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„Wir wollen Reibungsflächen ausloten“

17.10.2022

Zum Start der Science Talks spricht Vizepräsident Oliver Jahraus im Interview über die Rolle der Wissenschaft in der Gesellschaft.

Wissenschaft und Gesellschaft stehen angesichts globaler Krisen vor nahezu beispiellosen Herausforderungen. Mit den Science Talks startet die LMU ein neues Format, um den öffentlichen Dialog zu den drängenden Forschungsthemen zu unterstützen.

Moderiert von Professor Oliver Jahraus, LMU-Vizepräsident für den Bereich Studium und Lehre, werden LMU-Expertinnen und -Experten mit Gästen aus einer Reihe gesellschaftlicher Bereiche, aus Forschung, Politik oder Wirtschaft, darüber diskutieren, welche Rolle Wissenschaft heute in der Gesellschaft spielt.

Die achtteilige Veranstaltungsreihe beginnt am 25. Oktober in Präsenz an der LMU und als Livestream.

Prof. Oliver Jahraus

Professor Oliver Jahraus, LMU-Vizepräsident für den Bereich Studium und Lehre, wird die Science Talks moderieren. | © LMU/Jan Greune

Klimawandel, Pandemie und geopolitische Unsicherheit prägen derzeit die öffentlichen Debatten. Welche Erwartungen gibt es an die Wissenschaft angesichts dieser Herausforderungen?

Oliver Jahraus: Die Anforderungen an die Wissenschaft sind extrem hoch, und sie hat in der öffentlichen Wahrnehmung und in ihrer gesellschaftlichen Bewertung noch einmal eine ganz andere Rolle bekommen, als sie sie vor Jahren hatte. Die Fragen, welche Bedeutung Wissenschaft hat und haben kann, welchen Geltungsanspruch sie erhebt und auf welche Weise sie darauf reagiert, mit Infragestellungen ihrer selbst umzugehen, werden dringlicher und komplexer. Denn einerseits bewegt sich vor allem Grundlagenwissenschaft jenseits der Alltagsrealität der Menschen, andererseits betrifft Wissenschaft hautnah die Menschen, zum Beispiel, wenn sie sich impfen lassen.

Wissenschaft ist in ganz besonderer Weise herausgefordert, Lösungen für grundsätzliche und alltägliche Probleme anzubieten. Wir erleben diese Entwicklung schon seit Corona, aber nun kommen weitere Krisen (Energiekrise, Inflation, politische Krisen von neuer Qualität) auf uns zu. Dabei kommt die Wissenschaft sehr stark in Kontakt mit gesellschaftlichen Diskursen, mit Erwartungen, auch mit politischen Szenarien, und man muss genau darauf achten, was Wissenschaft leisten kann und was nicht. Mit den Science Talks wollen wir diese Grenzziehungen und die daraus resultierenden Reibungsflächen ausloten.

Wo sehen Sie die größten Reibungsflächen zwischen den Ansprüchen, die an die Wissenschaft gestellt werden, und dem, was Wissenschaft leisten kann?

Ich glaube, die größten Reibungsflächen bestehen erstens in der Art des Fragens. Dabei ist Corona vielleicht ein strapaziertes, aber auch ein sehr gutes Beispiel. Universitäten betreiben in ganz besonderem Maße Grundlagenwissenschaft, und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben Antworten auf viele grundlegende Fragen geliefert. Das Problembewusstsein weiter Teile der Bevölkerung mag aber gerade in Krisenzeiten ganz anders gelagert sein. Hieran merkt man: Das sind unterschiedliche Arten des Fragens. Wissenschaft fragt grundsätzlich!

Eine zweite Reibungsfläche besteht im Zeithorizont, in dem Antworten gegeben werden. In der Wissenschaft ist der zeitliche Horizont meistens deutlich langfristiger. Was heute entdeckt wird, braucht seine Zeit, bis es in den Alltag der Menschen eindringt. Daher war die rasche Entwicklung der Corona-Impfstoffe ein so faszinierendes Gegenbeispiel.

