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- Kai Struve: Bilder und Diskurse über den ukrainischen Nationalismus in der westlichen Öffentlichkeit im 20. Jahrhundert
- Yaroslav Hrytsak: Ivan L.Rudnytsky: Intellektuelle Biographie
- Tetiana Banakh: Erinnerung und Darstellung der Massaker von Wolhynien 1943 und des polnisch-ukrainischen Konflikts 1943-47: Vom Kalten Krieg bis zur Gegenwart
- Ulyana Kyrchiv: Die jüdisch-ukrainischen Beziehungen im Kontext des Kalten Krieges in Frankreich: Der Fall von Piotr Rawicz
Inhalt
Die Behauptung, die Ukraine werde von „Nazis“ regiert, mit der Wladimir Putin die Invasion der Ukraine im Februar 2022 rechtfertigte, hat eine Vorgeschichte im sowjetischen Feindbild des ukrainischen Nationalismus. Ansichten über den ukrainischen Nationalismus, die an diese sowjetischen Bilder erinnern, übten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch auf die internationale öffentliche Meinung erheblichen Einfluss aus und tun dies bis heute. In dieser Themenachse werden Diskurse über den ukrainischen Nationalismus in verschiedenen Kontexten untersucht.
Kai Struve: Bilder und Diskurse über den ukrainischen Nationalismus in der westlichen Öffentlichkeit im 20. Jahrhundert
Aufbauend auf vorhergehenden Forschungen zum sowjetischen Feindbild des ukrainischen Nationalismus zielt dieses Projekt darauf ab, öffentliche Diskurse über den ukrainischen Nationalismus in westlichen Ländern während des zwanzigsten Jahrhunderts zu untersuchen, vor allem in Nordamerika als Zentrum der ukrainischen Diaspora und in Deutschland. Der Schwerpunkt liegt auf der Zeit des Kalten Kriegs. Das Projekt untersucht, welchen Einfluss sowjetische Propagandabilder hatten oder welche anderen Faktoren die Ansichten über den ukrainischen Nationalismus bestimmten. In der Zeit des Kalten Kriegs gab es drei hauptsächliche Kontexte solcher Debatten. Sie stehen im Zentrum der Forschung: 1) Kontroversen um die Einwanderung nichtjüdischer Displaced Persons (DPs) aus den westlichen Besatzungszonen in Deutschland und Österreich in die USA, Kanada und andere Länder bis in die frühen 1950er Jahre; 2) die Debatte um Theodor Oberländer und das ukrainische Wehrmachtsbataillon „Nachtigall“ in den Jahren 1959-60; 3) kritische Diskussionen in den USA, Kanada und anderen Ländern in den 1970er und 1980er Jahren über Kriegsverbrechern unter den osteuropäischen Einwanderern der Nachkriegszeit. Das allgemeinere Ziel der Studie besteht darin, durch die Analyse der Kontroversen über den ukrainischen Nationalismus ein besseres Verständnis der komplexen Zusammenhänge zwischen der Erinnerung an deutsche und sowjetische Massenverbrechen in westlichen Gesellschaften während des Kalten Krieges zu gewinnen.
Yaroslav Hrytsak: Ivan L.Rudnytsky: Intellektuelle Biographie
Ivan Lysiak-Rudnytskyi war einer der einflussreichsten ukrainischen Historiker. Seine Rolle definiert sich vor allem dadurch, dass er die ukrainische Geschichte radikal revidiert und in einen breiteren vergleichenden Kontext gestellt hat. Seine Biografie ist ebenso vielschichtig wie sein wissenschaftliches Werk, und seine historischen Texte sind ohne Kontext nicht vollständig zu verstehen. Insbesondere seine Absicht, den Rahmen der ukrainischen Identität im Einklang mit dem staatsbürgerlichen Konzept der Nation zu erweitern, steht in engem Zusammenhang mit seiner ukrainisch-jüdischen Herkunft und seiner direkten Beteiligung am polnisch-ukrainischen Dialog. Sein Geschichtsbild weist jedoch eine wichtige Lücke auf: Ivan Lysiak-Rudnytskyi hat nur sehr wenig über den Holodomor, den Holocaust und andere Ereignisse von Massengewalt in der Ukraine im 20. Jahrhundert geschrieben. Diese Studie versucht herauszufinden, wie diese Lücken zu erklären sind und inwieweit sie seine Vision der ukrainischen Geschichte beeinflusst haben.
Tetiana Banakh: Erinnerung und Darstellung der Massaker von Wolhynien 1943 und des polnisch-ukrainischen Konflikts 1943-47: Vom Kalten Krieg bis zur Gegenwart
Ziel der Studie ist es, die polnisch-ukrainischen Kontroversen und Versöhnungsversuche über die wolhynischen Massaker zu untersuchen, die 1943-44 von Einheiten der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA) an der polnischen Bevölkerung in Wolhynien und Galizien verübt wurden. Die Untersuchung umfasst den Zeitraum vom Kalten Krieg bis in die heutige Zeit.
Im ersten Teil wird die Vorgeschichte dieser Kontroversen während des Kalten Krieges analysiert. Der zweite Teil widmet sich den polnisch-ukrainischen Debatten über die wolhynischen Massaker in den 1990er und frühen 2000er Jahren bis hin zum gemeinsamen Gedenken an den 60. Jahrestag der Massaker im Jahr 2003. Im dritten Teil werden die Diskussionen über Wolhynien in der zweiten Hälfte der 2000er Jahre sowie die Kontroversen und Versöhnungsaktionen anlässlich des 70. Jahrestages der Wolhynien-Massaker im Jahr 2013 untersucht. Der vierte Teil widmet sich den Debatten über die Wolhynien-Massaker nach 2014, also nach dem Euromaidan und dem Beginn des Krieges im Osten der Ukraine. In dieser Zeit verschärften sich trotz Versöhnungsversuchen die polnisch-ukrainischen Erinnerungskonflikte.
