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Klimawandel verstehen

04.11.2022

Forschende verschiedener Disziplinen erklären Begriffe der aktuellen Klimadebatte – von der Artenverschiebung bis zu Planetary Health.

Was genau passiert bei der CDR-Methode? Warum sprechen alle von einer Energiewende? Und wie funktioniert Klima-Monitoring? Expertinnen und Experten der LMU erläutern Fachbegriffe, die inzwischen häufig in Medien zu lesen und zu hören sind.

Low water on the banks of the Rhine near Biblis-Nordheim

Klimawandel: Extremwetter-Ereignisse nehmen zu

Niedrigwasser am Rheinufer bei Biblis-Nordheim (Hessen) im Herbst 2022.

© picture alliance / Promediafoto | Michael Deines/PROMEDIAFOTO

Artenverschiebung

Porträtfoto der LMU-Professorin Gudrun Kadereit in einem der Gewächshäuser des Botanischen Gartens in München.

Prof. Gudrun Kadereit

beschäftigt sich in ihrer Forschung mit der Systematik von Pflanzen, Biodiversität und Evolution. | © LMU

„Zu einem gegebenen Zeitpunkt kann man in einem definierten Gebiet, ob an Land oder im Wasser, einen Bestand an biologischen Arten, also Tier-, Pflanzen-, Pilz-, Bakterienarten usw., feststellen. Im Laufe der Zeit kann sich dieser Artenbestand verändern: Es können Arten aus dem Gebiet verschwinden und neue Arten hinzukommen, aber auch die Häufigkeit von Arten kann sich verändern – seltene Arten werden noch seltener und häufige Arten werden noch häufiger. Solche Veränderungen des Artenbestands eines Gebiets im Laufe der Zeit werden als Artenverschiebung (oder auch Artenwechsel) bezeichnet. Da auch unter vom Menschen unbeeinflussten Umständen Umweltverhältnisse nie dauerhaft stabil sind, ist Artenverschiebung auch ein natürlicher Prozess. Allerdings hat sich Artenverschiebung durch den Einfluss des Menschen ohne Frage extrem beschleunigt und auch verändert. Die Veränderung der Lebensbedingungen in einem Gebiet, zum Beispiel durch veränderte Landnutzung, führt dazu, dass manche Arten seltener werden oder gar aussterben, während andere Arten häufiger werden. Die Klimaerwärmung hat zur Folge, dass sich die Verbreitungsgebiete von Arten (auf der Nordhalbkugel) nach Norden oder im Gebirge in größere Höhen verschieben. Der Grund dafür ist, dass Arten den ihnen geeigneten Bedingungen ‚folgen'. Damit verschwinden sie aus einem Gebiet und kommen in einem anderen Gebiet neu hinzu.

Zum Einfluss des Menschen gehört aber auch, dass er, gewollt oder ungewollt, Arten weltweit ausbreitet und damit Arten, die eventuell sogar von einem anderen Kontinent stammen, in einem Gebiet neu auftreten können. Da Arten auf unterschiedlichste Art und Weise voneinander abhängen, wie zum Beispiel eine Blütenpflanze von ihrem Bestäuber, hat die Veränderung der Verbreitung einer Art immer auch Folgen für die Verbreitung anderer Arten.“

Prof. Dr. Gudrun Kadereit ist Inhaberin des Prinzessin Therese von Bayern-Lehrstuhls für Systematik, Biodiversität & Evolution der Pflanzen und Direktorin des Botanischen Gartens und der Botanischen Staatssammlung München.

Prof. Gudrun Kadereit im Porträt : Am Bestimmungsort

Carbon Dioxide Removal

Porträtaufnahme von Julia Pongratz, Inhaberin des Lehrstuhls für Physische Geographie und Landnutzungssysteme an der LMU

Prof. Julia Pongratz

berechnet mit Klimamodellen, wie viel Kohlendioxid durch die Landnutzung entsteht. | © LMU

„Auf der 27. UN-Klimakonferenz wird es darum gehen, wie man den Ausstieg aus Kohle, Gas und Öl sowie den Stopp der Entwaldung umsetzen kann – die Einsparungen werden aber nicht ausreichen, um die weltweiten Emissionen bis 2050 auf ‚Nettonull‘ zu senken. Manche Emissionen lassen sich auch nur schwer vermeiden, wie Methan aus der Rinderzucht. Deshalb werden wir auch Methoden brauchen, die der Atmosphäre Kohlendioxid entziehen – das sogenannte Carbon Dioxide Removal (CDR).

