Mit Lern-Apps Bildungschancen verbessern
13.01.2025
LMU-Psychologe Frank Niklas hat untersucht, wie Kinder noch vor ihrer Schulzeit spielerisch ihre mathematischen und schriftsprachlichen Kompetenzen trainieren können.
13.01.2025
LMU-Psychologe Frank Niklas hat untersucht, wie Kinder noch vor ihrer Schulzeit spielerisch ihre mathematischen und schriftsprachlichen Kompetenzen trainieren können.
Frank Niklas ist Professor für Pädagogische Psychologie und Familienforschung an der LMU. Im Rahmen des ERC-Projekts „Learning4Kids“ hat der LMU-Forscher mit seinem Team untersucht, was Lern-Apps bringen, um Kinder auf die Schule vorzubereiten. Dafür hat er mit seinem Team erst einmal passende Spiele entwickelt. Zeit für eine Bilanz nach vier Jahren Forschung:
Kinder starten ungleich ins Schulleben. Die einen bringen viele Kompetenzen mit, können vielleicht schon lesen, andere haben keine Bücher zuhause. Wie lässt sich da mehr Chancengleichheit erreichen?
Frank Niklas: Das ist ein zentrales Problem. Wir werden es nicht komplett abschaffen können, dass Kinder mit unterschiedlichen Voraussetzungen in die Schule starten. Der Ansatz unserer Arbeitsgruppe ist es, diese Unterschiede möglichst gering zu halten und Kinder schon vor der Einschulung auf ein ähnliches Niveau zu bringen. Je früher man Kinder unterstützt, umso besser sind die Chancen, positive Effekte zu erzielen. James Heckman hat das aus einer ökonomischen Perspektive betrachtet und den Nobelpreis bekommen, weil er zeigen konnte: Je früher Interventionsmaßnahmen ansetzen, desto effektiver sind sie.
Sie haben versucht, die Startchancen von Kindern zu verbessern, indem Sie Lern-Apps einsetzen. Warum gerade Apps?
Die Frage für uns ist immer: Wie lassen sich möglichst viele Personen und vor allem diejenigen Familien erreichen, die eben nicht die besten Ressourcen haben, die bestimmte Angebote gar nicht kennen, weil es zum Beispiel kulturelle oder finanzielle Barrieren gibt. Neue Medien sind dafür eine sehr gute Möglichkeit, weil wir mittlerweile in einer Gesellschaft leben, in der sie von der frühen Kindheit an bis ins hohe Erwachsenenalter weit verbreitet sind.
Es gibt mehr als 500.000 Lern-Apps in den App-Stores, die als „educational“ bezeichnet werden. Das Problem ist: Die meisten wurden nie evaluiert. Es gibt gute Apps. Aber es gibt auch eine ganze Reihe von Apps, die didaktisch falsch aufgebaut und fehlerhaft sind, die das Lernen sogar verhindern können.Frank Niklas , Professor für Pädagogische Psychologie und Familienforschung an der LMU
Warum haben Sie die Apps dafür extra selbst entwickelt?
Wir haben eigene Apps entwickelt, damit sie gewissen Standards entsprechen. Es gibt zwar zusammengenommen mehr als 500.000 Lern-Apps in den App-Stores, die als „educational“ bezeichnet werden. Das Problem ist aber: Die meisten davon wurden nie evaluiert. Ich war selbst in einem Gremium auf Initiative der Stiftung Lesen, das Lese-Apps analysierte, und weiß: Was man auf dem Markt findet, variiert ungemein. Es gibt gute Apps, die ich empfehlen würde. Aber es gibt auch eine ganze Reihe von Apps, die didaktisch falsch aufgebaut und fehlerhaft sind, die das Lernen nicht nur erschweren, sondern sogar verhindern können.
Viele Eltern sind überfordert zu entscheiden, welche Apps hier richtig sind. Da müsste es auf Dauer objektive und transparente Qualitätskriterien geben.
Worauf haben Sie bei Ihren eigenen Apps geachtet?
