Das nationalsozialistische Deutschland und die Sowjetunion unter Stalin: Vergleich und Verflechtungen

Inhalt

In dieser Themenachse wird die Ukraine als Territorium der Herrschaft und der Massenverbrechen der beiden großen verbrecherischen Regime in der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, des nationalsozialistischen Deutschlands und der Sowjetunion unter Stalin, untersucht. Die Forschungen sollen dabei nicht nur einen Beitrag zur Geschichte der Ukraine, sondern auch zur Diskussion der Bedeutung dieser beiden Regime für die Geschichte Europas im 20. Jahrhundert leisten. Die Forschungsprojekte in dieser Themenachse untersuchen an ukrainischen Beispielen die lokale Herrschaft dieser zwei Regime und fragen nach Kontexten der Gewalt sowie danach, wer sie ausübte und wer sie erlitt. Sie fragen nach Handlungen und Motiven und thematisieren so Erfahrungen, Traumata und deren Folgen „von unten“. Zeiten des Herrschaftswechsels sind dabei von besonderem Interesse.

Yaroslav Hrytsak: Geschichte der Ukraine, 1914-2022

Ziel des Projekts ist die Abfassung einer englischsprachigen Synthese der Geschichte der Ukraine im 20. Jahrhundert. Mit dem entstehenden Buch soll die mehrbändige englischsprachige Ausgabe der „Geschichte der Ukraina-Rus“ von Mychajlo Hruševs‘kyj vervollständigt und durch Bände über die jüngsten Perioden der ukrainischen Geschichte erweitert werden. Die Synthese soll auf dem neuesten Forschungsstand zur ukrainischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, einschließlich der Veröffentlichungen, die im Rahmen des deutsch-ukrainischen Mykola-Haievoi-Zentrums entstehen, basieren. Im Unterschied zu ähnlichen Publikationen wird der Synthese ein neuer chronologischer Rahmen des „ukrainischen 20. Jahrhunderts“ zugrunde gelegt: Statt des astronomischen (1900-1999) oder des „kurzen historischen“ (1914-1991) wird das „lange 20. Jahrhundert“ (1914-2022) vorgeschlagen. Die Schilderung wird sich auf den Faktor der Gewalt konzentrieren, insbesondere auf den Einfluss der Gewalt auf die Bildung der ukrainischen Nation und ihre geopolitische Rolle.

Gerhard Gnauck: Der Holodomor in der Ukraine. Eine Fallstudie

Der Holodomor, die Hungersnot in der Sowjetrepublik Ukraine 1932-33 mit etwa vier Millionen Toten, ist durch politische Maßnahmen (die angeordnete Konfiszierung erst von Getreide, dann von allen Lebensmitteln der Bauern) von oben herbeigeführt, also von Menschenhand geschaffen worden. Dennoch war diese Tragödie aus der Herrschaftszeit Stalins in der deutschen Wissenschaft und Öffentlichkeit lange Zeit kaum präsent. Und dies, obwohl Zeitzeugen als displaced persons nach 1945 in Deutschland, insbesondere in Bayern, anwesend waren. Bisher sind als Monografien in deutscher Sprache nur die Bücher zweier Autoren „von außen“, Lev Kopelev und Anne Applebaum, erschienen (1979 bzw. 2019). Die ukrainische und internationale Forschung zum Holodomor, dem nach Opferzahlen größten Verbrechen des sowjetischen Regimes, ist indessen vorangekommen und hat u.a. die Frage diskutiert, ob die Hungersnot als Genozid einzustufen sei. Nach anderen Parlamenten hat auch der Bundestag in einer Resolution 2022 diese Frage bejaht und von einem „Menschheitsverbrechen“ gesprochen.

Dagegen fehlt es bisher fast völlig an Arbeiten zur „Mikro-Ebene“, zur regionalen und lokalen Dimension des Holodomor, zu Abläufen und Akteuren vor Ort – Tätern und Opfern, Widerstand Leistenden und Zeitzeugen. In der Ukraine selbst wurden dazu, nach Aussagen von Ljudmyla Hrynevyč vom Zentrum „HREC in Ukraine“, bisher nur eine Handvoll von zum Teil unveröffentlichten Dissertationen geschrieben. Ohnehin war Archivmaterial seit den 1930er Jahren teils gefälscht, teils zerstört worden („Archivozid“), Zeitzeugen wurden Opfer teils des 1937 einsetzenden Großen Terrors, teils des Zweiten Weltkriegs und der deutschen Besatzung.

