Verlorene Bücher, geraubte Heimat
05.02.2024
Privatbibliotheken deutsch-jüdischer Gelehrter wurden während des NS-Regimes geplündert und geraubt. Historikerin Julia Schneidawind beschäftigt sich mit ihrem Schicksal.
05.02.2024
Privatbibliotheken deutsch-jüdischer Gelehrter wurden während des NS-Regimes geplündert und geraubt. Historikerin Julia Schneidawind beschäftigt sich mit ihrem Schicksal.
Regale mit Tausenden von Büchern erfordern viel häusliche Infrastruktur. Sie sind schwer und scheinen unverrückbar. Sie sind geistiges Mobiliar und stehen für Selbstvergewisserung. Mehr noch: Sie sind eine „Welt jenseits der Welt“ (Stefan Zweig), kurz Heimat und Nachlass für die Besitzenden.
Entsprechend hoch war der Aufwand, den deutsch-jüdische Gelehrte und Schriftstellerinnen und Schriftsteller sowie ihre Familien betrieben haben, um private Büchersammlungen vor den Nationalsozialisten zu retten.
Edith Rosenzweig etwa, die Frau des früh verstorbenen Philosophen Franz Rosenzweig (1886–1929), ließ noch 1935 in ihrer neuen Wohnung in Frankfurt einen eigenen Raum für die rund 3.000 Bücher ihres Mannes gestalten. Schließlich waren sie als wichtigste Hinterlassenschaft für den einzigen Sohn gedacht, der so erfahren sollte, wer sein Vater gewesen war.
Es kam anders. Infolge der Novemberpogrome 1938 und der massiv gestiegenen Gefahr der Verfolgung schickte Edith Rosenzweig zunächst ihren Sohn nach Palästina, begann den Haushalt in Deutschland aufzulösen und die Sammlung für den Transport in die Levante vorzubereiten. Familie und Bücher gingen ins Exil.
Die Verschiffung von Hamburg über Belgien gelang nach mehreren Verzögerungen und Komplikationen 1940 gerade noch, bevor die Wehrmacht Belgien besetzte. Das Schiff jedoch wurde vor Tunesien von Kräften der dort im Protektorat agierenden französischen Regierung aufgebracht und nach Tunis umgeleitet: Noch heute ist die Rosenzweig-Sammlung Bestandteil der Bibliothek in der Hauptstadt Tunesiens. Rosenzweigs Sohn hat sie nie erhalten.
Julia Schneidawind sieht wenig Chancen, dass die Bücher, Handschriften und Manuskripte noch einmal ihren Weg nach Israel finden. Immerhin, sagt die Historikerin am Lehrstuhl für Jüdische Geschichte der LMU, sei die Sammlung noch fast geschlossen erhalten. Politische und religiöse Differenzen jedoch machten es für israelische Forschende sehr schwierig, die Bibliothek in Augenschein zu nehmen.
„Ich hoffe, dass ich ein Projekt initiieren kann, um den Bestand in Tunis wenigstens digital für die Forschung verfügbar zu machen“, sagt Schneidawind, die selbst für ihre Dissertation in Tunis geforscht hat. In Schicksale und ihre Bücher. Deutsch-jüdische Privatbibliotheken zwischen Jerusalem, Tunis und Los Angeles befasst sie sich neben der Sammlung Rosenzweig auch mit dem Schicksal der Privatbibliotheken der Schriftsteller Lion Feuchtwanger, Stefan Zweig, Karl Wolfskehl und Jakob Wassermann.
Dabei war es ihr wichtig, nicht nur das Schicksal der Bücher, Manuskripte, Autographen, Inkunabeln etc. zu untersuchen. Ziel ihrer Arbeit war darüber hinaus, nachzuzeichnen, was der Verlust für die einzelnen Gelehrten bedeutete, wie sie damit umgegangen sind.
Denn: „Die Bibliotheken waren nicht nur eine Ansammlung von Büchern. Sie waren Familienarchiv über Generationen, auch Archiv über Freundschaften und Netzwerke. Auch waren sie Arbeitsgrundlage für das geistige Schaffen ihrer Besitzer“, so Schneidawind.