Wir haben uns an einer wegweisenden Studie von Hirsh-Pasek et al. orientiert und uns bemüht, vier darin entwickelte Kriterien zu berücksichtigen: Dazu gehört „active learning“. Das bedeutet, dass eine kognitive Anregung dabei ist. Der zweite Punkt ist „engaged learning“, das heißt: Die Kinder sollen sich auf den Lerngegenstand einlassen können und nicht abgelenkt werden. Ein typisches Problem bei Apps ist, dass ständig Figuren oder In-App-Werbung aufploppen oder plötzlich Musik kommt. Das lenkt alles vom Lernen ab. Das nächste Kriterium ist „meaningful learning“: Es sollte etwas sein, das die Kinder in ihrem Alltag abholt. Und schließlich, was am schwierigsten ist und bei Lern-Apps kaum erreicht wird: „social interactive learning“.
Denn am besten lernen Kinder, wenn sie nicht allein gelassen werden mit den Geräten, sondern wenn eine erwachsene Bezugsperson oder ältere Geschwister mit dabei sind.
Sie haben Ihre Apps in den letzten Jahren getestet. Wie sind Sie vorgegangen?
Bevor wir die Apps in unserer Studie eingesetzt haben, hatten wir die kindlichen Kompetenzen in den untersuchten Fähigkeiten gemessen. Wir hatten ein Vier-Gruppen-Design. Eine Gruppe hatte die Apps für Mathematik zuerst, die andere zuerst die für Schriftsprache. Die dritte hatte Lern-Apps, die eher allgemein Konzentration und Gedächtnis trainiert haben. Eine vierte Gruppe hatte gar keine Apps.
Die Kinder konnten dann ein knappes halbes Jahr frei zuhause in der Familie damit spielen. Wir haben Vorschläge mitgegeben, diese möglichst regelmäßig, eher kürzer und maximal 10 bis 15 Minuten täglich zu nutzen. Das wurde in den Familien sehr unterschiedlich umgesetzt. Manche Kinder haben die Apps fast gar nicht, andere deutlich mehr genutzt. Im Durchschnitt spielten sie 5 bis 6 Minuten täglich damit und wir haben die Nutzungszeiten ganz genau erfasst.
Die Kinder, die die unsere Lern-Apps zur Verfügung hatten, haben ihre Kompetenzen in dem jeweiligen Bereich deutlich verbessert und zwar auch unter Kontrolle von sozialem Status, Intelligenz, Migrationshintergrund, Alter und Geschlecht.Frank Niklas, Professor für Pädagogische Psychologie und Familienforschung an der LMU
Und was hat das gebracht?
Wir haben die Kompetenzen zu mehreren Zeitpunkten gemessen. Was sich gezeigt hat: Die Kinder, die die Apps zur Verfügung hatten, haben ihre Kompetenzen in dem jeweiligen Bereich deutlich verbessert und zwar auch unter Kontrolle von sozialem Status, Intelligenz, Migrationshintergrund, Alter und Geschlecht. Das haben wir für die Schriftsprache in noch stärkerem Ausmaß als in Mathematik gefunden. Was wir uns erhofft hatten, dass der Einsatz von hoch-qualitativen Lern-Apps sinnvoll wäre, hat sich hier also gezeigt.
Unser Studiendesign ging dann noch weiter: Nach knapp sechs Monaten stand ein weiterer Testzeitraum an, für den die Apps getauscht wurden. Wer zuvor die Mathe-Apps hatte, bekam nun die Schriftsprach-Apps und umgekehrt.
Was für uns spannend ist: Die Gruppe, die mit den Sprachförder-Apps begonnen hat, hat nach dem gesamten Zeitraum von über einem Jahr in beiden Bereichen signifikant besser abgeschnitten. Hingegen ist die Gruppe, die zuerst mit den Mathe-Apps gestartet war, im Bereich Mathematik wieder so stark abgefallen, als hätte sie nie die Apps gehabt.
Wie erklären Sie sich das?