Andererseits sind im Landesmaßstab viele Behördendokumente, Ego-Dokumente und Zeugenaussagen einschließlich Quellen zur oral history ediert worden. Unter anderem wären hier die zu jeder oblast’ (Regierungsbezirk) erschienenen „Knyhy pam’jati“ (Gedenkbücher) zu nennen. In dieser Arbeit soll versucht werden, sich den Ereignissen auf der Ebene einer Region, eines Landkreises oder einiger Dörfer zu nähern. Archivbesuche in der Ukraine sollen einen tieferen Zugang zum Thema ermöglichen. Täter, Opfer, Zeugen und Teilnehmer der zahlreichen, teils sogar bewaffneten Widerstandshandlungen gegen die Politik der Behörden sollen möglichst in ihren Interaktionen und unter Berücksichtigung der Motive ihres Handelns untersucht werden. Das könnte, je nach Quellenlage, auch die Vor- und Nachgeschichte der Jahre 1932/33 und somit einen längeren Abschnitt der Biografien umfassen.

Gelinada Grinchenko: Die 1940er Jahre in der Ukraine: Die (De-)Legitimierung von Besatzungen, soziale Transformationen und alltägliche Herausforderungen

Das Projekt untersucht die Transformationen des sozialen Lebens, des Alltags und der Legitimierungen in der Ukraine von den späten 1930er bis Ende der 1940er Jahre – vor, während und nach der nationalsozialistischen Besatzung. Ziel ist es, zu analysieren, wie sich gesellschaftliche Veränderungen und der Alltag parallel zu den Legitimierungsstrategien der Besatzungsmächte entwickelten und manchmal von ihnen abwichen. Die Untersuchung umfasst drei miteinander verbundene Phasen: die letzte Phase der gesellschaftlichen und politischen Entwicklung vor dem Krieg; die Zeit des Zweiten Weltkriegs, einschließlich der nationalsozialistischen Besatzung und der ersten Jahre der sowjetischen Rückeroberung; und den Wiederaufbau nach dem Krieg.

Ein zentraler Fokus liegt auf den Legitimationsprozessen, die von den Nationalsozialisten, den Sowjets und ukrainischen Nationalisten angestoßen wurden, um der (de)okkupierten Gesellschaft politische, soziale und kulturelle Rahmen zu geben. Propaganda spielt dabei eine wichtige Rolle und wird anhand von Kommunikationstheorien analysiert („Wer sagt was, über welchen Kanal, zu wem und mit welcher Wirkung?“).

Ein weiterer Schwerpunkt ist die Analyse der Politik und Praxis der (De-)Okkupation und deren Auswirkungen auf die ukrainische Gesellschaft. Dabei werden Fragen gestellt wie: Welche neuen sozialen Rollen und Netzwerke entstanden während der nationalsozialistischen Besatzung? Wie beeinflusste die Besatzung die Rückkehr der sowjetischen Herrschaft? Und wie wurden die Folgen der Besatzung in den ersten Nachkriegsjahren auf gesellschaftlicher Ebene bewältigt?

Schließlich werden die Herausforderungen und Auswirkungen der Besatzung auf den Alltag der ukrainischen Bevölkerung untersucht. Im Mittelpunkt steht die Frage: „Welche Wege und Ressourcen nutzt ein Mensch, um sich an eine aufgezwungene Realität anzupassen?“. Dabei meinen Ressourcen soziale Verbindungen und Netzwerke, die sich in der jeweils neuen Ordnung formierten, geprägt von Gesetzen, Verordnungen und Direktiven der Besatzer. Anpassung beschreibt den Prozess, durch den Individuen und Gemeinschaften sich in die Besatzung eingliederten und nach ihrer Befreiung sowie im Wiederaufbau eine neue Orientierung fanden.

Albert Venher: Kollaboration: Historisches Ereignis und Figur der „Prozess-Dramaturgie“

Auf Grundlage von Materialien aus dem Archiv des Sicherheitsdienstes der Ukraine in den Oblasten Charkiv, Cherson und Dnipropetrovs‘k, hauptsächlich zu Prozessen gegen der Kollaboration mit den Nazis angeklagte Personen, sollen zwei Fragestellungen untersucht werden. Die erste ist ausschließlich historischer Natur und bezieht sich auf die Beteiligung der Bevölkerung dieser Regionen an der Kollaboration mit den Besatzern während des Zweiten Weltkriegs. Besonderes Augenmerk gilt dabei den Motiven, die die lokale Bevölkerung zur Kollaboration veranlassten, der Dauer der Kollaboration sowie den neuen sozialen Rollen, welche sich aus der Kollaboration ergaben. Auch das Schicksal der Kollaborateure, die an der Tötung von Zivilisten und Kriegsgefangenen beteiligt waren, wird untersucht. Schließlich werden in diesem Teil der Studie die Entwicklung der Haltung gegenüber der Kollaboration im Alltag nach dem Krieg, die Veränderungen der offiziellen Position des Staates und der Partei sowie der Einfluss der Kollaboration auf die nachfolgenden Generationen und die Gesellschaft als Ganzes untersucht.