Dafür gibt es viele Möglichkeiten: Bei Aufforstung oder Agroforstwirtschaft nehmen Bäume durch die Photosynthese CO2 auf. Auch chemische Filter können Kohlendioxid aus der Luft entfernen, direkt aus der Atmosphäre oder im Anschluss an die Verbrennung von Bioenergie. So kann man es in Produkten dauerhaft binden oder in geologischen Speichern lagern. Wenn wir unsere Klimaziele erreichen wollen, müssen wir dringend diese Optionen erforschen.

In unserem vom BMBF geförderten Forschungsprogramm CDRterra untersuchen wir die Machbarkeit und Risiken von CO2-Entnahmemethoden an Land, auch als Grundlage für politische Entscheidungen. Das darf uns aber nicht von unserer wichtigsten Aufgabe abbringen: jetzt die Emissionen drastisch zu reduzieren.“

Prof. Dr. Julia Pongratz ist Inhaberin des Lehrstuhls für Physische Geographie und Landnutzungssysteme am Department für Geographie der LMU.

Aktuelle Ergebnisse des Global Carbon Projekts: Kohlendioxid-Emissionen steigen weiter

Mehr zur Forschung von Prof. Julia Pongratz zur Landnutzung: Ackern für den Klimaschutz

Effiziente Landnutzung

Julia Schneider und Florian Zabel

Julia Schneider und Florian Zabel

erforschen, welche Effekte der Klimawandel auf die Welternährung hat. | © LMU / v.zign

„Während im 18. Jahrhundert weltweit noch 80% der nutzbaren Landfläche mit unberührter Primärvegetation bedeckt war, sind es heute nur noch 30%. Dieser Rückgang wurde vor allem durch die Ausweitung der landwirtschaftlichen Anbaufläche verursacht, die heute in etwa 50% der global nutzbaren Landfläche beansprucht.

Diese großflächigen Landnutzungsänderungen wirken sich stark auf unsere Umwelt aus. Sie tragen unter anderem substanziell zum Klimawandel bei und führen zu einem Rückgang der Biodiversität.

Die Nachfrage nach landwirtschaftlichen Produkten, wie Nahrungs- und Futtermittel, steigt unter anderem durch eine wachsende Weltbevölkerung, sich ändernde Ernährungsgewohnheiten und einen zunehmenden Bedarf an Bioenergie. Um diese steigende Nachfrage zu bedienen und Ernährungssicherung zu gewährleisten, müsste die landwirtschaftliche Produktion bis 2050 verdoppelt werden. Eine weitere Ausweitung der landwirtschaftlichen Flächen steht jedoch in Konflikt mit dem Schutz von Biodiversität und Klima, weshalb ein effizienterer Umgang mit der limitierten Ressource Land vor allem in der Landwirtschaft wichtig wäre. Dies könnte durch eine nachhaltige Intensivierung erreicht werden, in der landwirtschaftliche Erträge durch eine optimierte Bewirtschaftung, zum Beispiel durch verbessertes Saatgut, zielgerichtete Düngung sowie Schädlings- und Krankheitsbekämpfung gesteigert werden könnten.

Eine Studie der LMU zeigte, dass auf diese Weise bis zu 50% der globalen Ackerfläche eingespart werden könnte. Diese Flächen könnten zum Beispiel zur Aufforstung oder für die Errichtung von Schutzgebieten verwendet werden.“

Julia Schneider und Dr. Florian Zabel arbeiten am Lehrstuhl für Physische Geographie und Nexusforschung der LMU.


Emissionshandel

Prof. Dr. Klaus M. Schmidt

Prof. Dr. Klaus M. Schmidt

beschäftigt sich mit Klimaschutz aus volkswirtschaftlicher Perspektive.

„Das wichtigste Instrument zur Verringerung der CO2-Emissionen ist die CO2-Bepreisung. Je höher der Preis, der für den Ausstoß von CO2 bezahlt werden muss, umso mehr werden sich Konsumenten und Unternehmen anstrengen, diese Verschmutzung zu vermeiden. Aber wie hoch muss der CO2-Preis sein, um die Klimaziele zu erreichen? Das kann nur der Markt herausfinden. In der EU ist dafür ein eigener Markt geschaffen worden, auf dem Emissionsrechte in Form von Zertifikaten gehandelt werden: das europäische ‚Emissions Trading System‘ (EU-ETS).