Wir interpretieren die Ergebnisse so, dass es Sinn macht, erst mit einer Sprachförderung zu beginnen, bevor die mathematischen Inhalte trainiert werden. (Unsere Publikation dazu ist noch in der Pipeline und wird hoffentlich nächstes Jahr erscheinen.)
Haben Sie auch untersucht, wie sich die Eltern verhalten haben und welchen Einfluss das hatte?
Wir hatten gehofft, dass die Eltern mehr mit im Boot sind. Wir haben ihnen mitgegeben, dass sie sich möglichst mit den Kindern gemeinsam mit den Tablets beschäftigen sollten. In dieser Hinsicht ist unser Projekt leider gescheitert: Das, was häufig aus dem Alltag zu hören ist, dass Eltern ihren Kindern dann Medien geben, wenn sie etwas anderes erledigen müssen, hat sich auch für unsere Studie bestätigt. Und das war unabhängig vom Bildungshintergrund oder anderen Faktoren.
Unsere klare Empfehlung ist, ein Kind nicht mit Lern-Apps allein zu lassen. Viel sinnvoller ist es, selbst parat zu stehen und zu helfen und vielleicht auch die eine oder andere Zusatzinformation zu geben. Das ist Gold wert. Kinder schätzen es auch, wenn sich Eltern die Zeit dafür nehmen und mit dabei sind.Frank Niklas, Professor für Pädagogische Psychologie und Familienforschung an der LMU
Es wäre also besser, wenn sich Eltern auch mit den Lern-Apps ihrer Kinder beschäftigen?
Unsere klare Empfehlung ist, ein Kind nicht mit Lern-Apps allein zu lassen. Viel sinnvoller ist es, selbst parat zu stehen und zu helfen und vielleicht auch die eine oder andere Zusatzinformation zu geben. Das ist Gold wert. Kinder schätzen es auch, wenn sich Eltern die Zeit dafür nehmen und mit dabei sind.
Oft werde ich gefragt, ob digitale Medien schon im Kindergarten nötig sind. Die Frage ist sehr berechtigt. Auf gar keinen Fall darf das Digitale das Analoge nur ersetzen. Ich sehe Lern-Apps als weiteres Tool.Frank Niklas, Professor für Pädagogische Psychologie und Familienforschung an der LMU
Wie sinnvoll sind nun solche Interventionen wie Ihre, verglichen mit anderen Fördermaßnahmen?
Die Befunde, die wir haben, sind signifikant und bedeutsam. Aber es ist nicht so, dass die Kinder auf einmal doppelt so gut werden. Lern-Apps sind kleine Bausteine, die eine wichtige Rolle einnehmen können, weil wir mit den Apps alle Kinder erreichen können. Aber man darf nicht erwarten, dass sie ein Allheilmittel sind. Dazu gibt es zu viele Stellschrauben, die die kindliche Entwicklung beeinflussen.
Oft werde ich gefragt, ob digitale Medien schon im Kindergarten nötig sind. Die Frage ist sehr berechtigt. Auf gar keinen Fall darf das Digitale das Analoge nur ersetzen. Ich sehe Lern-Apps als weiteres Tool. Es gibt sehr gute Beispiele, wo Tablets bei Bedarf ergänzend genutzt werden. Das heißt aber überhaupt nicht, dass der gesamte Kita-Alltag komplett geändert werden sollte. Sich dem zu verweigern, halte ich aber auch für falsch. Es gibt in der EU ein Recht auf Bildung und Partizipation und auch schon junge Kinder haben dieses Recht. Wir wissen, unsere Welt wird digital bleiben. Es ist wichtig, Medienkompetenz frühzeitig aufzubauen. Gerade bei Kindern, die hier zu Hause wenig Kompetenz erfahren, weil Medien in ihrem Umfeld nur unreflektiert konsumiert werden, hat der Kindergarten schon einen ersten Bildungsauftrag.
