„Egal, ob Klimakrise, soziale Gerechtigkeit oder Digitalisierung: Alle zentralen gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit haben immer auch eine organisationale Komponente.“ Ali Aslan Gümüşay bezeichnet sich selbst als Organisationswissenschaftler. Er promovierte an der University of Oxford, danach folgten Stationen an der WU Wien, der University of Cambridge und der Universität Hamburg. Seit Anfang 2023 forscht er am Innovation & Entrepreneurship Center (IEC) der LMU. Seine Professur ist an der LMU Munich School of Management angesiedelt. Parallel zu seiner Forschung am IEC leitet er eine Forschungsgruppe am Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft in Berlin.
Kooperieren in einer komplexen Welt
Bei seiner Arbeit interessiert Gümüşay, wie Organisationen funktionieren und wie sie Veränderung schaffen. Besonders angetan haben es ihm Unternehmen, die bestimmte Dinge anders machen, zum Beispiel weil sie in ihren Zielvorgaben Profit mit ökologischer oder sozialer Nachhaltigkeit verbinden oder bei ihren Prozessen, Hierarchien und Organisationsstrukturen alternative Wege beschreiten. Das kann ein feministischer Co-Creation Space sein, ein Circular Economy Hub oder auch die erste islamische Bank Deutschlands. „Organisationswissenschaft ist ein Querschnittsthema“, sagt Gümüşay. „Ich sehe überall Organisationen.“
Ein starker Fokus liegt hierbei auf unternehmerischem Denken. Das gebe es nicht nur in Wirtschaftsunternehmen. „Unternehmerisches Denken ist für mich die Befähigung, proaktiv und effektiv Veränderung bewirken zu können. Wir alle sind damit im Alltag konfrontiert: im eigenen Haushalt, beim Studieren, auf der Arbeit, im Ehrenamt.“ Die Forschung des Sich-Organisierens sei gerade in einer zunehmend unsicherer, komplexer und widersprüchlicher werdenden Welt von enormer gesellschaftlicher Bedeutung.
Organisationen müssen immer öfter unterschiedliche Perspektiven zusammenführen, sei es bei interdisziplinären Forschungsprojekten, divers besetzten Teams oder konträren politischen Interessen. Unter dem Motto „Einheit in Vielfalt“ widmet sich Gümüşay der Frage, wie Unternehmen es schaffen, mit Spannungen umzugehen und trotz Widersprüchlichkeiten weiterzuarbeiten. Besonders am Herzen liegt ihm auch das Thema Impact-Unternehmertum. „Start-ups mit einer Bewertung von über einer Milliarde Dollar bezeichnet die Finanzwelt als ‚Einhörner‘. Wir versuchen, als Alternative dazu Zebras zu positionieren, also Unternehmen, die ihren Fokus auf gesellschaftlichen Mehrwert legen, nicht nur auf den reinen Profit.“
Reale Utopien und imaginierte Daten
Seinen momentan herausforderndsten Forschungsbereich betitelt Gümüşay mit „Zukünfte und Organisationen“. Es geht darum, wie Wissenschaft nicht nur reaktiv, sondern proaktiv agieren kann. „In der Sozialwissenschaft sammeln wir meistens Daten und theoretisieren sie danach. Wie wäre es aber, wenn wir Daten imaginieren könnten, um sie dann zu theoretisieren?“ Dafür analysiert und extrapoliert er derzeit sogenannte reale Utopien. Das sind Organisationen, die zwar bereits existieren, aber bisher nur in der Peripherie der Gesellschaft agieren.
Gümüşay will theoretisch aufzeigen, was passieren würde, wenn ihre Werte zur Norm würden. Im nächsten Schritt will er Dinge betrachten, die es bisher noch gar nicht real gibt. Dieser Blick in mögliche Zukunftsszenarien könne in der Praxis dabei helfen, sich auf bestimmte, nie dagewesene Situationen vorzubereiten. „Vor Ausbruch der Corona-Pandemie wäre es in meiner Disziplin schwer gewesen, etwas über die potenziellen Auswirkungen eines solchen Virus zu veröffentlichen, weil es keine Datengrundlage gab. Aber vielleicht hätten wir damit einen Vorsprung gehabt.“
Gümüşay will Wege finden, solche Datensätze wissenschaftlich zu imaginieren. Das ist eine immense Herausforderung: Wie kann man sinnvoll Daten imaginieren? Wie weit darf man dabei gehen? Wer überprüft das und wie? Es lohne sich aber, diesen Fragen nachzugehen: „Die Welt verändert sich zu schnell, um nur im Nachhinein auf Geschehnisse zu reagieren. Aktuelle wissenschaftliche Prozesse kommen da teilweise nicht hinterher. In dieser dynamischen Welt muss Wissenschaft vielleicht proaktiver sein und dabei den Balanceakt schaffen, Spekulation und Rigorosität zusammenzuhalten.“