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Zu viel fürs Amt, zu wenig zum Leben

23.05.2019

Ein Interview mit LMU-Ethnologin Irene Götz über die Ursachen von Altersarmut und den Alltag der Betroffenen.

© imago/epd

„Fast keine Frau, die alleine in einem Haushalt wirtschaftet, kommt mit ihrer Rente zurecht“: Irene Götz hat im Rahmen des DFG-Projekts „Prekärer Ruhestand“ Frauen mit geringen Renten porträtiert. Ein Interview über die Ursachen von Altersarmut und den Alltag der Betroffenen.

Ihr Buch „Kein Ruhestand“ hat viel Medienecho erhalten. 2015, als Sie Ihr Projekt zu Altersarmut starteten, war das Thema noch nicht so präsent. Was war damals der Ausgangspunkt Ihrer Forschung?
Irene Götz: Am Anfang unseres Projekts stand ein Widerspruch: Man erkennt Altersarme in der Öffentlichkeit nur ausnahmsweise, aber die Statistiken zeigen, dass bis zu zwei Drittel der Rentnerinnen in Bayern armutsgefährdet sind, also weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens haben. Ich habe mich gefragt: Wo sind sie? Und: Wie kommt man mit einer Rente zurecht, die für Frauen bei durchschnittlich unter 700 Euro liegt?Sie haben Rentnerinnen in München befragt.

Wie gehen sie mit ihrer Situation um?

Viele Frauen müssen arbeiten, haben aber einen Körper, der das kaum noch mitmacht. Das gilt nicht nur für Altenpflegerinnen, die aufgrund der körperlichen Belastung in diesem Beruf oft gar nicht bis zur offiziellen Rentengrenze arbeiten können und frühverrentet werden. Es trifft auch auf Kassiererinnen zu, die im Supermarkt ihre Knochen verschleißen. Eine unserer Gesprächspartnerinnen wäre gerne länger in ihrem Beruf als Versicherungsangestellte geblieben, was aber wiederum wegen der relativ fixen Renteneintrittsgrenze nicht möglich war. Sie macht nun abends in einem Callcenter auf Minijobbasis Kundenakquise und hat Angst, was wird, wenn sie das nicht mehr schafft. Denn sie gehört zu der Gruppe von Älteren, die zu viel Rente haben, um Anspruch auf Grundsicherung zu haben, mit der sie ihre Rente aufstocken könnten, aber zu wenig, um in München zu leben.

Stellt sich der Arbeitsmarkt schon auf diese Arbeitskräfte ein?

In einer Stadt wie München gibt es ein großes Angebot an Minijobs, die Zahl der älteren Minijobber hat hier zugenommen in den letzten Jahren. Man sieht ja auch Ältere hinter dem Kiosktresen oder im Kino Karten verkaufen. Aber in vielen Berufen wird eine gewisse Jugend erwartet. Eine unserer Interviewpartnerinnen, eine Kosmetikerin, hat gesagt: Mit 70 findest du nichts mehr, höchstens auf der Hinterbühne, wo einen keiner sieht. Die Älteren sind dadurch irgendwann in die Jobs verbannt, wo sie sich körperlich verausgaben müssen, Pakete tragen und Regale einräumen. Die sozialen Unterschiede – das ist eine ganz zentrale Erkenntnis unseres Projekts – verstärken sich im Alter noch einmal.

Woran liegt das?

Wer sehr gut qualifiziert und in der Wissensarbeit, am besten noch selbständig, tätig ist, kann eher im alten Beruf weiterarbeiten, Therapeutinnen oder Ärztinnen etwa, und ist in der der Regel körperlich nicht so belastet. Aber in der Regel werden Angestellte mit mittlerem Einkommen einfach verrentet und finden dann nur schwer Arbeit, die für sie noch machbar ist. Ein Großteil der Niedrigrenten ergibt sich auch daraus, dass viele aufgrund des jahrzehntelangen Verschleißes im Job frühverrentet werden. Außerdem ist der Arbeitsmarkt bei uns sehr unflexibel. In einer alternden Gesellschaft müssen sich auch die Arbeitgeber umstellen und versuchen, ältere Arbeitskräfte länger zu halten und dafür alternsgerechte Arbeitsplätze oder auch Fortbildungen anbieten. Wenn man aber Ältere nur noch aufs Abstellgleis schiebt, wo sie sich auf die Rente so früh wie möglich freuen oder aber vor den entsprechenden Geldeinbußen fürchten, funktioniert das nicht. Es gibt zwar inzwischen die Flexirente, die es erleichtert, länger zu arbeiten, aber auch davon profitieren meist nur die Besserverdienenden. Wer zu verbraucht ist durch die Erwerbsarbeit, insbesondere Frauen im Bereich der Pflege, geht gezwungenermaßen in Frührente und nimmt Abschläge im Alterseinkommen hin.

