Spuren des Schicksals: Die Kinder der Jüdischen Volksschule München
21.05.2024
Forschende und Studierende der LMU haben das Schicksal von Kindern der Jüdischen Volksschule in München nachgezeichnet. Ausgangspunkt der Recherche: ein Klassenfoto aus dem Jahr 1937.
„Was macht eigentlich…? Was ist aus der Mitschülerin oder dem Mitschüler geworden? Wann ist mal wieder ein Klassentreffen?" Viele Menschen haben sich beim Blättern oder Klicken durch Klassenfotos ähnliche Fragen schon einmal gestellt. Dieser Bildtyp ist emotional besonders aufgeladen, weil er Erinnerungen weckt, der eigenen Selbstvergewisserung dient, aber auch für die Unkenntnis von einst Vertrautem steht: Man hofft, die einstigen Mitschülerinnen und -schüler haben auch ihren Weg gemacht …
Beim Klassenfoto aus dem Nachlass des Orientalisten und LMU-Professors Karl Süßheim weiß man jetzt: Elf der 47 Mitschülerinnen und -schüler seiner Tochter Margot, mit denen sie die Schulbank in der Herzog-Rudolf-Straße gedrückt hat und die auf dem Foto lächelnd, interessiert oder erwartungsvoll in die Kamera schauen, haben es nicht geschafft, ihr Leben zu leben. Sie und ihr Lehrer Ferdinand Kissinger – der Großonkel des späteren US-amerikanischen Außenministers Henry Kissinger – wurden von den Nationalsozialisten ermordet.
Die Kinder der Jüdischen Volksschule in der Herzog-Rudolf-Straße im Jahr 1937.
Den anderen Schülerinnen und Schülern ist es gelungen, noch rechtzeitig vor dem nach der Pogromnacht 1938 in aller Wirkmächtigkeit um sich greifenden Naziterror zu fliehen. Sie konnten in verschiedenen Teilen der Welt neue Existenzen aufbauen, wurden Anwälte, Forschende, Künstlerinnen, Botschafter oder Schriftsteller. Auch Karl Süßheim konnte mit seiner Familie in die Türkei fliehen, wo er 1947 starb.
Lücke in der Erinnerungskultur schließen
„Ich habe das Klassenfoto bei den Recherchen für meine Dissertation über Karl Süßheim in den USA in seinem Nachlass gefunden, den seine Enkelin betreut“, erzählt Dr. Kristina Milz vom Institut für Zeitgeschichte in München (IfZ), die zudem an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften forscht. Sie hat sofort das enorme quellenhistorische Potenzial des Fotos erkannt, was ihr auch der Betreuer ihrer Dissertation und Direktor des IfZ, Professor Andreas Wirsching, bestätigt hat.
Zusammen mit ihrer Kollegin Dr. Julia Schneidawind vom Lehrstuhl für Jüdische Geschichte und Kultur der LMU initiierte sie ein Projekt mit dem Ziel, die Schicksale der Kinder zu recherchieren, um so nicht zuletzt auch eine Lücke in der Münchner Erinnerungskultur zu schließen.
„Zu zweit ist es natürlich nicht so leicht, 48 Biografien zu recherchieren“, räumt Milz ein. Die beiden Historikerinnen boten deswegen im Wintersemester 2023/24 eine Übung an der LMU an, in deren Rahmen neben der Vermittlung quellenkundlicher Fertigkeiten auch die Recherche stand: 13 Studierende machten sich auf die Suche nach Quellen zum Leben der Kinder.
Während Julia Schneidawind in der Lehrveranstaltung wichtige Grundlagen der Jüdischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts vermittelte, gab Kristina Milz, die neben ihren historiographischen Arbeiten auch als Autorin für verschiedene Medien schreibt, wichtige Einblicke in die biografische Forschung und das Verfassen von Texten. Die Historikerinnen wollten aufzeigen, wie historische Forschung anhand eines einzigen Fotos mit wenigen Informationen konkret auf die allgemeine Geschichte ausgreifen kann und wo die Möglichkeiten, Herausforderungen und Grenzen dieses Vorgehens liegen.
