Mit 70.000 neuen Fällen pro Jahr ist Brustkrebs die häufigste Krebserkrankung bei Frauen in Deutschland – und manchmal schlummert sie in den Genen. Standards bei der Behandlung und der Erforschung hat die LMU-Professorin Nadia Harbeck gesetzt.
Nadia Harbeck ist ständig auf dem Sprung: Erst von Barcelona nach München, dann vom Flughafen in die Klinik, nun von ihrem Büro zu einer Patientin. „Ich bin gleich zurück“, versichert sie und eilt über den Flur der Frauenklinik der LMU. Erst vor ein paar Stunden ist sie vom Europäischen Krebskongress zurückgekommen, ihr schwarzer Rollkoffer steht noch in der Ecke ihres Büros, darauf lagern eine Regenjacke und eine Tüte vom Bäcker. Utensilien einer Reisenden. Auspacken lohnt kaum, „in ein paar Tagen geht es weiter zu einer Konferenz nach China“, erklärt die Professorin knapp, als sie sich eine Viertelstunde später in ihrem Bürostuhl niederlässt. Verrückter Tag? Sie lacht, die blonden Locken wippen. „Nein, eigentlich ganz normal.“
Dann steht der nächste Sprung an, diesmal nur gedanklich, zurück in die Vergangenheit. Genauer: zum 14. Mai 2013. Dem Tag, an dem die Schauspielerin Angelina Jolie einen offenen Brief in der New York Times veröffentlichte unter dem Titel: „My medical choice“ („Meine medizinische Entscheidung“).
Die Tumorerkrankung im Blick:
Krebsforscherin Nadia Harbeck, hier im Garten des Brustzentrums am
LMU Klinikum München, sucht nach neuen Therapien gegen Brustkrebs.
Nach dem Artikel über Angelina Jolie wurden wir regelrecht überrannt – das Telefon stand nicht mehr still, Beratungstermine waren Monate im Voraus ausgebucht.
Nadia Harbeck
Jolie war nie Nadia Harbecks Patientin, in ihrem Sprechzimmer aber trotzdem lange sehr präsent: In den Köpfen besorgter Frauen, die von ihrem Schicksal gelesen hatten. „Nach dem Artikel wurden wir regelrecht überrannt – das Telefon stand nicht mehr still, Beratungstermine waren Monate im Voraus ausgebucht“, erinnert sich die Leiterin des Brustzentrums und der Onkologischen Tagesklinik am LMU Klinikum. Die Schauspielerin hatte darin ihre BRCA-Mutation und die vorsorgliche Entfernung ihrer Brüste öffentlich gemacht. Bilaterale prophylaktische Mastektomie nennen Mediziner diesen Eingriff. Und viele Frauen auf der ganzen Welt wollten danach wissen: Steckt auch in meinen Genen Krebs? Wie hoch ist mein persönliches Risiko? Wie kann ich mich schützen?
Häufigste Krebsart bei Frauen
Jährlich erkranken weltweit mehr als zwei Millionen Menschen an Brustkrebs, allein 70.000 davon in Deutschland. Das macht Brustkrebs zur häufigsten Krebsart bei Frauen. In den meisten Fällen tritt er spontan auf, die Gene spielen also keine Rolle. „In fünf bis zehn Prozent der Fälle aber treibt eine Mutation im Erbgut das Risiko in die Höhe, um bis zu 80 Prozent“, erklärt Harbeck. Eine Tatsache, die lange wenig bekannt war. Das änderte sich mit Angelina Jolies Artikel schlagartig – und so nachhaltig, dass Fachleute sogar von einem „Jolie-Effekt“ sprechen: Viele Frauen und Männer haben seitdem die Chance zur Vorsorge ergriffen und ihr Risiko mithilfe von Spezialisten abgeklärt.
„Es ist gut, dass der Fall so viele Menschen für erblichen Brustkrebs sensibilisiert hat“, sagt Harbeck. Zugleich ist sie froh, dass sich die Situation über die Jahre wieder beruhigt hat, denn die Verunsicherung sei groß gewesen. Allerdings: „Längst nicht alle Frauen mit Krebsfällen in der Familie weisen diese Gen-Veränderung auf. Und selbst wenn eine Mutation vorliegt, gibt es neben einer Mastektomie viele weitere Möglichkeiten, damit umzugehen.“
BRCA1, BRCA2, PALB2, CHEK2, RAD51C, ATM, BRIP1, CDH1, TP53: Die Forschung hat mittlerweile eine ganze Reihe von Genen identifiziert, deren Mutationen das Risiko für erblichen Brustkrebs erhöhen können. Schätzungen zufolge sind heute etwa die Hälfte der krankheitsverursachenden Genveränderungen bekannt, weitere werden gerade genauer untersucht. Die Aufregung darum hat sich gelegt, die Aufmerksamkeit aber ist geblieben: Viele schauen sich ihre Familiengeschichte genauer an, fragen nach. Woran ist die Tante so jung verstorben? Welche Krebsart hatte die Oma? Gibt es auffällig viele Krebsfälle in meiner Familie?
