Menschheitserbe: Wie wir wurden, wer wir sind
07.01.2025
Wolfgang Enard sucht in unseren Genen nach Spuren der Menschwerdung. Der Vergleich mit verwandten Arten hilft ihm dabei, Mechanismen der Evolution aufzudecken. Aus dem Magazin EINSICHTEN
07.01.2025
Wolfgang Enard sucht in unseren Genen nach Spuren der Menschwerdung. Der Vergleich mit verwandten Arten hilft ihm dabei, Mechanismen der Evolution aufzudecken. Aus dem Magazin EINSICHTEN
Auf dem Schreibtisch von Wolfgang Enard sitzt ein Affe. Die bronzefarbene Statue eines Schimpansen hockt in Denkerpose auf einem Stapel Bücher. „Wir sind uns ähnlicher als wir manchmal wahrhaben wollen“, sagt Enard. Er muss es wissen, schließlich erforscht der Professor für Anthropologie und Humangenomik seit Jahren Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Erbgut von Menschen und anderen Tieren.
Ja, auch der Mensch ist ein Tier. Ein Menschenaffe, so wie Schimpanse, Gorilla und Orang-Utan. Doch so ganz richtig fühlt es sich für den Laien nicht an, zwischen diesen Schwesterarten an der großen Familientafel Platz zu nehmen. Irgendwie ist der Mensch doch außergewöhnlich, oder? Nicht die Krone der Schöpfung vielleicht, aber doch zumindest das Wunderkind der Evolution. Schließlich sind wir die Art, die den gesamten Planeten erobert hat. Doch wie genau ist es dazu gekommen?
„Die Frage nach unserer Herkunft, also unserer biologischen Identität, ist ganz zentral für viele Menschen“, glaubt der Evolutionsanthropologe. „Das scheint tief in der menschlichen Psyche verankert zu sein.“ Es fällt leicht, zu akzeptieren, dass es bei Fliegen verschiedene Unterarten gibt, die sich vermischt haben. Aber sobald es beispielsweise um unser Verhältnis zu den Neandertalern geht, wird es sofort bedeutungsschwer.
Der Weg vom Affen zum Menschen ist nur schwer zu rekonstruieren. Wir lieben Geschichten, bei denen die Hauptfigur zielstrebig und geradlinig von A nach B gelangt. Aber die Evolution schert sich nicht um gutes Storytelling. Unser Genom ist das Erbe von mehr als vier Milliarden Jahren Evolution.
Verschiedenste Umweltbedingungen, ökologische Nischen und Zufälle haben es über diese Zeit hinweg in unzähligen Selektionsrunden verändert und geprägt. Viele Faktoren, die dabei mitspielen, sind ineinander verschlungen und haben sich stetig gegenseitig beeinflusst. Und bei uns Menschen ist das Aufdröseln dieser Fäden noch einmal verzwickter als bei anderen Lebewesen.
Grund dafür ist ein Prozess, der sehr viel schneller vor sich geht als genetische Anpassung: die kulturelle Evolution. In Gang gesetzt wurde sie durch unsere ausgeprägte Fähigkeit, sozial zu lernen. „Setzt man einen noch so schlauen Menschen allein im Urwald aus, verhungert er trotzdem.“ Unsere Intelligenz allein könne unseren immensen Einfluss auf die Welt also nicht erklären, stellt Enard klar. „Es ist die Verbindung der einzelnen Hirne, die den Ausschlag gibt – und das gilt nicht nur für die moderne Welt, sondern war schon immer so.“
Dieser kulturelle Faktor ist im Laufe der Menschwerdung auch mit biologischen Prozessen in Wechselwirkung getreten: Wer komplexe Zusammenhänge lernen und sozial mit anderen interagieren will, braucht dafür ein großes Gehirn. Umgekehrt braucht ein großes Gehirn viel Energie und ausreichend Zeit, um mit Wissen befüllt zu werden. Anders als beispielsweise Muskelgewebe kann ein Gehirn sich in schlechten Zeiten nicht zurückbilden, um Energie zu sparen. Es braucht konstante Versorgung, auch wenn es noch nicht ausgereift und ohne Hilfe der Eltern überlebensfähig ist.
Es ist die Verbindung der einzelnen Hirne, die den Ausschlag gibt – und das gilt nicht nur für die moderne Welt, sondern war schon immer so.Wolfgang Enard
Mit anderen Worten: Je größer und komplexer das Hirn eines Kindes, desto mehr Aufwand ist nötig, um es erfolgreich großzuziehen. Ein kultureller Faktor, der hier zum Tragen kommt, war es, die Last auf mehrere Schultern zu verteilen. Großeltern und andere Verwandte halfen mit, die konstante Energiezufuhr für das sich entwickelnde Gehirn des Kindes zu stemmen. Das ermöglichte mehr Freiraum für ein noch größeres Gehirn. Das große Gehirn und unser komplexer werdendes Sozialverhalten haben sich also in einer Positiv-Schleife gegenseitig verstärkt. Das hat sich die Evolution fein ausgedacht für uns. Hat sie aber nicht.