Die von Ihnen porträtierten Frauen haben sehr unterschiedliche Lebensläufe. Warum enden dennoch alle in Altersarmut?

Fast keine Frau, die alleine in einem Haushalt wirtschaftet, kommt mit ihrer Altersrente zurecht. Das trifft auch Frauen aus dem bürgerlichen Milieu. Das Rentenniveau ist in den vergangenen 20 Jahren strukturell abgesenkt worden. Heutige Neurentner bekommen deutlich weniger als Rentner vor 30 Jahren. Wenn eine Versicherungsangestellte oder eine Altenpflegerin es wirklich schaffen sollten, 45 Jahre durchzuarbeiten, haben sie bei einem mittleren Einkommen eine Durchschnittsrente von vielleicht 1300 Euro. In München liegt die Armutsgefährdungsschwelle aber schon bei 1350 Euro: Das braucht man, um hier halbwegs über die Runden zu kommen. Natürlich ist es ein Unterscheid, ob ich 300 oder 1300 Euro bekomme. Aber wer nur eine Rente von 300 Euro hat, geht, wenn er davon weiß, und sich nicht zu sehr schämt, zum Sozialamt um Grundsicherung zu beantragen, damit kommt man auf etwas mehr als 1100 Euro. Das kann eine Rentnerin, die 1300 Euro erhält, nicht. Das heißt: Alter macht die sozialen Unterschiede zwar einerseits noch krasser, zum anderen nivelliert es sie aber auch in Bezug auf die sehr begrenzten finanziellen Möglichkeiten, weiter am Leben in einer teuren Stadt teilzuhaben.

Nun ist die Senkung des Rentenniveaus ja nichts Neues. War es nicht abzusehen, dass dies zu Altersarmut führen wird?

Die jetzige Rentnergeneration konnte das so nicht abschätzen. Denken Sie an die Aussage von Norbert Blüm: Die Renten sind sicher. Sie sind ja auch sicher, aber nicht mehr auskömmlich. Man kann niemandem die Schuld geben, nach dem Motto: Ihr habt nicht aufgepasst. Die Einzelnen konnten es lange nicht wissen, dass es so für sie ausgehen wird, weil sich die Spielregeln einfach zwischendurch geändert haben, als die Rente auf inzwischen 48 Prozent abgesenkt wurde. Wer jetzt 50 oder 60 ist, weiß es, weil seit 20 Jahren zusätzliche private Vorsorge politisch propagiert wird, aber für die Älteren war es bereits oft zu spät, um ausreichend vorzusorgen, vor allem, wenn man den Spielraum dafür nicht hatte. Die jetzigen Neurentnerinnen und -rentner sind wirklich benachteiligt, und die Geringverdiener auch, weil sie es nicht schaffen, etwas beiseite zu legen. Sicher hat die Politik das Problem auch verschlafen. Das ist ein Grund, warum wir in unserem Buch versucht haben, wissenschaftliche Erkenntnisse, besonders über die Folgen der Alltagsbewältigung und sozialen Teilhabe, so darzustellen, dass sie für viele lesbar sind. Nur wenn man ermessen kann, wie es den Älteren geht, wie sie knapsen müssen und leiden, nur dann versteht man, dass sich politisch etwas ändern muss.

Warum haben Sie nur weibliche Rentnerinnen befragt?

Wir haben zunächst Frauen untersucht, weil sie durchschnittlich rund 60 Prozent weniger Rente haben als Männer und daher besonders von Altersarmut gefährdet sind. Es gibt den sogenannten Gender Pension Gap, der mit dem Gender Pay Gap, der Lücke beim Gehalt, zu tun hat, sowie mit den weiblichen Erwerbsbiografien und Geschlechterrollen. Lange wurde politisch die Alleinernährer-Familie propagiert, später die Eineinhalb-Ernährer-Familie, die noch immer durch das Ehegatten-Splitting gefördert wird. Die heutigen Rentnerinnen hatten bis in die späten 1960er-Jahre vielfach nicht die Möglichkeiten und Freiheiten, einen Beruf zu ergreifen, wie wir sie heute kennen. Die Ausbildung von Frauen wurde lange vernachlässigt, das hat sich erst nach der zweiten Frauenbewegung und der Bildungsoffensive der 1970er-Jahre verändert. Man muss aufpassen, dass man den Frauen nicht die Schuld gibt: Die gesellschaftlichen Rollenbilder und Möglichkeiten wie Kinderbetreuung waren begrenzter, auch wenn es Ausnahmen gab.

Wie sieht es bei Männern mit Altersarmut aus?