Je früher wir einen Tumor erkennen, desto besser stehen die Heilungschancen.
Die Familiengeschichte liefert die entscheidenden Hinweise auf Krebsgene. Neben einem gehäuften Auftreten der Krankheit sind auch ein frühes Erkrankungsalter, beidseitiges Auftreten sowie eine Brustkrebserkrankung beim Mann wichtige Informationen. Angelina Jolies Mutter etwa starb mit 56 Jahren an Brust- und Eierstockkrebs, auch ihre Großmutter und eine Tante verlor sie an die Krankheit. „Wer den Verdacht hat, betroffen zu sein, kann sein Risiko bei speziellen humangenetischen Beratungsstellen abklären lassen“, erklärt Harbeck, die sowohl Gynäkologin als auch Onkologin ist. Sollte der Verdacht sich im Gespräch erhärten, kann ein Gentest Klarheit schaffen. Dafür reichen ein paar Tropfen Blut.
Jede Frau geht anders mit dem Thema um, erzählt Harbeck. Manche wollen Gewissheit durch den Test, andere auf keinen Fall. Manche entscheiden sich für drastische Schritte, lassen sich Brüste und Eierstöcke vorsorglich entfernen. Andere warten damit auf den Ausbruch der Krankheit oder finden Sicherheit in engmaschiger Vorsorge. „Gerade bei den Eierstöcken ist eine Entfernung nach abgeschlossener Familienplanung aber oft sinnvoll, weil Vorsorge dort schlechter möglich ist als bei Brustgewebe“, erklärt Harbeck und erzählt ein wenig von ihren Patientinnen. „Ich habe zum Beispiel eine Patientin, die offensiv innerhalb ihrer Familie Aufklärung macht und offen über ihre Genmutation spricht.“ Generell beobachtet sie, dass viele Frauen heute gut informiert, aufgeklärt und unaufgeregt mit dem Thema umgehen. „Die meisten wissen, dass wir ihnen viel anbieten und sie gut begleiten können.“
Vorsorge und Früherkennung spielen dabei eine entscheidende Rolle. Bei einer genetischen Belastung beginnt sie früher, findet in kürzeren Intervallen und mit mehr Untersuchungsmethoden statt. Regelmäßige MRT-Aufnahmen etwa gehören dann zum Standard.
Aber auch abseits der Gene ist Vorsorge ein entscheidender Faktor. „Je früher wir einen Tumor erkennen, desto besser stehen die Heilungschancen“, sagt Harbeck. Dass Brustkrebs heute als gut behandelbar gilt und in rund 80 Prozent der Fälle geheilt werden kann, ist auch ihr Verdienst. Seit vielen Jahren behandelt sie nicht nur Patientinnen, sondern erforscht auch, wie man Therapien verbessern und schonender durchführen kann. Zum Beispiel mit der Westdeutschen Studiengruppe (WSG), an deren Studien zur Vermeidung von Chemotherapie bereits mehr als 15.000 an Brustkrebs erkrankte Frauen teilgenommen haben. Immer wieder hat sie wichtige Erkenntnisse beigesteuert und die Forschung so vorangetrieben.
Neuer Antikörper-Wirkstoff
Gerade erst wurden zum Beispiel die Ergebnisse einer internationalen Studie unter ihrer Co-Federführung veröffentlicht. Dafür testeten die Forschenden ein Medikament für eine bestimmte Form von Brustkrebs, die häufig mit Tumoren im Gehirn einhergeht. Diese sind sehr schwer zu behandeln, weil die meisten Wirkstoffe die Blut-Hirn-Schranke nicht überwinden können. Ein zielgerichtetes Antikörper-Wirkstoff-Konjugat aber kann genau das – und damit die Überlebenschancen deutlich verlängern. 90 Prozent aller Patientinnen waren ein Jahr nach Beginn der Behandlung noch am Leben. „Diese Ergebnisse sind fantastisch und eine große Hoffnung für Patientinnen mit Hirnmetastasen“, sagt Harbeck.
Heute ist sie eine international gefragte Expertin, gestaltet die Leitlinien zur Behandlung der Erkrankung mit, präsentierte ihre Forschungsergebnisse weltweit auf Kongressen und wurde für ihre Arbeit mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, zuletzt – gemeinsam mit ihrer Kollegin von der WSG, Frau Professorin Nitz – mit dem Deutschen Krebspreis 2023 oder auch als bisher einzige deutsche Wissenschaftlerin mit dem ESMO Lifetime Achievement Award 2020 der Europäischen Krebsgesellschaft. Die Krebstherapie zu verbessern, ist ihre Lebensaufgabe. „Dabei interessieren mich zwei Dinge: Zum einen, wie man die Therapien selbst noch effektiver machen kann. Zum anderen, wie man sie möglichst schonend einsetzen kann.“
Wir machen heute keine 08/15-Therapien mehr, sondern schneiden alles genau
auf die betroffene Frau zu.