Der zweite Teil befasst sich mit der Untersuchung der Gerichtsverfahren selbst unter dem Gesichtspunkt ihrer Dramaturgie. Wir schlagen vor, die Prozesse aus dem Blickwinkel ihrer Dramaturgie zu betrachten, wobei die weit gefasste Definition von „Dramaturgie“ als „die Organisation von Elementen in Zeit und Raum“ verwendet wird. Diese Organisation kann unter verschiedenen Gesichtspunkten diskutiert werden, unter anderem als eine bestimmte Kommunikation, die die Koexistenz und die gegenseitigen Auswirkungen von fünf Elementen vereint:

  • 1) verschiedene Akteure, die das Gerichtsverfahren mitproduziert haben;
  • 2) die Schauplätze, an denen diese Akteure verhandelten, wozu nicht nur die Gerichtssäle (oder Theatersäle im Falle offener Prozesse) gehören, sondern auch die Medien, die ihre Interpretationsrahmen (visuell und narrativ) und ihre Rezeption beeinflussten;
  • 3) die Kontexte, d. h. die Geschichtspolitik, die öffentlichen Diskurse und die Transnationalisierung bestimmter Rechtshandlungen;
  • 4) die Botschaften, oder die Inhalte und Formen der (neu) geschaffenen Narrative oder Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg - anders formuliert, die Interpretation und das Erzählen von Geschichte über den Einzelfall hinaus sowie die Ausarbeitung von Diskursen auf breiterer Ebene;
  • 5) Reaktionen und Rezeption in der Öffentlichkeit.

Unter diesem Gesichtspunkt, der sich auf die Untersuchung der Interaktion zwischen Akteuren, Szenen, Texten und Kontexten beim Erreichen bestimmter Ziele konzentriert, werden wir versuchen, die Dramaturgie der Kriegs- und Nachkriegsprozesse zu untersuchen, die von den 1940er bis 1980er Jahren in den Gebieten von Charkiv und Dnipropetrovs‘k stattfanden.

Yurii Shapoval: Die sowjetische politische Polizei in der Ukraine in den 1920er und 1930er Jahren

Die Studie wird sich auf wenig bekannte Aspekte der Formierung und Funktionsweise der kommunistischen politischen Polizei in der Ukraine konzentrieren, welche in den frühen 1920er Jahren als Staatliche Politische Verwaltung (Derzhavnoye politicheskoye upravleniye, GPU) bezeichnet wurde. Die Dachorganisation solcher regionalen Strukturen war die Vereinigte Staatliche Politische Verwaltung (ODPU), die damals auf Ebene der gesamten Union tätig war. Diese Strukturen wurden zur wichtigsten Informationsquelle für alle Ebenen der sowjetischen Führung und zu einem der mächtigsten Hebel der staatlichen Verwaltung. 1934 erhielten diese Organe eine neue Abkürzung - NKVD, Volkskommissariat für innere Angelegenheiten, auf Russisch NKVD, welches später das Symbol des „großen Terrors“ werden sollte.

Der Autor untersucht die Täter der sowjetischen Massenverbrechen der politischen Polizei der Sowjetukraine in den 1920er und 1930er Jahren. Die Studie konzentriert sich auf die Biografien der Tschekisten und die politischen, ideologischen und weiteren Motive für ihre Taten. Dies trägt zum Vergleich der Täter und der Rolle der politischen Polizei in der stalinistischen Sowjetunion und im nationalsozialistischen Deutschland bei.

Jüngste Forschungen haben ergeben, dass Fragen, die bei der Untersuchung von NS-Verbrechern, insbesondere in der SS und der Polizei, aufgeworfen werden, nur selten mit sowjetischen Verbrechen verglichen werden. Gleichzeitig hat die Öffnung der Archive der ehemaligen sowjetischen politischen Polizei in der Ukraine seit 2015 ein breiteres Verständnis der Praktiken der sowjetischen Sicherheitsorgane ermöglicht. Gleiches ist in Russland nach wie vor unmöglich.