Das wäre Thema einer Folgestudie. Männer haben oft auch zu wenig Rente, insbesondere für ein Leben im urbanen Raum. Sie bekommen zwar momentan durchschnittlich deutschlandweit 1200 Euro im Monat, Neurentner erhalten aber bereits weniger. Der alleinlebende hochaltrige Mann hat sicherlich auch Schwierigkeiten, vor allem wenn dann noch Gesundheitskosten hinzukommen.

Wie gehen die Porträtierten mit ihrer Situation um?

Ein wichtiger Befund war die Scham der Betroffenen. Die Frauen sagen oft nicht einmal den eigenen Kindern, wie es ihnen geht. Es gibt eine Generationsspezifik im Umgang mit Altersarmut, die sich sicherlich mit einer Genderspezifik mischt. Frauen, die jetzt in Rente sind, sind die Kriegs- und Nachkriegskinder. Sie legen eine Bescheidenheit an den Tag, haben sich immer sehr zurückgenommen und ihr Hauptbedürfnis war und ist es, den Kindern und Enkelkindern etwas geben zu können. Sie haben auch gelernt, mit wenig zurechtzukommen, und verfügen über haushaltswirtschaftliches Wissen, etwa des sparsamen Kochens oder des Flickens. Das hilft, um im Alter mit Mangel zu leben. Es gibt aber auch große soziale Unterschiede. Frauen aus den bürgerlichen Milieus können Altersarmut häufig durch ihre Netzwerke besser kompensieren. Eine unserer Gesprächspartnerinnen, eine ehemalige Musikalienhändlerin, die Grundsicherung erhält, sagt: Ich fühle mich nicht arm. Allerdings geht es ihr nicht wirklich gut, sie hat sehr viele Auflagen durch das Sozialamt und wird jedes Jahr überprüft – das empfinden manche auch als ein Durchleuchtetwerden, fast als Schikane – und sie hat Angst, dass eine Mieterhöhung kommen könnte.

Es ist also eine latente Bedrohung da?

Genau. Jede Nebenkostenabrechnung ist ein Problem, eine Mieterhöhung sowieso. Grundsicherung macht unfrei. Die Frauen werden abhängig – von Ämtern, Familie, Freunden –, wollen das aber nicht.Wie passen ihre Projektergebnisse zum vorherrschenden Bild des „erfolgreichen“ Alterns?
Lange wurde von den öffentlichen Altenberichten und den Medien das Bild der fitten Alten, der Best- und Golden Ager propagiert, die für sich selbst Sorge tragen und sich ehrenamtlich für andere einsetzen. Die gibt es natürlich. Aber darüber hat man die Älteren, die diese Möglichkeiten nicht haben, vernachlässigt. Ein anderes Bild war das Drohszenario der Altenlast in Folge des demografischen Wandels. Wir konnten Spuren dieses öffentlichen Diskurses in den Aussagen der Frauen finden, so als hätten sie ihn verinnerlicht: Wir wollen niemandem zur Last fallen.

Im Zusammenhang mit der Debatte um Altersarmut fällt manchmal der Begriff „Lebensleistung“ – was ist damit gemeint?

Es gibt derzeit eine heftige Diskussion über Gerechtigkeit, also zum Beispiel darüber, ob es gerecht ist, wenn jemand, der 35 Jahre lang zwar nur Teilzeit gearbeitet, aber Familiendienste wie Kinderbetreuung und Versorgung der Schwiegereltern geleistet hat – dafür nun beispielsweise die von der SPD angedachte zusätzliche Grundrente erhält. Wie genau bemisst man eine „Lebensleistung“, zumal in Deutschland Rentenpunkte bislang hauptsächlich an die Erwerbsarbeit gekoppelt sind, mit Ausnahme der „Mütterrente“, die pro Kind zwei bis drei Rentenpunkte zusätzlich erbringt? Es wird darüber debattiert wird, wem was im Alter zusteht und was der Lohn für welche „Lebensleistung“ sein soll. Es gab einen Vorabdruck unseres Buches im Webauftritt der Zeit. Bei manchen Lesern kam dann eine Sozialneid-Diskussion auf nach dem Motto: Wieso müssen Ältere in der Stadt bleiben? Oder gehört es zur Anerkennung der Lebensleistung Älterer, dass sie in ihrem gewohnten Umfeld bleiben dürfen? Durch die wahnsinnigen Mietsteigerungen wird nun darüber debattiert, wer überhaupt noch ein Wohnrecht in der Stadt hat. Das ist eine Verschiebung des Diskurses, den es vor zehn Jahren so nicht gegeben hätte. (Interview: Nicola Holzapfel)

Irene Götz ist Professorin am Institut für Empirische Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie der LMU. Die Ergebnisse des Projekts „Prekärer Ruhestand. Arbeit und Alltag von Frauen im Alter“, das von der DFG gefördert wurde, sind im Buch „Kein Ruhestand. Wie Frauen mit Altersarmut umgehen“ im Antje Kunstmann Verlag veröffentlicht.

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