Das EU-ETS deckt den gesamten Bereich der Stromerzeugung und der energieintensiven Industrie ab, fast 40 Prozent der europäischen Emissionen. Jedes Elektrizitäts- oder Stahlwerk muss für jede Tonne ausgestoßenes CO2 ein Emissionszertifikat erwerben. Die EU legt die Verschmutzungsmenge durch die Menge der ausgegebenen Zertifikate fest, die entweder versteigert oder frei zugeteilt werden. Im Emissionshandel stellt sich der CO2-Preis so ein, dass genau die Menge an CO2 ausgestoßen wird, die durch das Angebot an Zertifikaten vorgegeben wurde. Der Emissionshandel führt dazu, dass die CO2-Reduktion zu den geringstmöglichen Kosten erfolgt: CO2 wird immer dann eingespart, wenn die Einsparung billiger ist als der CO2-Preis, während verschmutzt wird, wenn die Kosten der CO2-Vermeidung höher sind als der Preis.

Seit Einführung des EU-ETS im Jahr 2005 sind die ETS-Emissionen europaweit um 43% gefallen, obwohl der CO2-Preis mit weniger als 20 Euro pro Tonne relativ niedrig war. 2019 wurde das Tempo beschleunigt. Jetzt wird das Angebot an Zertifikaten um jährlich 2,2 Prozent gesenkt, wodurch der Preis auf 80-90 Euro gestiegen ist. In der EU wird über einen zusätzlichen Emissionsmarkt für die Sektoren Gebäude und Verkehr noch diskutiert. In Deutschland wurde er 2021 schon eingeführt.“

Prof. Dr. Klaus M. Schmidt ist Inhaber des Lehrstuhls für Wirtschaftstheorie an der LMU und Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz.

Energiewende

Prof. Karen Pittel steht neben einem Fenster und lächelt in die Kamera.

Prof. Karen Pittel

forscht darüber, wie sich wirtschaftliche Entwicklung nachhaltig gestalten lässt. | © ifo Institut

„Als Energiewende werden grundsätzliche Veränderungen in der Energieversorgung bezeichnet. So stellt beispielsweise der Übergang zur Nutzung von Kohle, Erdgas und Erdöl im Verlauf der industriellen Revolution ein historisches Beispiel für eine Energiewende dar.

Seit dem Beginn dieses Jahrtausends wird der Begriff Energiewende allerdings vor allem mit dem Ausstieg aus der Nutzung fossiler Energieträger hin zu einer rein auf erneuerbaren Energien beruhenden, nachhaltigen Energieversorgung assoziiert. Die Energiewende ist dabei eng mit dem Ziel des Klimaschutzes verbunden und soll die Emission an CO2 und anderen Treibhausgasen reduzieren.

Darüber hinaus werden mit dem Begriff häufig weitere Zielsetzungen wie die Dezentralisierung der Energieversorgung und die Minderung anderer Externalitäten aus der Verbrennung fossiler Energieträger verbunden. In Deutschland erlangte der Begriff insbesondere nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima an Prominenz. Dabei lag die Aufmerksamkeit zunächst auf dem Ausstieg aus Kohle, Erdgas und Kernenergie in der Stromerzeugung zugunsten eines Ausbaus von Wind- und Solarenergie. Da zur Erreichung der Klimaziele aber ein umfassender Ausstieg aus der Nutzung fossiler Energieträger unabdingbar ist, wird der Begriff heute für die Transformation des gesamten Energiesystems – also auch Transport und Wärmeerzeugung – verwendet.“

Prof. Dr. Karen Pittel ist Inhaberin des Lehrstuhls für Volkswirtschaftslehre, insb. Energie, Klima und erschöpfbare natürliche Ressourcen sowie ifo Zentrumsleiterin Energie, Klima und Ressourcen.