Die Studie stützt sich auf die Quellen des Sektoralen Staatsarchivs des SBU und ihrer regionalen Zweigstellen, des Zentralen Staatsarchivs der öffentlichen Vereinigungen der Ukraine (CDAHO, das ehemalige Parteiarchiv) sowie auf bereits vorhandene historiographische Arbeiten über verschiedene Aspekte der Thematik.

Oleksandr Kruglov: Die Täter von Babyn Jar

Zwar existieren hunderte Veröffentlichungen über das Massaker von Babyn Jar, diese konzentrieren sich jedoch hauptsächlich auf die Opfer und geben nur wenig Auskunft über die Täter. Hunderte Mitglieder des SD-Sonderkommandos, der Polizeibataillone sowie der SS- und Wehrmachtseinheiten waren in irgendeiner Form an der Vernichtung der Kyjiver Juden beteiligt; in den Veröffentlichungen über Babyn Jar werden in der Regel nur wenige Namen genannt.

Im Mittelpunkt dieser Veröffentlichungen stehen vor allem Schlüsselfiguren wie Friedrich Jeckeln und Paul Blobel. Friedrich Jeckeln organisierte die Vernichtung der Kyjiwer Juden, während Paul Blobel die Erschießungen direkt überwachte. Darüber hinaus sind 22 weitere Personen bekannt, die an den Tötungen teilgenommen haben bzw. involviert waren: fünf Wehrmachtsgeneräle (von Reichenau, von Puttkamer, von Obstfelder, Zickwolf und Eberhard), sechs Offiziere des Sonderkommandos 4a (Callsen, von Radetzky, Häfner, Hans, Janssen und Funk), vier Polizeibeamte des Regiments „Süd“ (Rosenbauer, Besser, Hannibal, Kreutzer), ein Offizier der Waffen-SS (Grafhorst), sechs Offiziere des Stabs der Einsatzgruppe C (Rasch, Hofmann, Meyer, Krumme, Schulte, Wojton). Auch die ukrainische Hilfspolizei nahm an den Kyiver Razzien teil, doch nur wenige ihrer Mitglieder sind namentlich bekannt. Somit sind Hunderte von Personen, die direkt oder indirekt an der Vernichtung der Kyjiver Juden im Herbst 1941 beteiligt waren, weiterhin unbekannt. Sie machen etwa 99 Prozent aller Personen aus, die in irgendeiner Form am Massaker von Babyn Jar beteiligt waren.

Daher ist das Ziel der Studie, möglichst alle am Massaker beteiligten Personen - Organisatoren, Täter und Mittäter - namentlich zu identifizieren.

Die vollständige Identifizierung der Täter ist wichtig, um ein objektives und umfassendes Bild der Geschehnisse in Kyjiv im Herbst 1941 zu gewinnen und um die Täter nicht anonym bleiben zu lassen, sondern sie sichtbar zu machen. Die eindeutige Identifizierung von Tätern, auch auf unterer Ebene, kann ein wichtiges Mittel zur Abschreckung vor künftigen Massenmorden sein. Dies erscheint relevant, nicht zuletzt im Hinblick auf die Gräueltaten, die von russischen Einheiten während des laufenden Krieges in der Ukraine begangen werden.

Wichtig ist auch, dass die Täter nicht zu „normalen Bürgern“ werden und aufhören, Täter zu sein, und dass die Opfer nicht aufhören, Opfer zu sein. Denn ohne Täter gibt es keine Opfer und ohne Opfer keine Täter.

Zudem wird ohne die konkrete Personifizierung der NS-Verbrechen, wenn also nur allgemein von „Nazis“ gesprochen wird, die individuelle und persönliche Komponente dieser Verbrechen ausgeklammert. Jedes Verbrechen hatte seine jeweiligen Organisatoren und spezifischen Täter - darunter diejenigen, die den Befehl gaben, diejenigen, die abdrückten, und diejenigen, die dies begünstigten. Durch das Ignorieren der individuellen und persönlichen Komponente erhalten die Verbrechen einen unbestimmten und flüchtigen Charakter. Schließlich ist die Betrachtung der Biografien der einzelnen Täter auch wichtig, um die Ursachen und Motivationen für diese Taten zu klären.