„Wir haben vor der Übung nicht genau gewusst, zu welchen Kindern wir welche Quellen finden werden. Wir hatten nur eine Ahnung davon“, sagt Julia Schneidawind. Den Teilnehmenden wurden daher auch die Biografien von Kindern zugeteilt, bei denen eine schwierige Quellenlage absehbar war. „Damit wollten wir sicherstellen, dass alle Studierenden mindestens ein Schicksal bearbeiten, bei dem sie weit kommen können und eines das schwieriger war. Das ist glücklicherweise gelungen.“ Es sei eben auch wichtig zu lernen, sagt Kristina Milz, dass man manchmal nicht mehr weiterkommt.
Mavie Schlehe findet das gut: „Man konnte bei der Übung gut erleben, wie historische Forschung funktioniert: Manchmal hat man Glück und bekommt viel Quellenmaterial und weiß fast nicht, wo man anfangen soll. Manchmal gibt es einfach nichts.“
Wir haben vor der Übung nicht genau gewusst, zu welchen Kindern wir welche Quellen finden werden. Wir hatten nur eine Ahnung davon
Dr. Julia Schneidawind
Deutsch lesen lernen
Zunächst mussten die Studierenden die Namen der Kinder entziffern, die Karl Süßheim in deutscher Kurrentschrift auf der Rückseite des Fotos notiert hatte. „Das war nicht ganz leicht, aber eine super Übung, weil wir damit auch gleich im Rechercheprozess drin waren“, sagt Schlehe, die im vierten Semester Geschichte und Deutsch für das Lehramt an Gymnasien studiert.
Dass Süßheim so sorgfältig war, habe die Arbeit natürlich erleichtert: Es gab die Namen. Nächster Schritt war die Suche im Netz – über Suchmaschinen und Familiendatenbanken. „Hier war schon relativ viel zu finden.“
Etwa zu Eduard, später Edward Engelberg, der auf dem Klassenfoto mit der Nummer 35 bezeichnet ist. Ihm war mit seiner Familie die Flucht über die Schweiz in die USA gelungen. „Sein Vater ist zunächst im KZ Dachau inhaftiert worden“, erzählt Mavie Schlehe. „Seiner Mutter ist es aber gelungen, durch den Verkauf eines Gemäldes ein Visum zu erhalten und damit den Vater freizubekommen.“
Edward Engelberg wurde in seiner neuen Heimat Professor für Komparatistik an der Brandeis University. 2016 ist er verstorben. „Ich habe einen Artikel über ihn gefunden, den sein Sohn als Journalist geschrieben hat“, sagt Schlehe. „Ihn habe ich kontaktiert und er hat mich sehr unterstützt – Fragen beantwortet, Bilder geschickt und auch persönliche Dinge über seinen Vater erzählt.“ Dieser Kontakt habe das Projekt so besonders gemacht, denn „es ist nicht alltäglich, dass man so nahe an die Schicksale herankommt“.
Und berührende Geschichten erzählt bekommt, etwa als sie „ihren“ Schüler Edward Engelberg in einem Video erleben konnte, in dem er zu dem Gemälde interviewt wurde. „Es war sehr emotional für mich, ihn sehen zu können und sprechen zu hören. Er hat immer wieder von einschneidenden Ereignissen aus seiner Kindheit erzählt – wie über den Tag nach der Pogromnacht oder wie er nach dem Überqueren der Schweizer Grenze mit der Familie vor Freude und Erleichterung eine Tafel Schokolade gegessen hat.“
Das waren ganz normale Kinder – Kinder wie wir früher. Die schrecklichen Umstände und das, was sie durchmachen mussten, ist für mich sehr bewegend.
