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Theoretische Neurowissenschaft: Das Leben berechenbar machen

04.09.2024

Wiktor Młynarski ist Computer- und Neurowissenschaftler. Mit theoretischen Modellen und mathematischen Simulationen will er die Funktionsweise des Gehirns entschlüsseln.  

Unter den Naturwissenschaften hat die Biologie den Ruf, nicht ganz so exakt zu sein wie beispielsweise die Physik. Das Chaos lebendiger Systeme lässt sich eben nicht so leicht in mathematische Formeln pressen. Oder etwa doch? Professor Wiktor Młynarski will genau diesen Spagat schaffen und zeigen, dass auch das Leben bis zu einem gewissen Grad berechenbar ist und simuliert werden kann. „Wie können wir die scheinbar unordentliche, unvorhersehbare Welt der Biologie mit der exakten, formalen Welt der Mathematik vereinen?“ Diese Frage treibt den 2023 an die Biologie-Fakultät der LMU berufenen theoretischen Neurowissenschaftler an.

Mit seiner Arbeitsgruppe entwickelt er Modelle, die die Verarbeitung sensorischer Reize im Gehirn nachbilden. Sie sollen dabei helfen, besser zu verstehen, was da genau im Geflecht unserer Nervenzellen passiert, wenn wir sehen, hören oder riechen. Anders als seine experimentell arbeitenden Kollegen führt Młynarski keine Experimente im Labor durch. Seine Arbeit ist rein mathematisch und theoretisch, seine Werkzeuge sind Stift und Papier, ein Flipchart – und der Computer, an dem er komplexe Simulationen erstellt. Obwohl er in Polen an der Jagiellonen-Universität Computerwissenschaft studiert hat, bezeichnet er sich selbst als Biowissenschaftler: „Biologie ist die Wissenschaft des Lebens, Neurowissenschaft erforscht das Gehirn – und genau das tun wir. Nur eben mit den Methoden der Mathematik und computerbasierten Hilfsmitteln.“

Portrait von Prof. Mlynarski. Er steht vor einer Tafel mit vielen Formeln.

Professor Wiktor Młynarski

© LMU/LC Productions

Modelle in der Realität verankern

Bereits während seiner Promotionszeit am Max-Planck-Institut für Mathematik in den Naturwissenschaften in Leipzig hat er diesen Weg eingeschlagen und ist der Forschung zwischen Computer- und Lebenswissenschaft auch treu geblieben, als er am MIT im Fachbereich für Gehirnforschung und kognitive Wissenschaften und später am Institute of Science and Technology Austria in einer Gruppe für theoretische Biophysik und Neurowissenschaften arbeitete.

Młynarski will mit seinen Modellen untersuchen, welche Probleme das Gehirn lösen kann, wie es das tut und wie gut es darin ist. Er will wissen, inwieweit theoretische Simulationen tatsächliche neurobiologische Phänomene beschreiben können. „Ein Modell nur um seiner selbst willen zu bauen, ist kein interessantes Unterfangen“, erklärt er. „Man muss es irgendwie in der Realität verankern.“ Zwei Anker kommen dabei zum Einsatz: der praktische und der theoretische. Einerseits kann man die Modelle immer wieder mit den realen Phänomenen abgleichen, wie sie die Kolleginnen und Kollegen aus der experimentellen Neurowissenschaft beschreiben. Andererseits kann man bestimmte theoretische Grenzen ausloten – allgemeingültige Naturgesetze, die rein mathematisch nicht überschritten werden können.

Tiere sind keine Roboter

Aktuell versucht Młynarski mit dieser Methode zu verstehen, wie Sinnesreize im Gehirn weiterverarbeitet werden und wie das mit dem Bewegungsapparat zusammenhängt. Jüngste Experimente an verhaltensfähigen Tieren haben gezeigt, dass die Verarbeitung von Reizen im Gehirn unseren grundlegenden Intuitionen widerspricht. Die neuronale Aktivität wird nämlich nicht nur von den visuellen Signalen gesteuert, sondern auch vom Bewegungsapparat. „So würden wir Menschen ein solches System nicht bauen“, sagt Młynarski. Ein Roboter hat eine Kamera, um seine Umgebung wahrzunehmen, und Motoren, um sich fortzubewegen, aber die Informationen laufen getrennt voneinander in einer zentralen Verarbeitungseinheit zusammen. Bei einem Tier hingegen ist die „Kamera“ irgendwie direkt mit dem „Motor“ verbunden. „Wir wissen, dass das bei vielen Arten vorkommt, aber wir haben keine Ahnung, welches Problem damit gelöst wird.“ Das herauszufinden ist eines der Ziele von Młynarskis Forschung.

Ob seine Arbeit dazu beitragen könne, dass in Zukunft die Robotik von der Natur lernt? Ja, das sei durchaus möglich, meint der Neurowissenschaftler. Sobald man zum Beispiel versteht, warum die Evolution Sinnesorgane und Bewegungsapparat auf diese Weise gekoppelt hat, könnte man dieselbe Problemlösung auch auf technische Anwendungsbereiche übertragen. „Im Moment wissen wir aber noch nicht einmal, welche Probleme überhaupt damit gelöst werden.“ Neuro-AI und Neurowissenschaften als Teil der Forschung zur künstlichen Intelligenz werden gerade heiß diskutiert. Diese gegenseitige Befruchtung werde aber oft missverstanden: „Wir hören oft, dass die Computerwissenschaft von der Biologie inspiriert wurde. Dass das sehr vieles bedeuten kann, ist vielen nicht bewusst.“ Auch wenn manche theoretische Grundprinzipien zum Vorbild genommen werden, funktionieren Computer und Gehirne trotzdem auf ganz unterschiedliche Weise. „Inspiration ist nicht gleichbedeutend mit Übereinstimmung. Künstliche Intelligenzsysteme, die von biologischen Erkenntnissen inspiriert sind, können dennoch ganz anders funktionieren als die Systeme, von denen sie inspiriert wurden."

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