Und als dritten Punkt möchte ich noch Geltungsfragen ansprechen: Wo und wie kann Wissenschaft Geltung oder Berücksichtigung beanspruchen? Wissenschaft kann Erkenntnisse als Angebot zur Verfügung stellen, aber Wissenschaft ist nicht dazu da, verbindliche Entscheidungen zu treffen. Das machen dann andere gesellschaftliche Player oder Systeme wie die Politik. Das wirft die Frage auf, inwieweit Politik auf Wissenschaft hören soll oder einer Eigenlogik folgen muss – auch darüber werden wir sprechen. Die Wissenschaft kann zum öffentlichen Diskurs beitragen, indem sie kommuniziert, sich vermittelt. Sie kann Menschen einladen, an diesem Diskurs teilzunehmen, auch ohne der Wissenschaft selbst anzugehören. Dazu dienen ja auch unsere Science Talks im Wintersemester. Universitäten haben daher auch eine wichtige Transfer-Aufgabe. Aber wie wissenschaftliche Erkenntnisse gesellschaftliche Realität werden, ist selbst keine wissenschaftliche Aufgabe mehr. Es kann allerdings eine wissenschaftliche Frage sein, und die werden die Science Talks auch aufgreifen.

Dialog zwischen Wissenschaft und Gesellschaft

Mit den Science Talks haben Sie ja jetzt ein neues Format, um den Dialog zwischen Wissenschaft und Gesellschaft anzustoßen. Was ist das Besondere an diesem neuen Format?

Die Science Talks haben eine lange Vorgeschichte. Für das Jahr 2019 hatten wir eine traditionelle Ringvorlesung zum Thema „Wahrheit und Methode“ geplant. Dabei wollten wir danach fragen, wie Wissenschaft zu ihren Erkenntnissen kommt, die sie dann ja auch weitervermitteln will, und wie wichtig die Methodik für diese Vermittlungsaufgabe und für wissenschaftliche Geltungsansprüche ist. Aber zu dieser Ringvorlesung kam es wegen Corona nie. Stattdessen haben wir mit den Corona Lectures und später mit den KI Lectures einen Ersatz mit einem völlig neuen virtuellen Format geplant, bei dem die Zuschauer aktiv teilnehmen konnten.

Jetzt kehren wir ansatzweise zum Ursprungsthema zurück und verschärfen Inhalt und Form noch: Inhaltlich, indem wir dem Verhältnis zwischen Wissenschaft und Gesellschaft gerade in dieser Zeit grundsätzlicher nachgehen und es selbst zum Thema eines wissenschaftlichen Gesprächs machen. Wir fragen, was macht jetzt das besondere Verhältnis gerade in dieser Zeit zwischen Wissenschaft und Gesellschaft aus? Und von der formalen, technischen Seite setzen wir eine neue Qualität um, indem wir eine hybride Vorlesung machen, bei der alle Zuhörer – die vor Ort anwesenden und diejenigen, die sich Online zuschalten – die Gelegenheit haben, über ein Online-Tool teilzunehmen. Wir wollen eine Präsenzveranstaltung und wir wollen Partizipation an der Präsenzveranstaltung, ohne präsent sein zu müssen.

Schließlich haben wir uns gesagt, wenn es uns so sehr auf das Gespräch ankommt und wir danach fragen, wie Wissenschaft in der Gesellschaft verankert ist, dann sollte die Vorlesung selbst ein Gespräch sein. Im Gespräch bedingen sich Inhalt und Form wechselseitig. Wir brauchen also keine Vortragenden, sondern Gesprächspartner. Und so sind wir zum Format der Science Talks gekommen, für die wir Kolleginnen und Kollegen der LMU eingeladen haben, mit Experten und Expertinnen von außerhalb zu sprechen.

Was heißt von außerhalb?

Außerhalb heißt außerhalb der LMU, auch außerhalb der Universität und außerhalb der Wissenschaft. Unsere Gesprächspartner sind zumeist Repräsentanten und Repräsentantinnen anderer gesellschaftlicher Teilsysteme. Beispielsweise aus der Politik und der Wirtschaft: Da ist der ehemalige Vorstandsvorsitzende von Siemens zu Gast, Joe Kaeser. Dann ist es uns im Bereich Gesundheitspolitik gelungen, den Präsidenten des Robert Koch-Instituts zu gewinnen, Lothar Wieler, übrigens ein Alumnus der LMU. Herr Wieler hat eine ganz interessante Position zwischen zwei gesellschaftlichen Systemen: Er ist ja Wissenschaftler, aber natürlich hat er als Präsident des RKI in Corona-Zeiten ein hochgradig politisiertes Amt. Wir betrachten auch noch andere Systeme, wie beispielsweise Religion.