Die Autorin möchte untersuchen, welchen Einfluss die anfänglichen Diskussionen während des Kalten Krieges auf die Gestaltung der unterschiedlichen Diskurse in Polen und der Ukraine über die Wolhynien-Massaker und den polnisch-ukrainischen Konflikt nach 1989/91 hatten. Dazu gehören die Fragen, warum die Massaker in Wolhynien erst in den 2000er Jahren zu einem zentralen Thema in den polnisch-ukrainischen Geschichtsdebatten wurden; warum westliche Modelle der Versöhnung, insbesondere das polnisch-deutsche „Wir vergeben und bitten um Vergebung“, im Fall der Wolhynien-Massaker nicht funktionierten; welchen Einfluss die Erinnerungspolitik in Polen und der Ukraine auf die polnisch-ukrainischen Geschichtsdebatten hatte; welchen Einfluss der russische Faktor auf diese Diskussionen ausübte; welche Versöhnungserfolge es im Fall der Wolhynien-Massaker gibt, und was noch fehlt, um die traumatische Vergangenheit zu überwinden; und außerdem, inwieweit eine juristische Aufarbeitung in diesem Fall umgesetzt werden kann.
Ulyana Kyrchiv: Die jüdisch-ukrainischen Beziehungen im Kontext des Kalten Krieges in Frankreich: Der Fall von Piotr Rawicz
1961 veröffentlichte der polnisch-ukrainisch-jüdische Schriftsteller Piotr Rawicz seinen Debütroman „Blut des Himmels“. Der in Französisch verfasste („Le Sang du ciel“) und von Gallimard veröffentlichte Roman gehört zur „ersten Welle“ von fiktionalen Werken über den Holocaust, die in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg in Frankreich erschienen. Der Roman wurde seinerzeit gut rezensiert, und Forschungen zur Holocaust-Literatur beziehen sich auch in neueren Arbeiten zur Thematik auf „Blut des Himmels“. Dem Autor selbst wurde jedoch weitaus weniger Aufmerksamkeit geschenkt.
Der 1919 in Lviv in einer akkulturierten jüdischen Familie geborene Rawicz überlebte die letzten Monate des Zweiten Weltkriegs in zwei Konzentrationslagern, in Auschwitz und Leitmeritz, und emigrierte 1947 nach Paris, wo er sich als Schriftsteller niederließ. Die Beschäftigung mit Piotr Rawiczs Biographie bietet die Möglichkeit, verschiedene größere Prozesse besser zu verstehen, darunter auch die Besonderheiten der jüdisch-ukrainisch-polnischen Beziehungen im Galizien der Zwischenkriegszeit. Die Analyse seines literarischen und journalistischen Werks ermöglicht eine Neubewertung des Wandels jüdischer Identitäten in Osteuropa unter dem Eindruck des Holocaust sowie der Art und Weise, wie traumatische Erfahrungen von Massengewalt in der Literatur verarbeitet wurden. Darüber hinaus gibt diese Studie Aufschluss über Aktivitäten osteuropäischer Intellektueller im Nachkriegsfrankreich.
Im Rahmen dieses Projekts möchte ich Rawicz' Beziehungen zur ukrainischen intellektuellen Elite von Lviv, insbesondere zur Familie Rudnyc‘kyj, in der Zwischenkriegszeit untersuchen und herausfinden, wie diese sein späteres Leben beeinflussten.
Ein Fokus werden die Identitäten sein, die er für sich selbst wählte. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist seine öffentliche Haltung zum Holodomor, die in seinem Vorwort zur französischen Ausgabe von Vasyl Barkas „Der gelbe Prinz“, die Rawicz selbst initiiert hatte, am deutlichsten zum Ausdruck kommt. Darüber hinaus wird seine Haltung zur sowjetischen Repression und zu den sozialistischen Bewegungen, die 1968 ihren Höhepunkt erreichten, untersucht.
Schließlich geht die Autorin darauf ein, wie Rawicz ukrainische Nationalisten, die mit der deutschen Besatzung kollaborierten, in seinem Roman darstellte, sowie auf seine Haltung zum Kampf um die ukrainische Unabhängigkeit insgesamt. In Bezug auf den ukrainischen Nationalismus und die Kollaboration, stellt die Autorin fest, dass dieses Thema in Rawicz' Werk keine besonders wichtige Rolle spielt, anders als angesichts seines Hintergrunds vermutet werden könnte. Erstens sah er es als selbstverständlich an, dass die Ukraine einen eigenen Staat haben könnte und sollte. Zweitens führte sein genaues Verständnis des ukrainischen politischen Diskurses dazu, dass er radikale Bewegungen und die Handlungen ihrer einzelnen Vertreter in einem größeren Rahmen sah und nicht als etwas, das für die ganzen ukrainischen Bestrebungen stand. Diese Sichtweise war durch seine Beziehung zu bestimmten intellektuellen Kreisen in der Zwischenkriegszeit geprägt.
In Frankreich widmete sich Rawicz daher vor allem anderen Themen, insbesondere der Aufarbeitung der Verbrechen der beiden totalitären Systeme - des nationalsozialistischen und des sowjetischen. Vor allem aber vertrat er die Position eines Schriftstellers und Intellektuellen, der der Meinung war, dass die literarischen Werke von Autoren aus Mittel- und Osteuropa aufgrund von Sprachbarrieren weitgehend unbekannt blieben, und er bemühte sich sehr, dies zu ändern.