegenaufklärerische Denken in Frankreich. Denn: Mehr noch als die Naturwissenschaften stehen „die Geisteswissenschaften stärker denn je vor der Aufgabe, das breite Publikum zu informieren, worüber wir arbeiten und ob das noch relevant ist.“ Auf ein breit aufgestelltes Fach wie die Romanistik, wie Loy es versteht, trifft Letzteres ganz sicher zu.