Extremwetter

Porträtaufnahme von Prof. Dr. Ralf Ludwig

Prof. Ralf Ludwig

leitete ein EU-Projekt, in dessen Rahmen Strategien für Klimaresilienz erarbeitet werden. | © LMU

„Die eine, allgemeingültige Definition von ‚Extremwetter‘ gibt es nicht; sie ist jeweils vom Kontext des Ereignisses oder aber von der Sicht aus unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen geprägt. Im einfachen Fall wird Extremwetter als ein mit Wetterbedingungen wie Hitze, Sturm oder Starkniederschlag verbundenes Ereignis beschrieben, das am gegebenen Ort und zur gegebenen Jahreszeit selten ist beziehungsweise extreme Werte aufweist.

In statistischem Sinne wird ein extremes Wetter- (oder Klima-)Ereignis als das Auftreten eines Werts einer Wettervariablen über (oder unter) einem Schwellenwert des oberen (oder unteren) Endes der Verteilung von langfristig beobachteten Werten dieser Variable definiert. Häufig findet man hierbei Zuordnungen wie zum Beispiel „unterhalb des 3.“ oder „oberhalb des 97. Perzentils“ einer solchen Verteilung.

Bei integrativer Betrachtung können Extremwetterereignisse Vorkommnisse ungewöhnlich schwerer Wetter- oder Klimabedingungen sein, die verheerende Auswirkungen auf die Gesellschaft und/oder natürliche Ökosysteme haben können. Dabei ist zu differenzieren zwischen wetterbedingten Extremereignissen, die von kurzer Dauer sind (wie zum Beispiel Hitzewellen, Frost, schwere Regengüsse, Tornados, tropische Wirbelstürme), und klimabedingten Extremereignissen, die durch langfristige Anomalien oder eine Häufung von Wetterereignissen charakterisiert sind. Beispiele hierfür sind Dürren oder lang andauernde Überschwemmungen, die unterschiedliche auslösende Faktoren aufweisen können.

In einer weiter reichenden Definition können Klimaextreme das Ergebnis einer Häufung von Wetter- oder Klimaereignissen sein, die einzeln nicht extrem sind, aber dennoch zu extremen Bedingungen oder Auswirkungen führen, entweder durch Überschreiten einer kritischen Schwelle in einem sozialen, ökologischen oder physikalischen System oder durch gleichzeitiges Auftreten mit anderen Ereignissen.“

Prof. Dr. Ralf Ludwig ist Professor am Department für Geographie der LMU.

Klimamonitoring

Prof. Bernhard Mayer

Prof. Bernhard Mayer

arbeitet in seiner Forschung experimentell und mit komplexen Modellen. | © v.zign

„Unter Klimamonitoring beziehungsweise Klimaüberwachung versteht man regelmäßige, kontinuierliche Messungen mit dem Ziel, den Zustand beziehungsweise Änderungen des Klimasystems zu bestimmen. Dabei sind zum einen Größen wie Temperatur, Niederschlag oder der Meeresspiegel von Interesse, die sich in den vergangenen Jahrzehnten nachweislich aufgrund von anthropogener Aktivität systematisch geändert haben. Zum anderen versucht man, diejenigen atmosphärischen Komponenten zu quantifizieren und besser zu verstehen, welche am meisten zu den beobachteten Temperatur- und Meeresspiegeländerungen beitragen. Das sind neben den bekannten Treibhausgasen CO2 und Methan, der solaren und thermischen Strahlung vor allem auch Wolken und Aerosolpartikel.

Die notwendigen Beobachtungen werden mit Messstationen am Boden und mit Sensoren auf Satelliten gesammelt. Während im Bereich der Treibhausgase und der Strahlung längst etablierte Prozeduren zur Sicherung der Qualität der Daten bestehen (Global Climate Observing System, GCOS), wird gerade im Moment eine vereinheitlichte europäische Forschungsinfrastruktur für Wolken, Aerosol und kurzlebige atmosphärische Spurengase (ACTRIS) aufgebaut.

Die LMU ist mit ihrer Station im Zentrum von München wichtiger Partner in ACTRIS und baut die Messungen von Wolken, Niederschlag und Aerosolpartikeln in den kommenden Jahren systematisch weiter aus.“

Prof. Dr. Bernhard Mayer ist Inhaber des Lehrstuhls für Experimentelle Meteorologie.

Klimaresilienz und -anpassung

Prof. Dr. Matthias Garschagen ist Geographieprofessor an der LMU.