Nadia Harbeck
Wirksamkeit nämlich ist das eine, Verträglichkeit das andere. „Wir schauen uns sehr genau an, welche Therapien wirklich nötig sind – und worauf man verzichten kann, ohne die Heilungschancen zu mindern.“ Also zum Beispiel: Ist wirklich eine belastende Chemotherapie nötig? Um das zu entscheiden, wird der Tumor genau analysiert und getestet, wie gut er beispielsweise auf eine Antihormontherapie reagiert. Lässt sich nachweisen, dass der Tumor dadurch weniger neue Zellen bildet? „Wir setzen uns Zwischenziele, schauen immer wieder: Was schlägt gut an? Wie reagiert der Tumor worauf?“ Gerade in frühen Stadien und wenn nur wenige Lymphknoten befallen sind, lassen sich Chemotherapien so oft vermeiden.
Individuelle Therapie
Das große Stichwort moderner und schonender Therapien ist dabei Individualisierung. „Wir machen heute keine 08/15-Therapien mehr, sondern schneiden alles genau auf die betroffene Frau zu.“ Die Bausteine, die zur Behandlung zur Verfügung stehen, also etwa Chemotherapien, Bestrahlung und Operationen, aber auch Immuntherapien, Antihormontherapien und Antikörpertherapien, müssen dafür passend kombiniert werden. Dabei gibt es viele Stellschrauben: In welcher Reihenfolge kommen die Therapien zum Einsatz? Wie kombiniert man sie am sinnvollsten? Welche Dosis braucht es? Welche Wirkstoffe sind besonders vielversprechend?
„In der Krebstherapie hat sich in den letzten Jahren sehr viel getan und das Potenzial ist noch lange nicht ausgeschöpft“, sagt Harbeck. Immuntherapien zum Beispiel: „So wie sich Kinder manchmal unter der Bettdecke verstecken, verstecken sich Tumore vor dem Immunsystem – und mit modernen Medikamenten zieht man ihnen einfach die Decke weg“, erklärt die Ärztin. Das sei nur einer von vielen Meilensteinen der Krebstherapie.
Bisher sind in Deutschland drei Antikörper-Wirkstoffe zur Behandlung von Brustkrebs zugelassen. Harbeck will dazu beitragen, dass es noch viel mehr werden, das Potenzial solcher Therapien hält sie für noch lange nicht ausgeschöpft. Seit etwa einem Jahr läuft auf Initiative der WSG eine große, weltweit einzigartige Studie für Patientinnen mit frühem, nicht metastasiertem, HER2-positivem Brustkrebs in Deutschland. Sie bekommen vor ihrer Operation viermal einen Antikörper-Wirkstoff gespritzt, was die Therapie für die Frauen deutlich erleichtert und verkürzt.
Suche nach neuen Antikörper-Wirkstoffen zur Behandlung von Brustkrebs: Proben von Krebszellen werden in Gefrierschränken aufbewahrt.
Muss man sich an einer führenden Uniklinik behandeln lassen, um von diesen modernen Therapien zu profitieren? Harbeck schüttelt den Kopf. „Wir haben 255 zertifizierte Brustkrebszentren in Deutschland, in denen Frauen sich auf eine zeitgemäße und leitliniengerechte Behandlung verlassen können.“ Sie kämpft auch dafür, dass ihre Versorgung effektiver wird – und angenehmer für die Patientinnen.
Harbeck ist nicht nur eine renommierte Forscherin, sondern auch vierfache Mutter. Sie kennt die Nöte der Frauen, ihre Eingebundenheit zwischen Beruf und Familie. „Da kann man viel Entlastung schaffen“, sagt sie. Auch das ist Teil ihrer Arbeit und der großen Versorgungsforschungsstudien an ihrer Klinik. So konnte ihr Team am LMU Klinikum zum Beispiel zeigen, dass digitale Anwendungen wie Apps und Künstliche Intelligenz eine gute Therapiebegleitung für die Frauen sein können. „Man kann damit zum Beispiel steuern, ob sie wirklich ständig für Termine in die Klinik oder zum Arzt müssen oder ob das nach Bedarf reicht.“
Ursprünglich ist Nadia Harbeck Gynäkologin geworden, weil sie gerne für Frauen in allen Lebensphasen da sein wollte und auch mit gesunden Menschen arbeiten wollte. Mit der Abzweigung in die Onkologie hat sich das etwas geändert. „Aber Menschen gesund machen ist auch eine sehr gute Aufgabe“, sagt sie, nimmt einen Schluck Kaffee und schielt auf die Uhr. Sie ist wieder auf dem Sprung, muss weiter. Ihre Patientinnen warten.
Prof. Dr. med. Nadia Harbeck, seit 2011 Professorin für Konservative Onkologie an der LMU, ist Fachärztin für Frauenheilkunde und Geburtshilfe und leitet das Brustzentrum, die Onkologische Tagesklinik sowie das Zentrum für Familiären Brust- und Eierstockkrebs der Frauenklinik der LMU.
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