Petro Dolhanov: “Eigentumsjäger”. Lokale Reaktionen auf den Holocaust im westlichen Wolhynien

Die Studie analysiert wirtschaftliche Motive, die das Verhalten der lokalen nicht-jüdischen Bevölkerung in Wolhynien während des Holocausts bestimmten. Wirtschaftliche Faktoren wurden lange Zeit als Nebenaspekt des Holocausts angesehen, welcher das Schicksal seiner Opfer nicht wesentlich beeinflusste. Der Autor der Studie erkennt diesbezüglich an, dass die Hauptursachen des Holocausts auf anderer Ebene liegen. Es handelte sich bei dem Verbrechen um einen staatlich geförderten Völkermord. Dieser Ansatz ist angebracht, wenn wir die Politik des Völkermords auf Makroebene analysieren. Betrachtet man die Mikroebene, wird man sich der Tatsache bewusst, dass der Holocaust einen sozialen Charakter hatte. Wie Mary Fulbrook hervorhebt, „...many more people now became actively involved in behaviors that, under other circumstances, they would never have conceived. It was not so much perpetrators who produced the system of violence as the system of violence that produced perpetrators”.

Das Projekt geht von der These aus, dass wirtschaftliche Motive und Faktoren mitunter eine entscheidende Rolle bei der Entstehung und Entwicklung der sozialen Dynamik des Völkermordes spielten. Das Augenmerk richtet sich darauf, wie der materielle Gewinn verschiedene Verhaltensweisen ethnischer Ukrainer und Polen im westlichen Wolhynien beeinflusste (diese beiden Gruppen hatten die größten Anteile an der nicht-jüdischen Mehrheit in den ländlichen Gebieten der Region).

Der Autor untersucht, welche Gründe und Motive die verschiedenen Akteure während des Holocausts zu wirtschaftlich unterschiedlichem Verhalten veranlassten (Armut, Ideologie, „traditionelle“ antisemitische Vorurteile, Schneeballeffekte, Brutalisierungseffekte usw.). Welche Formen der wirtschaftlichen Interaktion gab es zwischen der nicht-jüdischen Bevölkerung West-Wolhyniens und den Holocaust-Opfern? Wie wirkten sich diese auf die Überlebenschancen der Juden aus? Welche wirtschaftlichen und sozialen Folgen hatte der Holocaust für die nicht-jüdische Bevölkerung (oftmals nicht nur Bereicherung oder das Erlangen eines neuen sozialen und beruflichen Status, sondern auch der unwiederbringliche Verlust von Handwerkern, Rechtsanwälten, Ärzten usw.)? Wie beeinflusste der Erwerb jüdischen Eigentums die Haltung der nicht-jüdischen Bevölkerung gegenüber den überlebenden Opfern des Holocausts in der Nachkriegszeit? Wurde das geraubte Eigentum zumindest teilweise zurückgegeben? Welche Formen nahm dies an und welche Diskussionen löste es aus?

Die Quellenbasis des Studienprojekts bilden Materialien aus Kollaborations-Zeitungen (Volyn, Kostopilski Visti, Haidamaka usw.), die im Staatsarchiv der Region Rivne und im Staatsarchiv der Region Volyn aufbewahrt werden, Materialien aus den Fonds der Hilfspolizei und der lokalen Verwaltungsorgane sowie Strafermittlungsakten über Mitarbeiter der Hilfspolizei und der lokalen Verwaltungsorgane in den Archiven des Staatssicherheitsdienstes (SBU).

Zeugnisse von Holocaust-Überlebenden und ukrainischen Nachbarn sind ein ebenso wichtiger Teil der Forschung. Ich werde mich auf die Bearbeitung der folgenden Zeugnisarchive konzentrieren: die United States Holocaust Memorial Museum Collection of Testimonies, das USC Shoah Foundation Visual History Archive und das Jeff and Toby Herr Oral History Archive. Außerdem werde ich mit den persönlichen Geschichten und Erinnerungen, die vom Holosy (Voices) Project (Babyn Yar Holocaust Memorial Center) und der VHA USC Shoah Foundation, Yad Vashem Studies gesammelt wurden, arbeiten.

Andrii Usach: Lokale Kollaboration im Bezirk Bar während der deutschen Besatzung

Die Studie befasst sich mit lokaler Kollaboration im Bezirk Bar, einem der 26 Verwaltungseinheiten des Generalbezirks Wolhynien-Podillya des Reichskommissariats Ukraine in den Jahren 1941-1944. Das Thema steht in engem Zusammenhang mit der Geschichte des Holocausts in dieser Region. Von den etwa neuntausend Juden, die unter der Nazi-Besatzung verblieben, fielen mehr als 80 % zwei Serien von Massenmorden im August und Oktober 1942 zum Opfer. Die übrigen wurden zur Zwangsarbeit deportiert oder bei der sogenannten „Judenjagd“ getötet. Ungefähr 200 Menschen konnten überleben.

Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen die lokalen Mitarbeiter der Polizei und der Verwaltung. Die erste Gruppe enthält lokale Polizeibeamte und Gendarmerie-Dolmetscher, eine zweite umfasst Angestellte der Bezirks-, Stadt-, Volost- und Dorfverwaltungen sowie Täter verschiedener Ebenen, darunter die sogenannten desjatnyky oder soc‘ki. Die Hauptforschungsfragen decken sich mit denen, die allgemein in zeitgenössischen Studien über Holocaust-Täter aufgeworfen werden: Wie vollzog sich der Prozess der Transformation lokaler Kollaborateure von gewöhnlichen Menschen zu Tätern, die extreme Gewalt ausübten? Wie gestalteten sich ihr soziales Profil, ihre früheren Erfahrungen, ihre Interaktionsnetze, ihre möglichen Motivationen, Rollen und das Ausmaß ihrer Mitschuld am Holocaust und/oder umgekehrt, inwieweit leisteten sie Hilfe für jüdische Opfer und nahmen Anteil an ihrem Schicksal?

Die Studie rekonstruiert persönliche Biografien, in erster Linie auf Grundlage von mehr als 200 Strafsachen aus den Archiven der SBU-Abteilungen in den Regionen Vinnycja, Chmel’ny‘kyj, Czernowitz und Černihiv und den Staatsarchiven der Regionen Vinnycja und Chmel’nyc‘kyj sowie Alternativquellen, darunter Berichte jüdischer und nicht-jüdischer Augenzeugen. Die Thematik der lokalen Kollaboration wird aus mikrohistorischer Perspektive und im Kontext der Dynamik nicht nur des Holocausts, sondern auch anderer nationalsozialistischer Verbrechen im Bezirk Bar (Völkermord an den Roma, Zwangsarbeit, Bekämpfung des Widerstands usw.) untersucht. Es ist eben wichtig, verschiedene lokale Akteure - Funktionäre der Besatzungsverwaltung, ukrainische Nationalisten, sowjetische Untergrundkämpfer und Partisanen - zu identifizieren und ihren Einfluss auf die Handlungen der lokalen Kollaborateure innerhalb bestimmter Zeiträume zu bestimmen.

Yurii Radchenko: Die Karaiten der Ukraine unter dem Sowjet- und Naziregime in den 1920er und 1940er Jahren

Die Geschichtsschreibung über das Schicksal der Karaiten Osteuropas während der nationalsozialistischen Besatzung ist relativ umfangreich. Zahlreiche Fragen in Bezug auf die karaitische Bevölkerung in vielen Regionen der von den Nazis besetzten Ukraine auf lokaler Ebene sind jedoch in wissenschaftlichen, populärwissenschaftlichen und journalistischen Texten nicht berücksichtigt worden. Selbst umfassende Studien über die Besetzung bestimmter Regionen der Ukraine in den Jahren 1941-1944 erwähnen das Schicksal der Karaiten nicht.

Die Studie wird folgende Fragen beantworten: Welche Besonderheiten wies die deutsche Politik gegenüber den Karaiten in den verschiedenen Regionen der Ukraine (Galizien, Wolhynien, Krim, Zentrum und Osten der Ukrainischen Sowjetrepublik Republik) auf? Wurden sie von den Deutschen und ihren Verbündeten verfolgt? In welchem „rechtlichen“ Rahmen bewegte sich die Umsetzung der „Karaitenpolitik“ in der Ukraine während der deutschen Besatzung? Wie gestaltete sich die Politik der Nationalsozialisten gegenüber den Karaiten in der Ukraine und im Vergleich mit verschiedenen Regionen Russlands, Polens und Litauens?

Die Haltung der OUN (b) und der OUN (m) gegenüber der aschkenasischen Juden in der Ukraine wird in der wissenschaftlichen Literatur intensiv untersucht. Gleichzeitig bleibt die Haltung verschiedener Gruppen ukrainischer Rechtsradikaler gegenüber den Karaiten unerforscht. Wie verhielten sich die Bandera- und Melnyk-Gruppen, die lange Zeit die Selbstverwaltungsorgane und die Polizei in verschiedenen Regionen kontrollierten, in den Jahren 1941-1942 gegenüber der Karaiten? Wie verhielten sich die ukrainischen Partisanen in den Jahren 1943-1944 gegenüber der karaitischen Bevölkerung? Wie spiegelte sich die „karaitische Frage“ in der Propaganda der Bandera- und Melnyk-Anhänger wider?