Denn Evolution denkt nicht. Und sie plant auch nicht im Voraus: „Das berühmte Bild vom Affen, der sich allmählich zum modernen Menschen aufrichtet – der kontinuierliche Aufstieg des Menschen – ist eines der ikonischen und gleichzeitig verwirrendsten Bilder der Wissenschaftsgeschichte.“ Enard meint den March of Progress – jene weltbekannte Illustration der menschlichen Evolution, die inzwischen in allen möglichen Variationen Tassen und T-Shirts ziert.
„Die Idee, Evolution sei Fortschritt, ist weit verbreitet, aber, wie die meisten Fortschrittsgeschichten schlichtweg falsch.“ Die Evolution habe nie entschieden, die Gehirne entlang unserer Ahnenlinie immer größer zu machen, um sie im Menschen schlussendlich zur Vollendung zu bringen. Ob Gehirne größer oder anderweitig verändert werden, wird mit jeder Generation zwischen einer Art und ihrer Umwelt neu ausgehandelt. Und ob der Mensch mit seinem großen, komplexen Gehirn langfristig erfolgreich ist, wird sich zeigen.
Tatsächlich ändern sich Gehirngrößen ständig im Stammbaum des Lebens. Überdurchschnittlich große Gehirne haben sich nicht nur beim Menschen entwickelt, sondern auch bei anderen Tiergruppen – bei Delfinen zum Beispiel. Indem wir uns mit solchen Arten vergleichen – genauso wie mit unseren nächsten Verwandten – können wir versuchen, generell zu verstehen, wie die Evolution größere Gehirne hervorbringt. Genau das ist auch eine der Fragen, denen Enard in seiner Forschung nachgeht.
Heute können wir evolutionäre Muster in einem breiteren Kontext untersuchen. Statt nur einen Zweig, können wir ganze Äste und den gesamten Baum des Lebens betrachten.Wolfgang Enard
Solche vergleichenden Ansätze sind inzwischen, dank modernster DNA-Sequenzierungstechnologie, möglich. Die Entwicklung des Gehirns setzt sich aus unzähligen kleinen genetischen Puzzleteilen zusammen. Hat man ein solches identifiziert, zum Beispiel indem man die Wirkung einer bestimmten genetischen Veränderung an Labormäusen testet, stellt sich als nächstes die Frage: Hat sich dieses Gen auch tatsächlich im Laufe der Evolution verändert? Findet sich eine bestimmte Genveränderung entlang der Stammeslinie der Primaten? Hat der Delfin für sein Gehirn dieselbe Mutation entwickelt, oder eine andere Lösung gefunden?
„Mit der zusätzlichen Dimension der Phylogenie und dank moderner Genomik haben wir heute die Möglichkeit, evolutionäre Muster in einem breiteren Kontext zu untersuchen.“ Für Enard ist dieser Blick in die Breite revolutionär. „Statt nur einen Zweig, können wir ganze Äste und den gesamten Baum des Lebens betrachten.“
Inzwischen ist eines ziemlich klar: Dass die Gemeinsamkeiten die Unterschiede deutlich überwiegen. Sämtliche Lebewesen auf dem Planeten Erde bilden eine große bunte Familie. „Die vielleicht überraschendste Erkenntnis der Biologie der letzten 50 Jahre ist, wie ähnlich wir uns letztlich alle sind.“ Grundlegende molekulare Prozesse und Entwicklungsmechanismen sind bei den meisten Organismen nahezu identisch. Nur deswegen können Forschende Mäuse und Fliegen als Modellorganismen für den Menschen verwenden.
Wir sind uns ähnlicher als wir manchmal wahrhaben wollen.Wolfgang Enard
Anstatt nur die Gensequenzen verschiedener Arten nebeneinanderzulegen und zu vergleichen, untersucht der LMU-Biologe aktuell, wie die Gene jeweils reguliert werden. Konkret: Wie sich Stammzellen in Nervenzellen verwandeln – ein Prozess, der bei allen Säugetieren im Zuge der Gehirnentwicklung passiert. „Wir suchen nach Gruppen von Genen, die in allen Arten gleich reguliert werden, denn diese sind wahrscheinlich funktionell relevant.“ Unterschiede in der Genregulation könnten hingegen auf artspezifische Anpassungen hindeuten. Enards Team nutzt dafür sogenannte induzierte pluripotente Stammzellen, die es erlauben, diese Prozesse, kostengünstig und ohne Tierleid, in der Petrischale zu simulieren.