Wenn Kinder zuhause nicht gefördert werden, ist das ein klarer Nachteil. Viele Studien zeigen, dass das formale Bildungssystem von Kindergarten und Schule diesen Nachteil nicht voll ausgleichen kann. Der Einfluss der Familie gerade in den jungen Jahren ist einfach noch deutlich größer. Nichtsdestotrotz: Wenn das Kind selbst gute Voraussetzungen und Fähigkeiten mitbringt, ist die Frage, inwieweit es rechtzeitig auch außerhalb der Familie gefördert wird.Frank Niklas, Professor für Pädagogische Psychologie und Familienforschung an der LMU.
Sie forschen zu frühen Bildungschancen und dem Einfluss der Eltern auf das spätere Leben: Was lässt sich überhaupt ausgleichen an unterschiedlichen Startbedingungen?
Das ist sehr individuell und lässt sich nicht per se sagen. Die Familie ist eine wichtige Sozialisationsinstanz. Daher forschen wir dazu. Wenn Kinder zuhause nicht gefördert werden, ist das ein klarer Nachteil. Viele Studien zeigen, dass das formale Bildungssystem von Kindergarten und Schule diesen Nachteil nicht voll ausgleichen kann. Der Einfluss der Familie gerade in den jungen Jahren ist einfach noch deutlich größer.
Nichtsdestotrotz: Wenn das Kind selbst gute Voraussetzungen und Fähigkeiten mitbringt, ist die Frage, inwieweit es rechtzeitig auch außerhalb der Familie gefördert wird. Wenn zum Beispiel auffällt, dass ein Kind noch nie ein Buch angesehen hat, und die Familie in der Folge unterstützt wird, kann damit viel kompensiert werden. Leider passiert das in der Realität viel zu selten, weil die Maßnahmen teuer sind und Kinder durch das Raster fallen und nicht identifiziert werden. Da liegt noch viel Arbeit vor uns, für die Politik, für Bildungseinrichtungen und für uns alle als Gesellschaft.
Frank Niklas ist Professor für Pädagogische Psychologie und Familienforschung an der LMU. Für sein Forschungsprojekt „Learning4Kids“ wurde er mit einem der renommierten Starting Grants des Europäischen Forschungsrats ausgezeichnet.
Momentan arbeitet er weiter an der Frage, wie Eltern stärker motiviert werden können, ihre Kinder bei der Nutzung von Lern-Apps enger zu begleiten. Zudem wertet sein Team zurzeit noch die Daten aus, wie nachhaltig der Einsatz von Lern-Apps bis in die Schulzeit hinein ist. Weitere Verbesserungsmöglichkeiten sieht Frank Niklas zum Beispiel beim adaptiven Lernen dank Künstlicher Intelligenz.
In weiteren Projekten forscht der Psychologe zu Medienkompetenz in Kindergärten und Hochbegabung bei Kindern.
Am Freitag, 24.01.2025, findet eine Abschlusskonferenz zur Learning4Kids-Studie in München statt. Die Teilnahme an dieser englischsprachigen Veranstaltung ist kostenlos. Informationen und Anmeldungen bei Tina Schiele unter T.Schiele@psy.lmu.de
Zur Effektivität der Lern-Apps:
Frank Niklas u.a.: Learning Apps at home prepare children for school. In: Child Development. Oktober 2024
https://srcd.onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/cdev.14184
Astrid Wirth u.a.: Evaluating educational apps for preschoolers: Differences and agreements between the assessments of experts, parents, and their children. In: Computers in Human Behavior. November 2024
https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0747563224002292?via%3Dihub
Tina Schiele u.a.: The effectiveness of game-based literacy app learning in preschool children from different background. In: Learning and Individual Differences. Januar 2024 https://doi.org/10.1016/j.lindif.2024.102579
Übersicht über die Studie und Studienprotokolle:
Frank Niklas u.a.: App-based learning for kindergarten children at home (Learning4Kids): Study protocol for cohort 1 and the kindergarten assessments. In: BMC Pediatrics, Dezember 2020 https://doi.org/10.1186/s12887-020-02432-y
Frank Niklas u.a.: App-based learning for kindergarten children at home (Learning4Kids): Study protocol for cohort 2 and the school assessments. In: BMC Pediatrics, Dezember 2022 https://doi.org/10.1186/s12887-022-03737-w