Lion Feuchtwanger musste zweimal seine Bibliothek neu aufbauen. Das erste Mal im Exil im südfranzösischen Sanary-sur-Mer an der Côte d'Azur, nachdem seine Villa nebst Büchersammlung in Berlin 1933 von der SA geplündert worden war.
Die Sammlung in Südfrankreich umfasste schon bald rund 2.000 Bände, es konnte wieder so etwas wie eine Arbeitsnormalität einkehren. Mit dem Einfall der Wehrmacht in Polen jedoch fielen der Schriftsteller und seine Frau unter das Verdikt „feindliche Ausländer“, das die Internierung aller sich in Frankreich aufhaltenden Deutschen unter 65 Jahren vorsah. Das Ehepaar Feuchtwanger wurden interniert, die Sammlung im Haus am Meer war für sie ein weiteres Mal verloren.
Erst in den USA, in die das Paar schließlich emigrieren konnte, bauten sie erneut eine große Bibliothek auf – in Pacific Palisades vor den Toren von Los Angeles. Sie ist heute als Feuchtwanger Memorial Library an der University of Southern California zugänglich.
Ihr hoher Gefährdungsgrad grenze die privaten deutsch-jüdischen Sammlungen in der NS-Zeit von ähnlichen nicht-jüdischer Provenienz ab, sagt Julia Schneidawind. Das sei auch der Grund dafür, warum die wenigsten jüdischen Bibliotheken noch geschlossen vorhanden seien. Sie wurden geplündert, zerstört oder fanden ihren Weg in alle Winkel der Welt.
Eine Besonderheit stellt hier jedoch die Bibliothek Jakob Wassermanns dar. Schneidawind: „Die Sammlung wurde von einem nicht-jüdischen Nachbarn übernommen, dessen Familienmitglieder sie nach und nach mit linientreuer Literatur ergänzten: So fanden sich Schriften zur NS-Ideologie neben traditionell jüdischen Werken. Aber immerhin ist auch die Bibliothek Wassermanns heute in Nürnberg erhalten.“
Lion Feuchtwanger konnte sich vom Schock der Bücherverluste und des Exils weitgehend erholen; Karl Wolfskehl verkaufte seine Sammlung an den deutsch-jüdischen Geschäftsmann und Bibliophilen Salman Schocken, konnte so nach Neuseeland ins Exil gehen und sein Leben vor dem Naziterror retten.
Anders war es bei dem österreichischen Schriftsteller und Journalisten Stefan Zweig, ein ausgesprochener Bibliophile, dessen riesige Sammlung unter anderem wertvolle Autographen enthielt. Seine erste Frau Friederike beschrieb die Bücherwelt in Zweigs Wohnung so: „In einem schmalen, langen Raum […] reichten die Regale bis zur Decke.“ Seine Küche nutzte der Autor vor allem zur Verzeichnisarbeit, um seine Sammlung zu strukturieren und zu dokumentieren.
Umso mehr belastete ihn die Flucht vor dem NS-Regime zunächst nach England und – als er eine deutsche Invasion dort befürchtete – schließlich nach Brasilien, in deren Verlauf er auch seine Sammlung verlor.
Die Bibliotheken waren nicht nur eine Ansammlung von Büchern. Sie waren Familienarchiv über Generationen, auch Archiv über Freundschaften und Netzwerke. Auch waren sie Arbeitsgrundlage für das geistige Schaffen ihrer Besitzer.Julia Schneidawind
„Als die Zeit Hitlers einsetzte und ich mein Haus verließ, war die Freude an meinem Sammeln dahin und auch die Sicherheit, irgend etwas bleibend zu erhalten. Eine Zeitlang ließ ich noch Teile in Safes und bei Freunden, aber dann entschloß ich mich, gemäß Goethes mahnendem Wort, daß Museen, Sammlungen und Rüstkammern, wenn man sie nicht fortentwickele, in sich erstarren, lieber Abschied zu nehmen von einer Sammlung, der ich meine gestaltende Mühe weiter nicht mehr geben konnte“ (Stefan Zweig).