Prof. Matthias Garschagen

forscht über gesellschaftliche Resilienz angesichts des Klimawandels | © LMU

„Die Auswirkungen des Klimawandels sind bereits heute deutlich und werden uns in Zukunft verstärkt treffen. Zu den wichtigsten Veränderungen zählt vielerorts eine prognostizierte Zunahme in der Häufigkeit und Intensität beispielsweise von Hitzeperioden, Dürren, Hochwasserereignissen und Stürmen. Gesellschaften müssen sich daher verstärkt an diese Auswirkungen anpassen und ihre Resilienz erhöhen – was ihnen bislang nicht leichtfällt, wie die hohen wirtschaftlichen und sozialen Schäden aus den Extremereignissen der letzten Jahre leider deutlich zeigen. Die Forschung beschäftigt sich daher zunehmend damit, wie Klimawandelanpassung und Resilienz gestärkt werden können. Jüngere Erkenntnisse leisten einen Beitrag, die politische Entscheidungsfindung für wichtige Weichenstellungen zu unterstützen – auch in den nächsten Tagen auf der COP27 in Ägypten.

Der Resilienzbegriff beinhaltet im Kontext des Klimawandels im Wesentlichen drei Punkte: Erstens gilt es anzuerkennen, dass Extreme und Krisen zunehmend zum „Normalzustand“ dazugehören und dass Gesellschaften und Ökosysteme lernen müssen, hiermit umzugehen. Ein Festhalten an den vermeintlichen Normal- und Stabilitätszuständen der Vergangenheit beispielsweise in der Raumplanung oder der Katastrophenvorsorge führt unweigerlich zu falschen Schlüssen und erhöht letztlich das langfristige Risiko. Zweitens muss die Fähigkeit von Gesellschaften und Ökosystemen gestärkt werden, Extremen und Krisen standzuhalten und sich nach solchen Ereignissen rasch und umfassend zu erholen. Dabei liegt ein besonderes Augenmerk stets auf der Identifizierung und Priorisierung von Schlüsselfunktionen in Systemen, beispielsweise kritischen Infrastrukturen wie Krankenhäusern oder Knotenpunkten der Stromversorgung in Städten. Drittens – und vielleicht für Gesellschaften bislang am schwierigsten – muss die Fähigkeit gestärkt werden, aus Krisen zu lernen und notwendige Systemveränderungen zur erfolgreichen, langfristigen Anpassung herbeizuführen. Gibt es beispielsweise Siedlungen und Infrastrukturen in Küstenräumen oder Hochwassergebieten, die den zukünftig zu erwartenden Naturgefahren derart stark ausgesetzt sind, dass sie in vorausschauender Weise rückgebaut und umgesiedelt werden sollten, trotz aller damit verbundenen sozialen, ökonomischen und kulturellen Probleme?

All diese Bereiche stellen für die Politik und Praxis – und für die gesellschaftliche Debatte insgesamt – immense Herausforderungen dar. Laufende Forschung, zum Beispiel auch im Rahmen internationaler BMBF- und ERC-Projekte an der LMU, liefert wichtige Erkenntnisse zum Umgang mit diesen Herausforderungen. So untersuchen wir beispielsweise, wo ambitionierte, aber zugleich realisierbare und konkrete Zielwerte der Anpassung liegen können, wie Zielkonflikte abgewogen und Sackgassen in regionalen Anpassungsprozessen vermieden werden können.“

Prof. Dr. Matthias Garschagen ist Inhaber der Lehrstuhls für Anthropogeographie mit dem Schwerpunkt Mensch-Umwelt-Beziehungen und Leitautor im verschiedenen Berichten des Weltklimarates (IPCC)

Ökologische Transformation des Rechts

Prof. Jens Kersten

Prof. Jens Kersten

fordert ein „ökologisches Grundgesetz“. | © Oliver Jung/LMU

„Der liberale Verfassungsstaat ist Ausdruck der bürgerlichen Revolution des 18. Jahrhunderts, der sich infolge der industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts im 20. Jahrhundert zu einem demokratischen Wohlfahrtsstaat entwickelt hat. Diese Entwicklung ging und geht auf Kosten der Natur, sodass angesichts von Artensterben, Klimakatastrophe und Globalvermüllung eine ökologische Revolution unserer Rechts- und Verfassungsordnung notwendig ist.