Ob die örtlichen Karaiten versuchten, Vorstellungen über ihre Gemeinschaft zu verbreiten, die sie (erfolgreich oder nicht) nach der Ankunft der Deutschen vor der Vernichtung bewahren könnten, wie es in vielen anderen Orten der Fall war, ist auf mikrohistorischer Ebene nach wie vor kaum geklärt. Während der Besatzung lebte die tatarisch-muslimische Bevölkerung in Charkiv, im Donbas und in Wolhynien. Es ist immer noch nicht geklärt, wie sich die Beziehungen zwischen den tatarischen (muslimischen) und karaitischen Gemeinschaften in diesen Regionen in den Jahren 1941-1943 gestalteten.

Ein wichtiger Aspekt der Geschichte des Holocausts und der nationalsozialistischen Besatzung in der Ukraine ist das Verhältnis zwischen Juden und Karaiten. Es ist bekannt, dass in einigen Regionen Europas, die von den Deutschen und ihren Verbündeten kontrolliert wurden, die Beziehungen zwischen dem rabbinischen Judentum und Karaiten sehr unterschiedlich waren. Wie gestalteten sich die Beziehungen in den verschiedenen Regionen der Ukraine? Der Autor wird versuchen, diese und weitere Fragen in seiner Studie zu beantworten.

Es ist geplant, auf die umfangreichen Sammlungen von Nachkriegsprozessen in den Archiven des ehemaligen KGB zurückzugreifen sowie mündliche Überlieferungen zu verwenden, die von der Shoah Foundation gesammelt wurden.

Yehor Vradii: Überlebensstrategien der Juden im Distrikt „Galizien“ während des Holocausts

Die Untersuchung konzentriert sich auf den Prozess des jüdischen Überlebens im sogenannten Distrikt Galizien, der im August 1941 dem deutsch besetzten Generalgouvernement für die besetzten polnischen Gebiete angeschlossen wurde. In dem Projekt soll untersucht werden, welchen Einfluss der Verlauf des Holocaust sowie die sich verändernde Situation der im Distrikt Galizien lebenden nicht-jüdischen Bevölkerung auf die Entwicklung der von Juden gewählten Fluchtwege hatten.

Das Projekt möchte herausfinden, welche Rolle frühere Erfahrungen im Interaktionsprozess zwischen Juden und der nicht-jüdischen Bevölkerung Galiziens spielten:

  • Zusammenleben im Polen der Zwischenkriegszeit sowie gesellschaftspolitische und soziale Veränderungen während der sowjetischen Besatzung von 1939-1941;
  • Wissen über die antijüdischen Maßnahmen während dieser Zeit in den von Deutschland besetzten Gebieten
  • Welche Bedeutung hatten die antijüdischen Pogrome in der Anfangszeit der deutschen Besatzung im Sommer 1941 für die Herausbildung der Verhaltensweisen von Juden und Nichtjuden?
  • Was waren die wichtigsten Überlebensstrategien von Juden in den verschiedenen Zeitperioden der deutschen Besatzung und in den verschiedenen Stadien der Umsetzung antijüdischer Politik?
  • Auf welches Gebiet erstreckte sich die Rettung von Juden aus dem Distrikt „Galizien“? War es tatsächlich auf die territorialen Grenzen der Besatzungszone beschränkt?
  • Welchen Einfluss hatten die Vorkriegserfahrung, der soziale Status, der Herkunftsort, der Wohnort vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs auf die Wahl der Fluchtwege?
  • Welche Motivationen gab es für Nicht-Juden, sich an der Rettung von Juden zu beteiligen, und wie haben sich diese Motivationen in Abhängigkeit von Veränderungen in der Politik der Besatzungsbehörden sowie den persönlichen Erfahrungen der Rettenden entwickelt?
  • Welche Bedeutung hatten die Überlebenspraktiken und sozialen Bindungen, die während der Besatzungszeit entstanden, für die Überlebenden und diejenigen, die sie gerettet hatten, nach der Vertreibung der Nazis im Jahr 1944?