„Für Zweig war es eine Katastrophe, die Heimat und seine Sammlung zu verlieren“, sagt Julia Schneidawind. „Wie sollte er ohne Bibliothek arbeiten? Der Zugang zu öffentlichen Bibliotheken war für ihn einfach nicht dasselbe.“ Sie konstatiert: „Die Autoren sind ganz unterschiedlich umgegangen mit dem Verlust. Der eine hat einfach weitergemacht, während für den anderen eine Welt zusammengebrochen ist.“
Zusammen mit seiner Frau Lotte nahm sich der Autor 1942 im brasilianischen Petropólis mit einer Überdosis Schlafmittel das Leben.
Der obengenannte Kaufmann Salman Schocken hat nicht nur bei der Expedierung von einzelnen Sammlungen unterstützt; er kaufte auch ganze Sammlungen an und sorgte für ihren Transport nach Jerusalem – so auch die von Karl Wolfskehl.
„Schocken wusste, dass diese einige sehr wertvolle und interessante Stücke enthielt“, erzählt Julia Schneidawind. „Er kaufte sie aber auch in dem Wissen, Wolfskehl damit helfen zu können, der in enormen Schwierigkeiten war.“ Allerdings, so die Historikerin, kaufte er auch nicht alles, was natürlich auch eine Frage der Mittel war.
Wolfskehls Sammlung gelangte zwar nach Jerusalem und ist auch heute noch dort. Aber nicht in geschlossener Form. „Die Erben Schockens haben zum Beispiel deutsche Literatur verkauft, weil sie der Meinung waren, dass man die in Israel nicht mehr brauche.“
Ihre Hypothese ist daher, dass die Bibliothek Franz Rosenzweigs heute auch nicht mehr nahezu komplett erhalten wäre, wenn sie ihr richtiges Ziel erreicht hätte.
Edith Rosenzweig ersuchte für den Versand der Bibliothek ebenfalls um die Hilfe Salman Schockens, der sie dabei auch unterstützte, zumal er über die entsprechenden Kontakte verfügte. Die Ehefrau Franz Rosenzweigs versuchte alles, um die Bücher zu retten und den letzten Willen ihres Mannes zu erfüllen: Dass sie einstmals dem Sohn zur Verfügung stehen würden.
„In Zusammenhang mit den Privatbibliotheken spielen Frauen eine zentrale Rolle“, erklärt Julia Schneidawind, der es wichtig war, diesen Aspekt in ihrer Arbeit entsprechend zu berücksichtigen. Sie verweist darauf, dass es auch Familienbibliotheken gewesen seien, in die ebenso die Bücher der Ehefrauen, der Mütter und Großmütter Eingang gefunden hätten.
So steuerte Martha Feuchtwanger viel zur Sammlung ihres Mannes bei; seine Sekretärin Lola Sernau versuchte, einen Teil seiner Bücher sicherzustellen und ihm nachzusenden, was ihr auch gelang. Charlotte Zweig schließlich teilte das Schicksal ihres Mannes und starb an seiner Seite. Die Frauen spielten eine wichtige Rolle, trugen gar die Hauptlast bei der Rettung der Bücher, standen aber meist am Rand. In diesem Sinn passt der Satz, mit dem Edith Rosenzweig den Brief an einen Bekannten aus Frankfurter Tagen beendete: „Es wird schon irgendwie werden und ich bin mir selbst nicht wichtig genug um mich darüber zu erregen oder zu ängstigen. Schlimm ist nur die immer grösser werdende Einsamkeit.“
Julia Schneidawind
Schicksale und ihre Bücher. Deutsch-jüdische Privatbibliotheken zwischen Jerusalem, Tunis und Los Angeles
In: Jüdische Religion, Geschichte, Kultur, Bd. 34
Hrsg. von Michael Brenner und Stefan Rohrbacher
Göttingen, Vandenhoeck und Ruprecht, 2023