Eine Herausforderung ist jedoch die Beschaffung der Proben: Die aktuellen Hauptspender für die Stammzellen sind Zootiere. „Wir haben überlegt, es mit Haarwurzeln zu versuchen“, erinnert sich Enard, „aber Gorillas sind nicht gerade begeistert, wenn man ihnen Haare ausreißt.“ Sein Team fand schließlich eine andere, völlig nichtinvasive Alternative – und auf die ist Enard stolz: „Wir haben eine Methode entwickelt, mit der man aus dem Urin von Zootieren Stammzellen gewinnen kann.“ Der Affen-Harn lässt sich problemlos vom Gehege-Boden sammeln und die Zellen, die die Forschenden daraus gewinnen, lassen sich erstaunlich gut reprogrammieren. So werden sie im Reagenzglas zu neuronalen Vorläuferzellen, die sich dann zu Gehirnzellen weiterentwickeln.
Natürlich ist die Gehirngröße allein nicht der einzige Faktor, der bei der Menschwerdung eine zentrale Rolle gespielt hat. Schließlich liegt der eigentliche Knackpunkt darin, die einzelnen Hirne miteinander zu vernetzen. Unsere Spezies hat diese Aufgabe gelöst, indem sie die Sprache hervorgebracht hat. Auch ihre Entwicklung setzt sich aus kulturellen und physischen Bausteinen zusammen. Schließlich braucht die kulturell errungene Software „Sprache“ eine biologisch passende Hardware, die sie lernen und erzeugen kann.
Wir suchen nach Gruppen von Genen, die in allen Arten gleich reguliert werden, denn diese sind wahrscheinlich funktionell relevant.Wolfgang Enard
Die körperliche Fähigkeit zu sprechen fußt auf genetischen und anatomischen Grundlagen – Sprachzentren im Hirn, die so mit dem entsprechend geformten Sprechapparat so verbunden sind, dass dieser bewusst genutzt werden kann. Eine Vielzahl von Genen trägt dazu bei, dass das funktioniert. Enard hat zum Beispiel den für das menschliche Sprechen essenziellen Transkriptionsfaktor FOXP2 untersucht. Das Gen, das für FOXP2 kodiert, besitzen fast alle Tiere – auch Mäuse, Singvögel und Schimpansen.
Labormäuse mit der menschlichen Variante von FOXP2 fangen zwar nicht an zu sprechen, zeigen aber auffällige neuronale Veränderungen, die mit dem Belohnungssystem zusammenhängen. Wieder kann verglichen werden: Welche Mutationen besitzt der sprechende Mensch, der nicht-sprechende Menschenaffe aber nicht? Und haben Singvögel für ihren komplexen Gesang dieselben oder andere Lösungen gefunden?
Die Biologie ist mittlerweile also recht gut darin, die Spuren der Evolution zu verfolgen und zu untersuchen, wie bestimmte Merkmale sich entwickeln. Das Warum ist eine andere Frage. Sie kann in der Regel nur rückblickend beantwortet werden, indem Forschende plausible Hypothesen über Selektions- und Umweltbedingungen der Vergangenheit aufstellen.
Inzwischen schafft sich der Mensch im Zuge der kulturellen Evolution selbst immer neue Umweltbedingungen – und zwar in einem Tempo, bei dem die genetische Anpassung nicht mehr hinterherkommt. Da ist es nicht verwunderlich, wenn manche Gen-Relikte, die früher einmal von Vorteil waren, nicht mehr zu dem modernen Lebensstil passen. In solchen Fällen spricht der Evolutionsanthropologe Enard von sogenannten Missmatches.
Die Idee, Evolution sei Fortschritt, ist weit verbreitet, aber, wie die meisten Fortschrittsgeschichten schlichtweg falsch.Wolfgang Enard
„Ein einfaches Beispiel ist unser genetisch programmierter Heißhunger auf Zucker“, so der LMU-Forscher. „Über Millionen Jahre der Evolution waren leicht verfügbare Energiequelle für unsere jagenden und sammelnden Vorfahren selten und äußerst wertvoll. Heute bewegen wir uns viel weniger und Zucker ist auf einmal im Überfluss verfügbar – unser genetisches Make-up passt nicht mehr zu den Umständen.“ Unsere Körper passen also nicht zu der Welt, in der wir leben. Aber wir können nicht zurück. Wir müssen lernen, mit den Gegebenheiten umzugehen, die wir uns selbst geschaffen haben.
Prof. Dr. Wolfgang Enard ist Inhaber des Lehrstuhls für Anthropologie und Humangenomik. Vor seiner Zeit an der LMU promovierte er am Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie unter dem späteren Nobelpreisträger Svante Pääbo und leitete dort im Anschluss eine Forschungsgruppe.
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