Die Materialien des Zentralkomitees der Juden in Polen und seiner Einheiten, insbesondere der Jüdischen Historischen Kommission (heute das Archiv des Jüdischen Historischen Instituts), spielen eine Schlüsselrolle für die Forschung. Dies betrifft vor allem die Zeugenaussagen von überlebenden Juden, die bereits während des Zweiten Weltkriegs oder im ersten Jahrzehnt nach dessen Ende abgegeben wurden. Außerdem ist geplant, einschlägige Materialien aus dem Visual History Archive der Shoah Foundation, dem Yad Vashem Archive (Akten der „Righteous Among the Nations“), dem Institut des Nationalen Gedenkens Polens (Gerichtsverfahren ehemaliger Mitglieder der Kriminalpolizei, die im Distrikt Galizien tätig waren), den Staatlichen Regionalarchiven von Lemberg, Ivano-Frankivs‘k, Ternopil und anderen zu bearbeiten.

Georgiy Konovaltsev: Die französische Intervention und die Ukrainische Revolution 1918-1919

Wie viele andere europäischen Regionen waren auch die ukrainischen Territorien von der Endphase des Ersten Weltkrieg sowie von Revolution betroffen und verheert. In ihrem Fall ist es durchaus schlüssig, für die Jahre 1917-1920 nicht von der Russischen, sondern von einer eigenen, Ukrainischen Revolution zu sprechen, denn es waren nicht nur die ehemaligen Gebiete des Zarenreiches, sondern auch diejenigen Österreich-Ungarns (wie Galizien und Bukowina) betroffen. Zusätzlich kam in diesem speziellen Fall auch eine nationale Komponente hinzu – auf den Trümmern beider Imperien wurden ukrainische Staaten ausgerufen.

In diese revolutionären Wirren schalteten sich bald außenstehende Staaten ein – so etwa die Mittelmächte, die 1918 für mehrere Monate die ukrainischen Territorien besetzten. Und auch deren Gegenseite im Ersten Weltkrieg, die Entente, griff ebenfalls auf dem Gebiet seines ehemaligen Verbündeten ein.
Die Gründe hierfür waren unterschiedlicher Natur: In der frühesten Phase überwog der Wunsch, die Ostfront gegen Deutschland aufrechtzuhalten. Nach November 1918 wollte man die anti-bolschewistischen Kräfte unterstützen. Großmachtpolitik sowie ökonomische Interessen spielten ebenfalls eine Rolle. Die Alliierten teilten sich auf: Archangelsk (v.a. Großbritannien und die USA), Kaukasus (Großbritannien), der Ferne Osten (USA, Kanada, Japan)… „Südrussland“ (La russie méridionale) war das Einsatzgebiet von Frankreich. Am 17. Dezember landeten die ersten französischen Truppen in Odessa. Schrittweise dehnte sich deren Kontrollzone bis nach Mykolajiv, Kherson und die Stadt Sevastopol aus. Dort blieben sie bis zum 4. (Odessa) beziehungsweise 21. April (Sevastopol).

Als die Franzosen in Odessa landeten, gab es zahlreiche Akteure in der Region: Die weiße, russische Freiwilligenarmee; die ukrainischen Truppen des Direktoriums; die Bolschewiken und die mit ihnen lose in Verbindung stehenden Warlords wie Grigor’ev; schließlich sogar noch Überreste der Besatzungstruppen der Mittelmächte. Sie alle kämpften um die Macht in der Region – oder zumindest um ihr Überleben. Hinzu kommt der multiethnische Aspekt der damaligen Südukraine im Großen und der spezifische Kontext in Odessa, wohin Hilfssuchende jeglicher politischer Couleur strömten, im Kleinen. Französische Diplomaten und Generäle verkehrten dort sowohl mit den Vertretern der Freiwilligenarmee als auch mit den ukrainischen Regierungen (zuerst noch vor der Landung mit dem Hetmanat von Skoropads’kyj, dann mit dem Direktorium) und beeinflussten deren Entscheidungen maßgeblich – wie natürlich auch das Leben der Bevölkerung vor Ort. Auch wenn die alliierte Intervention insgesamt scheiterte, endete die französische Beteiligung doch in einem besonders ungeordneten und blamablen Rückzug.

In dem Promotionsprojekt soll der Frage nachgegangen werden, wie die französische Intervention den „Gewaltraum“ Südukraine - vor allem während der etwa viermonatigen französischen Truppenpräsenz, aber auch durch die Vorbereitungen davor und die Auswirkungen danach – prägte und Einfluss auf den Ablauf der Revolution nahm.