Dafür können wir das ökologische Verantwortungsprinzip im Grundgesetz entfalten, indem wir zum einen ökologische Rechte des Menschen und der Natur anerkennen. Zum anderen müssen wir vor allem wirtschaftliche Grundrechte effektiv einschränken, um das ökologische Allgemeinwohl zu gewährleisten. Auf diese Weise kommt vor allem der ökologischen Transformation des Eigentumsrechts zentrale Bedeutung in unserer kapitalistischen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung zu.

Aber auch im Staatsorganisationsrecht ist ein ökologischer Neuansatz notwendig: Die Ökologie muss neben der Demokratie sowie dem Rechts-, Sozial- und Bundesstaat zu einem zentralen Staatsprinzip werden. Um das ökologische Staatsprinzip einzulösen, erhalten alle Bundesorgane ökologische Funktionen. Beispiele hierfür sind die ökologischen Haushaltsberatungen des Bundestags und die ökologischen Richtlinien der Politik, die von der Bundesregierung verfolgt werden.“

Professor Jens Kersten ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht und Verwaltungswissenschaften an der LMU.

Interview mit Jens Kersten: „Ich würde der Natur Grundrechte geben“

Planetary Health

Dr. Bernhard Goodwin

blickt auf den Zusammenhang zwischen dem Zustand von Ökosystemen und der Gesundheit des Menschen. | © David-Pierce Brill

„Es gibt vielfältige Debatten über den Zustand unserer Ökosysteme und Gesellschaften, von Menschen und anderen Organismen, über die Frage, wie wir auf unserem Planeten nachhaltig gut leben können und wie wir von unserem aktuellen Kurs in eine gefährliche Zukunft herunterkommen.
Innerhalb dieser Diskurse taucht nun immer wieder der Begriff Planetary Health auf. Er bezeichnet die vielfältigen Zusammenhänge zwischen den Ökosystemen und individueller sowie kollektiver Gesundheit: Wie wirken sich häufigere und intensivere Hitzewellen auf unsere physische Konstitution und unsere seelische Gesundheit aus? Wie gehen wir damit um, dass ein verändertes Klima die Pollenflugsaison verlängert und die Lebensräume für Insekten vergrößert, die tropische Krankheiten verbreiten? Wie können wir unsere Gesundheit erhalten, ohne dabei den Planeten zu zerstören?

Das transdisziplinäre Feld Planetary Health umfasst Forschung in verschiedenen Fächern: Medizin, Public Health, Geografie, Biologie, aber ebenso die Sozialwissenschaften. Auch geisteswissenschaftliche Fragestellungen werden behandelt: Welchen Einfluss hatten Gesundheitskrisen auf die historische Entwicklung? Was ist Gesundheit überhaupt? Was ist Wohlstand? Verstehen wir den unmittelbaren Einfluss der Klimaerhitzung besser, wenn wir uns bewusst machen, dass sie direkt in unsere Körperlichkeit hineinwirkt? Verpflichtet uns dieses Verständnis moralisch zum Handeln?

So wirken die Gedanken und Akteure im Bereich Planetary Health auch in die Gesellschaft hinein. Das Feld ist vielfältig: Grundlagenwissenschaft und Aktivismus, angewandte Forschung und Wissenschaftskommunikation. Nicht zuletzt sind da diejenigen, die auch das Feld selbst betrachten und damit auch eine Reflexion darüber ermöglichen, welche Grenzen nicht verwischt werden sollen und wie Wissenschaft in einer pluralen Demokratie Verantwortung (nicht: Herrschaft) übernimmt.“

Dr. Bernhard Goodwin ist Executive Director des Munich Science Communication Lab und Leiter der Departmentgeschäftsstelle des Instituts für Kommunikationswissenschaft der LMU.

Themenschwerpunkt: Forschung zum Klimawandel

LMU-Forschende beim UN-Klimagipfel

Professor Matthias Garschagen und Professorin Julia Pongratz sind bei verschiedenen Events auf dem UN-Klimagipfel mit ihrer Expertise gefragt:

Am Montag, 14. November 2022, spricht Prof. Matthias Garschagen zum Thema "Knowledge for sustainable and resilient cities in times of climate change: Latest findings and persisting needs"

German Pavilion: zum Programm


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