Derek Lesho
Positiver Schock bei den Nachkommen
Auch ihr Kommilitone Derek Lesho konnte bei seiner Recherche des Schicksals von Paul Nußbaum – mit der Nummer 34 markiert – viele Informationen finden. Nußbaum war ebenfalls die Flucht in die USA gelungen. „Er ist 1939 in die Vereinigten Staaten gekommen und konnte sich in Baltimore eine Existenz als Anwalt aufbauen“, erzählt Lesho, der über seine Spurensuche im Netz auch Kontakt zu dessen Kindern bekommen hat. „Die waren regelrecht positiv geschockt, als jemand nach dem Schicksal ihres Vaters gefragt hat. Wir haben uns dann in einem Zoom-Meeting ausgetauscht und sie freuen sich, München zu besuchen, um mehr über das Projekt zu erfahren.“
Paul Nußbaum und Edward Engelberg gehörten zu den Glücklichen, die es noch geschafft haben, Deutschland zu verlassen. Entsprechend groß ist auch der Quellenfundus, und die Unterstützung durch Verwandte konnte diesen beträchtlich erweitern. So war es Derek Lesho auch möglich, das Tagebuch von Paul Nußbaum in Augenschein zu nehmen, das dieser nach seiner Flucht in den USA geführt hat.
Neben den Eintragungen, die das Leben in München, die Flucht der Familie und die Erfahrungen, sich in einem fremden Land zurechtfinden zu müssen, schilderten, war auch der Umstand bedeutsam, dass er das Tagebuch von einer Mitschülerin geschenkt bekommen hatte, die die Shoah nicht überlebt hat: Berta genannt „Bertel“ Sandbank – auf dem Klassenfoto mit der Nummer 28 vermerkt. Sie sei nach dem Bekunden ihrer Mitschüler eine überaus beliebte, sehr gute und sportliche Schülerin gewesen, gesund und lebensfroh. Als die Familie die Nachricht vom Tod ihres Vaters im KZ Dachau angeblich durch einen Herzinfarkt erhielt – in Wirklichkeit war er zu Tode geprügelt worden –, vergiftete ihre Mutter sich und ihre Kinder aus Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit – Bertel und ihr Bruder überlebten.
Am 10. April 1942 wurde Bertel Sandbank deportiert und in Izbica ermordet, einem Durchgangsghetto für die Vernichtungslager Belzec und Sobibor in Polen. „Das hat mich enorm berührt und erschüttert“, betont Lesho. „Das waren ganz normale Kinder – Kinder wie wir früher. Die schrecklichen Umstände und das, was sie durchmachen mussten, ist für mich sehr bewegend.“
Fortschreibung des Lehrformats
Für die Studierenden eröffnete sich insbesondere die Möglichkeit, mit ihrer Arbeit gleichsam eine Brücke über Epochen zu schlagen und die Vergangenheit mit der Gegenwart zu verbinden, was die Teilnehmenden sehr schätzten.
„Uns wurde viel Freiraum gegeben, wir mussten aktiv auf Recherche gehen und die Nachkommen kontaktieren. Das war keine normale Übung, sie war auch sehr berührend und emotional“, lobt Derek Lesho.
Flankiert wurde die Lehrveranstaltung etwa durch die Führung durch das Kulturzentrum der Israelitischen Kultusgemeinde und die Ohel-Jakob-Synagoge in München oder eine Video-Konferenz mit der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem, die den Studierenden die Arbeit der Gedenkstätte näher brachte.
Die Essays, die die Studierenden über ihre Recherche anfertigten, wurden im Stil der Einträge für das Gedenkbuch der Münchner Juden aufbereitet.
Am 16. Mai 2024 wurde das Projekt aus Anlass des 100-jährigen Jubiläums der Jüdischen Volksschule in München der Öffentlichkeit vorgestellt. Das Format der Übung soll auch in Zukunft für andere Namenslisten oder Fotos verwendet werden können; bereits im kommenden Wintersemester ist eine Folgeübung geplant, die auch eine Exkursion ins litauische Kaunas umfassen soll. Dorthin, wo die meisten Schülerinnen und Schüler der Jüdischen Volksschule ermordet wurden.