Die Ringvorlesung ist ein großes Schaufenster in die LMU, und da wollen wir zeigen, was wir können. Um den Gesprächscharakter und auch die Konfrontation von Perspektiven noch deutlicher zu machen, haben wir für die Auftaktveranstaltung der Science Talks den Kreis der Gesprächsteilnehmer und -teilnehmerinnen sogar etwas vergrößert und eine Podiumsdiskussion geplant. Christina Berndt von der Süddeutschen Zeitung wird die Veranstaltung moderieren – und ich bin schon sehr gespannt darauf.

In welchen Bereichen sehen Sie besonders großen Diskussionsbedarf?

Corona hat uns noch nicht verlassen. Das heißt, der medizinisch-wissenschaftliche Bereich wird immer noch sehr nachgefragt sein. Aber auch die anderen großen Herausforderungen, etwa der Klimawandel, die Ökonomie in der Krise, das Verhältnis von Wissenschaft und Demokratie, die Rolle der Wissenschaft für unsere Erinnerungskultur, die Rolle der Religion(en) in der (den) Gesellschaft(en), spielen eine große Rolle, überhaupt die Idee des Anthropozäns, die besagt, dass der Mensch nun eigentlich die verändernde Kraft auf und für unseren Planeten ist. Das wird ein großes Thema sein. Dann spielt natürlich auch das Thema Verschwörungstheorien eine Rolle. ‚Verschwörungstheorie‘ ist ein interessantes Wort, weil der letzte Bestandteil Theorie ist. Und Theorie ist eine wissenschaftliche Äußerungsform. Aber die Verschwörungstheorie ist genau das Gegenteil von Wissenschaft. Der Umstand, dass dies wiederum immense Auswirkungen auf die Demokratie hat, fordert auch die Wissenschaft heraus.

Außerdem wird es um ökonomische Fragen gehen wie: Wir haben jetzt eine Inflation, was passiert mit unserem Geld? Wie werden ökonomisch relevante Entscheidungen getroffen – und von wem? Wie ist eigentlich diese Gesellschaft ökonomisch verfasst? Es ist natürlich spannend zu beobachten, wie dies aus der Perspektive derjenigen aussieht, die ökonomische Entscheidungen treffen, die Gewinn oder Verlust eines Unternehmens beeinflussen, aber auch gesamtgesellschaftliche Auswirkungen haben.

Ein weiteres hochgradig interessantes Feld ist die Erinnerungskultur. Wir kennen alle die Geschichte, wir pflegen eine Erinnerungskultur, und trotzdem gibt es Antisemitismus. Wie kann das sein und was bedeutet es eigentlich für die Gesellschaft? Welche fundamentalen Gefahren drohen von dieser Seite für die gesellschaftliche Ordnung? Auch darüber wollen wir sprechen.

Wissenschaftliche Erkenntnisse werden von Teilen der Öffentlichkeit zunehmend in Frage gestellt, Fake News und Verschwörungstheorien greifen um sich. Gibt es Grenzen beim Transfer wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Gesellschaft?

Ja, ich glaube tatsächlich, dass es diese Grenzen gibt. Aber diese Grenzen liegen nicht in der Wissenschaft. Ich glaube nicht, dass es wissenschaftliche Erkenntnisse gibt, die den Menschen nicht zumutbar sind. Aber es gibt tatsächlich Grenzen in der Vermittelbarkeit. Man stößt relativ schnell auf ganz banale Probleme, zum Beispiel wenn für die Medien ein Beitrag in 100 Zeilen gepackt werden muss oder im Fernsehen genau 40 Sekunden Zeit zur Verfügung stehen, um Wissenschaft zu vermitteln. Ich glaube, da gibt es tatsächlich von beiden Seiten aus Grenzen.

Aber auf der anderen Seite muss auch Wissenschaft sich immer fragen: Wie adressieren wir die Menschen. Wie kann Wissenschaft ihre eigene Relevanz kommunizieren jenseits alltäglicher Verwendungskontexte? Im Vergleich zu früher hat sich schon sehr viel geändert. Die Vermittlungsbedingungen sind sehr viel strenger geworden, und an diese Grenzen stößt man relativ schnell. Nur, an Grenzen zu stoßen, heißt ja in der Wissenschaft nie, deswegen Halt zu machen. Wissenschaft ist im Grunde genommen, seit es Wissenschaft gibt, nichts anderes als die Arbeit an der Aufgabe, Grenzen zu überschreiten.

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